Der 26. Fall aus der Leo-Schwartz-Krimireihe
1.
Freising/Bayern am 9. März
Das Telefongespräch zwischen Mutter und Sohn eskalierte. Dass es so weit kommen würde, lag schon seit Tagen in der Luft.
„Die Oma hat zur Taufe ihres Enkels gefälligst zu erscheinen!“, schrie der zweiundvierzigjährige Bernd Nagel ins Telefon.
Martha Nagel hatte keine Kraft mehr. Sie hatte sich eine Ausrede einfallen lassen, die ihr Sohn aber nicht akzeptieren wollte. Die Knieschmerzen und die damit verbundenen Schmerzen beim Gehen nahm er ihr nicht ab. Trotzdem bot er an, ihr einen Rollstuhl besorgen zu wollen, was sie strikt ablehnte. Martha Nagel konnte an dieser Taufe nicht teilnehmen und das hatte einen ganz anderen Grund. Sie schämte sich in Grund und Boden, denn sie hatte kein Geschenk für ihren ersten Enkel. Schon das Weihnachtsgeschenk für den Kleinen war sehr dürftig ausgefallen, wofür sie immer noch im Boden versinken könnte. Sie hatte dem kleinen Patrick die alte Uhr ihres Mannes geschenkt, womit er nichts anfangen konnte. Was hätte sie ihm sonst schenken sollen? Sie war pleite, die Rechnungen und Mahnungen stapelten sich seit Monaten. Die erste Zwangsvollstreckung war gestern eingetroffen, am Montag würde man ihr alles wegpfänden, was noch irgendeinen Wert darstellte. Die Möbel würden vielleicht einiges bringen, aber das reichte niemals zur Begleichung aller Außenstände. Und zu allem Übel kam jetzt auch noch diese überraschende Einladung zur Taufe, die bereits in drei Wochen stattfinden sollte. Ihr Sohn wollte die Feier unbedingt hier in diesem Haus abhalten. Wie sollte die Feier denn aussehen, wenn der Großteil der Möbel fehlte und auf allen anderen ein Pfandsiegel klebte? Nein, das konnte sie nicht zulassen, in diesem Haus konnte nicht gefeiert werden. Selbst wenn die Taufe anderswo stattfand, konnte sie nicht daran teilnehmen, so sehr sie es auch wollte. Sollte sie als ehemals wohlhabende Frau ohne etwas in der Hand auftauchen? Nein, das traute sie sich nicht. Die vielen vorwurfsvollen Blicke würde sie nicht ertragen. Es ging nicht. Sie schaffte es nicht, zu dieser Familienfeier aufzutauchen, wo sie jeder kannte und wo man ihr viele Fragen stellen würde.
Bernd war außer sich und machte seiner Mutter die heftigsten Vorwürfe. Martha war kurz davor, ihrem Sohn alles zu beichten, aber dazu kam es nicht; er hatte nach seinem Redeschwall einfach aufgelegt.
Noch lange stand sie mit ihrem Handy in der Hand im dunklen Wohnzimmer. Der Strom wurde vor fünf Tagen abgeklemmt, die Heizung lief aber noch. Wie lange die noch funktionieren würde, stand in den Sternen. Der Telefonanbieter hatte die Leitung schon lange gekappt und sie war gezwungen, mit dem Handy zu telefonieren. Wie lange ihr das noch möglich war? Sie wusste es nicht. Irgendwann war sie komplett von der Außenwelt abgeschnitten. Seufzend trat sie ans Fenster und sah in den riesigen Garten. Wie viele herrliche Stunden sie dort verbracht hatte, konnte sie nicht zählen. Aber diese Tage waren längst vorbei. Es war nur eine Frage der Zeit, bis man ihr das Haus wegnahm. Das Knurren ihres Magens durchschnitt die Stille. Wann sie das letzte Mal etwas gegessen hatte, wusste sie nicht mehr. An das Gefühl des quälenden Hungers hatte sie sich gewöhnt und empfand es nicht mehr als schlimm. Sie hatte stark abgenommen und sie schämte sich ihres Spiegelbildes. Sie hätte längst Unterstützung beantragen sollen, aber auch dafür schämte sie sich. Wie sollte sie Nachbarn, Freunden und Familienangehörigen unter die Augen treten, wenn alle wussten, dass sie pleite war? Man würde sich überall das Maul darüber zerreißen, dass sie das Vermögen verschleudert hatte, was ja auch stimmte. Wie konnte es nur so weit kommen? Zeit ihres Lebens hatte sie immer Geld gehabt, darüber hatte sie sich nie Sorgen machen müssen. Sie stammte aus einer angesehenen, wohlhabenden Familie und heiratete den Sohn des Konkurrenzunternehmens, was beide Familien noch reicher machte. Sie bekamen ein Kind und lebten in einem großen Haus. Alles lief prima. Bis vor fünf Jahren ihr Mann plötzlich verstarb und sie zum ersten Mal in ihrem Leben alleine war. Bernd war schon lange selbständig und lebte sein eigenes Leben, sie wollte ihn nicht belästigen. Ihr Sohn hatte das Familienunternehmen übernommen und trug damit eine große Verantwortung, die er mit Bravour meisterte. Sie war stolz auf ihn und wollte sich ihm nicht aufdrängen. Sie war allein. Sie wusste nichts mit sich anzufangen und lebte in den Tag hinein. Sie bemerkte nicht, dass sie immer mehr vereinsamte und kaum mehr aus dem Haus ging. Sie war unglücklich und hatte keine Perspektive mehr. Damals hatte sie sich bereits aufgegeben und wartete nur darauf, bis sie endlich auch sterben durfte.
Dann trat plötzlich dieser Mann wie aus dem Nichts in ihr Leben, der sie aus ihrem Schneckenhaus herausholte: Herbert Braunbach. Er war charmant, höflich und schmeichelte ihr. Sie hatte wieder das Gefühl zu leben und genoss jede Sekunde an seiner Seite. Es tat ihr gut, sich geborgen und begehrenswert zu fühlen. Sie war wieder jung, beinahe wie ein verliebter Teenager. Bertl riss sie aus ihrer Trauer und zeigte ihr die Welt, in der er sich gut auszukennen schien. Sie bereisten die schönsten Orte, speisten in den teuersten Lokalen und leisteten sich sogar eine Kreuzfahrt in einer Luxuskabine, von der sie immer geträumt hatte. Sie erlebte Dinge, die sie bis dahin nur aus dem Fernsehen kannte. Sie merkte zu spät, dass dieser Mann sie nur ausnutzte und ihr jeden Cent aus der Tasche zog, denn letzten Endes war sie diejenige, die jede einzelne Rechnung bezahlte. Als das Bargeld zur Neige ging, verkaufte sie die Goldmünzen, die ihr Mann für schlechte Zeiten zurückgelegt hatte. Nachdem auch dieses Geld weg war, bot sich Bertl an, ihre Schmuckstücke zu verkaufen, was aber nie lange reichte. Bertl war sehr geschickt darin, ihr alles plausibel zu erklären. Warum hätte sie die Schmuckstücke auch nicht verkaufen sollen? Sie trug sie sowieso nicht, wodurch sie nur im Safe lagen. Dass die Stücke bei weitem nicht das einbrachten, was sie eigentlich wert waren, schockierte sie zwar, aber Bertl beseitigte ihre Bedenken rasch und brachte sie auf andere Gedanken. Die Zeit mit ihm verging wie im Flug, alles war wie im Traum. Dass sie ihm finanziell mit einer Zahlung von dreihunderttausend Euro unter die Arme gegriffen hatte, war für sie keine große Sache. Bertl hatte ihr eine rührselige Geschichte einer erkrankten Nichte erzählt, die nur mit einer Spezialbehandlung in den USA wieder gesund werden konnte. Es stand für sie außer Frage, ihm zu helfen und sie hatte ihm das Geld einfach so überreicht, schließlich waren die beiden ein Paar und sprachen sogar von Hochzeit. Hätte sie als potentielles Familienmitglied etwa nicht helfen sollen? Sie sah es als ihre Pflicht an und Bertl war ihr so unendlich dankbar gewesen. Immer wieder beteuerte er, ihr alles zurückzuzahlen, wenn erst die Gelder frei werden würden, die er angelegt hatte. Wie töricht, naiv und dumm sie doch mit ihren vierundsechzig Jahren gewesen war! Als das Geld, die Münzen und die Schmuckstücke weg waren, verschwand auch Bertl. Tagelang hatte sie versucht, ihn zu erreichen, denn die Rechnungen stapelten sich und die Gläubiger rannten ihr die Türe ein. Anfangs war sie noch guter Dinge und vertraute darauf, dass Bertl ihr irgendwie helfen würde. Irgendwann wachte sie auf. Die Telefonnummern, die sie von ihm hatte, existierten plötzlich nicht mehr. In dem Haus, das angeblich ihm gehörte und welches er in Wahrheit nur gemietet hatte, hatte sie ihn nicht mehr angetroffen. Niemand wusste, wo er war, er war wie vom Erdboden verschluckt. Bertls Vermieter war stinksauer, denn auch ihn ließ Bertl auf einem riesigen Schuldenberg einfach sitzen.
Als sie endlich begriff, dass Bertl sie gelinkt hatte, war alles zu spät. Sie hätte ihn anzeigen können, aber was hätte das gebracht? Er hätte alles abgestritten, schließlich hatte sie nichts Schriftliches in Händen. Und ob Herbert Braunbach überhaupt sein richtiger Name war, wusste sie auch nicht. Das war jetzt alles egal. Sie hatte realisiert, dass der Mann sie ausgenommen hatte. Jetzt war sie pleite und obendrauf auch noch sehr hoch verschuldet. Ein Umstand, den sie noch niemals vorher erlebt hatte und der unerträglich für sie war. Sie verkaufte die letzten verbliebenen Schmuckstücke, die nicht viel wert waren. Dann waren ihre Handtaschen, Kleidungsstücke und Schuhe dran, durch deren Verkäufe sie einige Monate irgendwie überleben konnte. Aber diese Quelle war seit Wochen versiegt. Sie verkaufte ihren alten Wagen, an dem sie sehr hing. Sie bekam ihn seinerzeit von ihrem Mann geschenkt, was damals eine Sensation gewesen war. Stolz hatten sie ihn überall gezeigt und dafür anerkennende und neidische Blicke geerntet. Jetzt war auch dieses Überbleibsel aus guten Tagen weg. Der Wagen brachte nicht viel. Trotzdem war sie froh um die paar hundert Euro, die ihr kurzfristig über die Runden halfen. Dann hatte sie nichts mehr, das sie verkaufen konnte. Sie hatte nur noch die Kette, die Bertl ihr geschenkt hatte und die war nichts wert. Die Frau hinterm Tresen beim Gold- und Silberankauf, die sie inzwischen gut kannte, gab ihr die Kette mit einem mitleidigen Blick wieder zurück. Gerade mal sieben Euro wollte sie ihr dafür geben, da lediglich die dünne Kette aus echtem Silber war, das Amulett war aus Edelstahl. Sogar hiermit hatte Bertl sie geblendet. In ihrer Verzweiflung hatte sie erneut versucht, eine weitere Hypothek aufs Haus aufzunehmen, aber das wurde ihr verwehrt. Der Bankangestellte Kronberger, der sie seit Jahren betreute, hatte sie einfach abgewimmelt. Dieses Gefühl war schrecklich gewesen. Jetzt war sie arm. Und zwar so sehr, dass sie es sich nicht mehr leisten konnte, ihrem Enkel ein Geschenk zu machen, von der Feier in ihrem Haus ganz zu schweigen. Ihr Sohn war wütend und enttäuscht, was sie verstehen konnte. Ob er ihr jemals verzeihen konnte, wenn er die ganze Wahrheit erfuhr? Würde sie das überhaupt ertragen können?
Sie weinte bittere Tränen, denn jetzt wusste sie, dass sie am Ende angekommen war. Es war Zeit zu handeln. Schon seit Wochen machte sie sich Gedanken darüber, wie sie ihrem armseligen Leben ein Ende setzen konnte, denn so wollte und konnte sie nicht weiterleben. Eine Überdosis Schlaftabletten wäre die einfachste Lösung, aber dafür fehlte ihr schlichtweg das Geld. In ihrem Geldbeutel waren nur noch wenige Cent. Sie fand eine andere Lösung. Eine, die kein Geld kostete.
Wie in Trance ging sie auf den Dachboden, knüpfte sich einen Strick und stellte sich den alten, klapprigen Stuhl so vors Dachfenster, dass sie den Himmel sehen konnte, der heute nach den vielen tristen Wochen an diesem sonnigen Tag besonders blau war. Mit diesem letzten Blick in die Unendlichkeit des Himmels wollte sie sterben. Sie weinte nicht mehr. Ihr Entschluss stand fest und sie freute sich sogar darauf, dass das Elend und die Scham endlich ein Ende hatten. Sie stieg auf den Stuhl, legte sich die Schlinge um den Hals und lächelte.
Nur ein Schritt und dann war alles vorbei. Sie zitterte, aber sie war entschlossen, ihr Vorhaben umzusetzen. Nur ein einziger, kleiner Schritt. Mit all ihrem Mut und mit dem Blick auf diesen wunderschönen Himmel trat sie nach vorn. Ihr letzter Gedanke galt ihrem Sohn Bernd.
2.
Bernd Nagel ahnte nicht, was sich gerade in seinem Elternhaus abspielte. Er war wütend aus dem Haus gegangen, er brauchte dringend frische Luft. Seine Freundin Eva rief ihm hinterher, aber er achtete nicht darauf. So wütend wollte er nicht mit ihr sprechen. Was war nur los mit seiner Mutter? Wie oft er sich in den letzten Monaten über sie geärgert hatte, konnte er nicht mehr zählen. Sie hatte sich von dem einen auf den anderen Tag völlig verändert, nachdem sie sich nach dem Tod des Vaters völlig zurückgezogen hatte. Ja, er hätte sich mehr um sie kümmern müssen, aber dafür hatte er keine Zeit gehabt. Die Firma nahm ihn völlig in Beschlag. Er arbeitete fast rund um die Uhr, schließlich war er nicht nur für sich selbst, sondern für viele Mitarbeiter verantwortlich. Außerdem trat kurz nach dem Tod seines Vaters seine jetzige Partnerin Eva in sein Leben – die Liebe seines Lebens und die Mutter seines Kindes. War es nicht verständlich, dass er die wenige freie Zeit mit ihr verbringen wollte? Für eine Hochzeit war bisher noch keine Zeit gewesen, die planten die beiden, zur Überraschung der Gäste, mit der Taufe zusammenzulegen. Wie kleine Kinder hatten sie sich die Gesichter aller vorgestellt, wenn sie begreifen würden, dass es neben der Taufe auch noch eine Trauung gäbe. Vor allem für Bernd wäre es sehr schön gewesen, die Feier im engsten Familien- und Freundeskreis in seinem Elternhaus abhalten zu können, da er sich dort nicht nur sehr wohl fühlte, sondern sich auch seinem verstorbenen Vater nahe gefühlt hätte. Aber dies erlaubte seine Mutter nicht und erfand irgendwelche Ausreden, die jeder Logik entbehrten. Was sollte die Abfuhr, die auch die Teilnahme an der Taufe betraf? Bernd verstand die Welt nicht mehr. Seine Mutter hatte sich sehr verändert. Seit Monaten hatte sie kaum noch Zeit für ihn, ständig war sie unterwegs. Früher hatten sie eine sehr enge Bindung gehabt, was schon lange nicht mehr der Fall war. Sie hatten sich entfremdet, woran auch er eine Mitschuld trug. Jede freie Sekunde hatte er lieber mit seiner Eva, als mit seiner Mutter verbracht. Damals schien ihm das verständlich, jetzt machte er sich Vorwürfe. Aber seine Mutter schien damit kein Problem gehabt zu haben. Die wenigen Male, wo sie sich sahen, machte sie keinen unglücklichen Eindruck, denn sie schien geradezu aufzublühen und glücklich zu sein. Bernd Nagel hatte schon lange das Gefühl, dass ein neuer Partner an der Seite seiner Mutter der Grund dafür sein könnte, was ihm auch von anderen Seiten zugetragen wurde. Aber er wollte das nicht hören. Für ihn war die Vorstellung, dass es einen neuen Mann in ihrem Leben gab, einfach nicht möglich.
Bernd warf wütend Steine in den Inn. Dass er dabei beobachtet wurde, war ihm gleichgültig. Es war ihm schon immer egal gewesen, was andere über ihn dachten. Ihm machte das für ihn rätselhafte Verhalten seiner Mutter zu schaffen. Warum hatte sie sich vorhin am Telefon eine solch fadenscheinige Ausrede ausgedacht, um nicht an der Taufe teilnehmen zu können? Lag es an Eva? Mochte seine Mutter sie nicht? Die beiden waren sich nur wenige Male begegnet und da schien alles in Ordnung zu sein. Gut, die letzten beiden Treffen waren sehr kurz gewesen, da seine Mutter keine Zeit hatte. Das eine Mal im Oktober letzten Jahres hatte er seine Mutter zum Essen eingeladen, das andere Mal war sie im November im Krankenhaus erschienen, um ihren Enkel zu sehen. Alles war prima gelaufen. Seine Mutter hatte sich so verhalten, wie er es von ihr gewohnt war. Sie war warmherzig und strahlte, als sie den Enkel im Arm hielt. Was war geschehen, dass sie sich so zurückzog und eine Entschuldigung vorschob, die er geradezu lächerlich fand. Wenn sie wirklich so schlecht zu Fuß war, war das Problem mit einem Rollstuhl doch ganz einfach zu beseitigen. Aber das wollte seine Mutter nicht. Warum? Gab es am Ende doch einen neuen Partner, der sie so sehr beeinflusste, dass sie sich von ihm und seiner kleinen Familie zurückzog? Hatte er nicht vor Wochen einen Film ansehen müssen, in dem genau das geschehen war?
Bernd beruhigte sich langsam wieder. Die frische Luft, die Bewegung und die Ruhe taten ihm gut. Seine Gedanken wurden klarer und er fasste einen Entschluss: Er musste nochmals mit seiner Mutter sprechen, und zwar von Angesicht zu Angesicht. Es war endlich an der Zeit, dass sie wieder offen und ehrlich miteinander sprachen, so wie sie es früher immer gemacht hatten. Er musste endlich wissen, wie es um seine Mutter tatsächlich stand. Außerdem wollte er sie zur Teilnahme überreden, denn ohne sie wollte er auf keinen Fall seinen Sohn taufen lassen, geschweige denn heiraten.
Bernd stand vor seinem Elternhaus. Wie lange war es her, dass er hier gewesen war? Das war sicher schon fast ein Jahr oder sogar länger. Sein schlechtes Gewissen meldete sich, denn als einziges Kind wäre es seine Pflicht gewesen, sich mehr um die Mutter zu kümmern. Dafür gab es keine Ausrede, er hätte für sie da sein müssen.
Der Wagen seiner Mutter stand nicht im Hof, was seltsam war. Ob sie mit ihrem schmerzenden Knie Auto fahren konnte? Vielleicht war die alte Karre, an der seine Mutter so hing, einfach nur in der Werkstatt. Er klingelte, aber nichts geschah. Wieder und wieder drückte er auf die Klingel. Seltsam. Diese machte eigentlich einen ohrenbetäubenden Lärm und erinnerte an das Läuten des Big Bens. Er zog seinen Schlüssel hervor und steckte ihn ins Schloss. Alles war ruhig. Der Lichtschalter in der Diele funktionierte nicht, was ihn noch nicht weiter beunruhige. Er rief nach seiner Mutter, bekam aber keine Antwort. An der Anrichte im Wohnzimmer war eine Schublade nicht ganz geschlossen. Instinktiv öffnete er sie und erschrak, als er den Berg Briefumschläge darin fand, von denen die meisten nicht einmal geöffnet waren. Besonders die Briefe eines Gerichtsvollziehers schockierten ihn. Seine Mutter war finanziell versorgt, darüber hatte er sich nie Gedanken machen müssen.
Er rief nochmals laut nach ihr, aber alles blieb ruhig. Es war offensichtlich, dass sie nicht hier war. Auch wenn ihn seine Mutter dafür rügen sollte, zog er den Brief des Gerichtsvollziehers aus dem Umschlag. Mit zitternden Händen las er wieder und wieder die Ankündigung der Pfändung am kommenden Montag. Was sollte das? Seine Mutter stand kurz vor der Pfändung? Nein, das konnte nicht stimmen! Rasch öffnete er jetzt alle Umschläge, die fast nur Rechnungen und Mahnung enthielten. Ein Schreiben der Bank ließ ihn die Knie weich werden: Die Hypothek war nicht bedient worden und man drohte mit der Zwangsversteigerung. Welche Hypothek? Das Haus war seit ewigen Zeiten abbezahlt und unbelastet, darauf hatte sein Vater immer sehr viel Wert gelegt. Was sollte das alles? Er nahm sein Handy rief sofort den Sachbearbeiter der Bank an, den er persönlich kannte.
„Ich darf Ihnen dazu nichts sagen. Ich bin an das Bankgeheimnis gebunden.“ Kronberger begann zu schwitzen, ihm war das Telefonat sehr unangenehm. Schon seit Monaten rechnete er damit, dass sich Frau Nagels Sohn bei ihm meldete und sich um die Angelegenheit kümmern würde. Allerdings ging er davon aus, dass die beiden gemeinsam hier erschienen und somit das Bankgeheimnis, an das er gebunden war, kein Thema gewesen wäre. Aber jetzt meldete sich der Sohn und sprach ihn auf die Angelegenheit an. Wie sollte er sich ihm gegenüber benehmen? Auf der einen Seite gab es ein Bankgeheimnis, an das er sich zu halten hatte. Auf der anderen Seite war es klar, dass Frau Nagel dringend finanzielle Hilfe brauchte, da sie von alleine niemals aus den Schulden herauskommen würde.
„Stimmt es, dass meine Mutter eine Hypothek aufs Haus aufgenommen hat? Ja oder Nein?“
Kronberger zögerte. Mit dem Hörer in der Hand stand er auf und schloss die Tür seines Büros. Niemand sollte das Gespräch mitbekommen.
„Wenn ja, dann werde ich die Schuld begleichen“, setzte Bernd nach.
„Das höre ich gerne. Ich hätte die vorschriftsmäßige Prozedur in diesem Fall nur sehr ungern in die Wege geleitet.“ Kronberger fiel ein Stein vom Herzen. Endlich kam Leben in die Angelegenheit, die ihm sehr viele Bauschmerzen bereitete. Die Nagels waren seit vielen Jahren treue Kunden der Bank. Was hier ablief, ging auch an ihm nicht spurlos vorbei.
„Dass mich das enttäuscht, brauche ich Ihnen nicht sagen. Wie lange sind wir bereits Kunden bei Ihrer Bank? Und trotzdem hätten Sie nach so vielen Jahren die Zwangsversteigerung des Hauses veranlasst? Meine Mutter verfügt über eine große Summe auf ihrem Festgeldkonto, das wissen Sie doch am besten. Warum hat sie darauf nicht zurückgegriffen?“
„Das Konto, von dem Sie sprechen, ist leer.“
„Wie bitte? Es ist leer?“
„Ja. Auch der Rahmen des Girokontos ist ausgeschöpft.“
„Es ist nichts mehr da?“
„Nein.“
Bernd wurde schlecht, er begann zu zittern.
„Seit wann ist das Geld weg? Und kommen Sie mir jetzt nicht wieder mit Ihrem Bankgeheimnis!“
Kronberger entschied, mit Bernd Nagel offen zu sprechen. Schließlich riskierte er, einen solventen, langjährigen Kunden zu verlieren, wenn er sich jetzt sperrte.
„Vor fünf Monaten wurde das letzte Geld vom Festgeldkonto abgehoben. Vor drei Monaten mussten wir das Girokonto mit einem Sperrvermerk versehen.“
„Wann wurde die Hypothek aufs Haus aufgenommen?“
„Vor fünf Monaten.“
Bernd musste sich sammeln. Das waren sehr viele Informationen auf einmal, die er sortieren musste.
„Sie sprachen von einem Sperrvermerk?“
„Gläubiger haben erwirkt, dass eingehende Zahlungen, und dazu gehört die Rente, einbehalten werden und zuerst diese Gläubiger bedient werden.“
„Soll das heißen, dass meine Mutter seit drei Monaten nicht mehr an ihr Konto darf? Ist es das, was Sie mir sagen wollen?“
„Ja, das ist richtig.“
Bernd war außer sich. Das würde bedeuten, dass seine Mutter seitdem keinen Cent mehr abheben konnte. Wovon lebte sie? Er war enttäuscht und wütend, was er an dem Bankangestellten ausließ.
„Sie sollten sich schämen! Einer treuen Kundin einfach den Hahn zuzudrehen! Haben Sie kein schlechtes Gewissen? Wovon sollte sie leben?“
„Ich kann Sie verstehen, Herr Nagel. Sie müssen mich aber auch verstehen. Ich muss mich an die Vorschriften halten. Sie dürfen mir glauben, dass ich Ihre Mutter mehrmals auf ihre finanzielle Situation angesprochen habe. Ich habe sie auch gewarnt, als sie die Hypothek aufgenommen hat. Inständig bat ich sie, sich mit Ihnen in Verbindung zu setzen und alles mit Ihnen durchzusprechen, da ich befürchtete, dass sie in ihr Unglück rennen würde. Aber Ihre Mutter wollte nicht hören. Sie hat mir sogar verboten, Ihnen auch nur ein Wort zu sagen. Insgeheim haben wir alle gehofft, dass Sie als Sohn trotzdem irgendwie Wind davon bekommen und einspringen.“ Jetzt war es raus, Kronberger war erleichtert. Jetzt würde alles wieder gut werden.
Bernd atmete tief durch. Ja, er war seiner Aufgab, seiner Mutter zu helfen, nicht nachgekommen.
„Von welcher Summe sprechen wir?“
„Das darf ich…“
„Wollen Sie, dass ich die Schulden übernehme oder nicht?“
„Es sind inklusive der Zinsen 362.148 €. Wenn dieser Betrag binnen der nächsten vier Tage auf dem Konto eingeht, ist alles wieder bereinigt und Ihre Mutter kann ihr Konto wieder uneingeschränkt nutzen.“
Bernd verschlug es fast die Sprache. Das war eine Menge Geld. Ob er das auf die Schnelle zusammenbrachte? Irgendwie würde er das schon schaffen, auch wenn sich das nicht einfach gestalten würde.
„Halten Sie den Vorgang zurück. Ich komme morgen bei Ihnen vorbei und dann besprechen wir die Details.“
Kronberger lehnte sich erleichtert zurück. Das unangenehme Gespräch, mit dem er seit Monaten rechnete, war besser verlaufen, als er es sich vorgestellt hatte. Dann machte er sich sofort an die Arbeit und bereitete alles für morgen vor. Dass er alle weiteren Schritte bezüglich der Schuldnerin stoppte, war selbstverständlich. Wenn der Sohn alle Schulden tilgte, war diese unleidige Sache endlich vom Tisch.
Bernd war fassungslos. Es stimmte also, es gab diese Schulden. Und darüber hinaus noch sehr viel mehr. Er sortierte die Rechnungen und Mahnungen, um sich einen Überblick zu verschaffen. Die Summe der aufgelaufenen Schulden betrug grob geschätzt nochmals rund zwanzigtausend Euro. Die Schulden seiner Mutter zu begleichen war die eine Sache, das würde sich irgendwie regeln. Er war nicht ganz mittellos und konnte sein Haus und die Firma beleihen. Was ihm viel mehr Sorgen machte, war etwas anderes. Wovon lebte seine Mutter eigentlich? Das Konto war gesperrt und es gab offensichtlich keine Rücklagen mehr. Bernd Nagel war vollkommen fertig und auch enttäuscht. Warum war seine Mutter nicht zu ihm gekommen und hatte ihn um Hilfe gebeten? Und wofür hatte sie so viel Geld gebraucht?
Er sah sich um. Hier stimmte doch etwas nicht. Er brauchte lange, bis er begriff, dass es im ganzen Haus keinen Strom gab. Die Hauptsicherung? Könnte sein, trotzdem trieb es ihn in die Küche. Der Kühlschrank war bis auf ein Marmeladenglas leer, in der Speisekammer sah es ähnlich aus. Wenn es seiner Mutter offensichtlich finanziell so schlecht ging, warum hatte sie dann nicht einfach die Goldmünzen oder ihren Schmuck verkauft? Bernd stockte. Konnte es sein…? Nein, das war nicht möglich! Er rannte ins Schlafzimmer seiner Mutter und öffnete den Wandsafe, dessen Zahlenkombination ihm bekannt war. Hierin bewahrte seine Mutter ihren Schmuck, Goldmünzen und private Papiere auf. Bis auf den Reisepass und zwei Versicherungspolicen, die das Haus betrafen, war der Safe leer.
Bernd musste sich setzen. Es war, wie er vermutet hatte: Es war nichts mehr da – seine Mutter war pleite.
Erst jetzt bemerkte er ihre Handtasche, die auf dem Stuhl lag. Handy, Schlüssel und Geldbörse, in der nur wenige Cent waren – alles war hier. Seine Mutter musste im Haus sein! Ihn beschlich ein ungutes Gefühl. Sie wird doch nicht…?
Panisch suchte er jeden Winkel des riesigen Hauses ab, bis der Dachboden dran war. Die Tür war nie abgesperrt. Stufe für Stufe ging er nach oben, wobei ihn eine quälende Vorahnung beschlich. Kalte Luft schlug ihm entgegen.
Dann sah er sie. Sie hing an einem Seil. Sofort rannte er zu ihr und hob sie an.
„Atme!“, rief er ihr zu. „Du sollst atmen!“
Aber sie rührte sich nicht. Mit aller Kraft hielt er sie hoch. Er schaffte es, sein Handy aus der Tasche zu ziehen und Hilfe zu rufen.
Die Rettungskräfte mussten die Tür aufbrechen und rannten zum Dachboden. Bernd hielt seine Mutter so lange, bis die anderen es schafften, sie vom Seil zu lösen. Sanft legte Bernd seine Mutter auf den Boden. Hilflos und völlig geschockt musste er mit ansehen, wie einer der Sanitäter ihren Puls fühlte, sich zu ihm umdrehte und nur den Kopf schüttelte. Endlich begriff Bernd, dass er zu spät gekommen war. Seine Mutter war tot.
Die nächsten Tage und Wochen vergingen wie im Flug. Die Schulden der Mutter waren restlos getilgt worden, was für ihn Ehrensache war. Kronberger kam ihm entgegen und alles war reibungslos über die Bühne gegangen. Dass sich Martha Nagel umgebracht hatte, ging in Freising wie ein Lauffeuer herum. Alle waren bestürzt und konnten sich den Freitod nicht erklären. Bernd und Eva hatten es geschafft, dass niemand den wahren Grund erfuhr.
Die Beerdigung der geliebten Mutter brachte Bernd irgendwie hinter sich. Er konnte sich nicht mehr genau daran erinnern, wie sie eigentlich abgelaufen war, denn zu sehr schmerzte ihn der Verlust. Auch die Taufe des Sohnes überstand er irgendwie. Seine Eva hatte nicht nur alles Organisatorische übernommen, sondern hatte sich stundenlang mit ihm unterhalten und versucht, ihn zu trösten. Wenn er sie nicht gehabt hätte! Er war sich mit seiner Eva darüber einig, dass die Hochzeit verschoben wurde, dafür war er nicht in Stimmung.
Tagelang hatte er in seinem Elternhaus nach einer Erklärung dafür gesucht, wie seine Mutter in diese Lage hatte kommen können. Nach und nach begriff er, dass es tatsächlich einen Mann gegeben hatte, den sie finanziell unterstützte. Wut stieg in ihm auf. Ein habgieriger Mann hatte sich an seine gutmütige Mutter rangemacht und alles an sich gerissen, was nicht niet- und nagelfest war. Ja, das war bitter und er war wütend auf sich, dass er das nicht mitbekommen hatte. Aber noch mehr schmerzte ihn, dass sich seine Mutter nicht an ihn gewandt und ihn um Hilfe gebeten hatte. Natürlich hätte er ihr Vorwürfe gemacht, aber trotzdem hätte er ihr geholfen. War es so, dass sie kein Vertrauen zu ihm gehabt hatte? Oder hatte sie sich so sehr geschämt, dass sie sich nicht getraute, zu ihm zu kommen? Aber warum? Sie hatten doch immer ein gutes Verhältnis gehabt und sie hätte immer zu ihm kommen können. Erst langsam begriff Bernd, dass es auch seine Schuld gewesen war. Er hätte sich mehr um seine einsame Mutter kümmern müssen, was er jetzt aber nicht mehr rückgängig machen konnte. Sie war tot und er musste irgendwie damit zurechtkommen.
Dann bekam er die Habseligkeiten seiner Mutter von der Polizei zugeschickt, da die Ermittlungen abgeschlossen wurden. Ein lapidarer Brief war beigefügt, in dem erklärt wurde, dass Fremdeinwirkung ausgeschlossen war und es keine weiteren Ermittlungen geben würde. Musste er es hinnehmen, dass dieser unbekannte Mann, der seine Mutter so schamlos ausgenutzt und in den Tod getrieben hatte, ungeschoren davonkam? Die Polizei machte ihm klar, dass es in diese Richtung keine Ermittlungen geben würde, da es keinen Beweis für seine Annahme gab. Bernd Nagel musste das akzeptieren und irgendwie verstand er die Polizei sogar. Es gab keinen einzigen Hinweis auf die Identität des Mannes. Lediglich dessen Namen hatte er: Herbert Braunbach, der als Teilnehmer in den Reiseunterlagen stand, die Bernd gefunden hatte. Es gab nur diesen Namen; keinen Wohnsitz, kein Foto, einfach nichts. Ob der Name überhaupt stimmte?
Bernd besah sich das wenige in dem Beutel, das seiner Mutter gehört hatte. Ein besticktes Taschentuch, ein Kassenzettel über einen Liter Milch und Bananen, alles im Wert von knapp zwei Euro, und eine silberfarbene Kette mit einem Amulett. Bernd kannte dieses Schmuckstück nicht. Ob dieser Typ es ihr geschenkt hatte? Er legte alles beiseite und weinte. Nicht nur aus Trauer, sondern auch aus Enttäuschung darüber, dass seine Mutter ihm nicht eine einzige Zeile, nicht ein einziges Wort hinterlassen hatte.
„Was ist das?“, fragte Eva, die den Sohn gerade zu Bett gebracht hatte.
„Die Polizei hat mir mitgeteilt, dass die Ermittlungen eingestellt wurden. Das hier gehörte meiner Mutter.“
„Ein Amulett“, sagte Eva und nahm es in die Hand. „Dann ist ja doch noch ein Stück des Familienschmuckes übriggeblieben. Wie alt mag das sein?“ Sie drehte die Kette im Licht. „Die sieht ziemlich neu aus. Das ist ein Teil des Familienschmucks?“
„Nein, das kenne ich nicht. Dieser Schmarotzer muss es meiner Mutter geschenkt haben.“
Eva holte ihre Brille und besah sich die Kette nun genauer.
„Die Kette ist echtes Silber, das Amulett ist Edelstahl. Online kriegst du beides für zwanzig oder dreißig Euro. Wenn das ein Geschenk war, dann war es sehr billig.“
Bernd sah sprachlos zu, wie seine Eva das Amulett öffnete. Er hatte keine Ahnung, dass das möglich war. Eva sah sich das Foto an, das darin zum Vorschein kam.
„Das muss er sein, Bernd. Das ist der Mann, den du suchen musst.“
„Du meinst…?“ Bernd starrte auf das Bild eines Mannes, dessen fröhliches Gesicht ihn anstrahlte.
„Du hast nach einem Hinweis auf diesen Mann gesucht, der offensichtlich darum bemüht war, alle Spuren zu beseitigen, die auf ihn hinweisen. Jetzt hast du ein Bild von ihm, sogar ein sehr gutes. Such ihn, sonst findest du keine Ruhe.“
„Soll ich das wirklich tun?
„Auf jeden Fall! Such diesen Mann und bring ihn vor Gericht. Das bist du nicht nur dir, sondern vor allem deiner Mutter schuldig.“
Bernd küsste seine Eva. Er wusste, warum er sie liebte. Sie war nicht nur warmherzig und klug, sondern auch sehr verständnisvoll. Ja, er musste diesen Mann zur Strecke bringen. Nicht nur um seinetwillen, sondern auch um seine Mutter zu rächen. Aber wie sollte er diesen Mann suchen? Er hatte nicht die geringste Ahnung, wie er das anstellen sollte. Er selbst hatte keine Chance, er brauchte professionelle Hilfe. Ein Geschäftspartner gab ihn den entscheidenden Tipp, wer ihm helfen könnte: Die Münchner Detektivin Anita Seidl.
Die achtundvierzigjährige Anita Seidl nahm den Job gerne an. Als sie hörte, um was es dabei ging, wurde sie wütend. Sie hasste solche Männer wie Braunbach und würde es sehr gerne sehen, wenn sie ihren Teil dazu beitragen konnte, ihm das Handwerk zu legen. Sie bat ihren neuen Klienten um umfangreiche Informationen, die Bernd Nagel gerne zusammenstellte. Als der Mandant ihr zwei randvoll gepackte Kartons überbringen ließ, hatte sie sich sofort daran gemacht und alles sortiert. Rasch hatte sie ein System entwickelt, das ihr einige Anhaltspunkte gab. Bis zu einem gewissen Zeitpunkt, der etwa dreizehn Monate zurücklag, war bei Martha Nagel aus finanzieller Hinsicht alles in bester Ordnung. Dann wurden mehrfach hintereinander größere Summen vom Konto abgehoben. Auch Reisen und Restaurantrechnungen wurden über das Konto bezahlt. Das waren Spuren, die nicht uninteressant waren. Aber wichtiger schienen für sie die wertvollen Schmuckstücke, die zum Glück alle für die Versicherung fotografiert wurden.
Sie hatte verschiedene Stellen kontaktiert – und jetzt hieß es abwarten.
3.
Wenige Tage später…
Anita Seidl hatte ein herrliches, verlängertes Wochenende mit Kriminalhauptkommissar Hans Hiebler in Mühldorf am Inn verbracht. Der Frühling schien noch lange auf sich zu warten. Es war nicht nur erneut eiskalt geworden, sondern auch heute, am kalendarischen Frühlingsanfang, hatte es wieder heftig geschneit. Deshalb zogen Hans und sie es vor, die Tage bei ihm zuhause zu verbringen. Wenn sie an den prasselnden Kamin dachte, wurde ihr jetzt noch ganz warm. Sie hatte Hans in Mühldorf am Inn kennengelernt, als sie bei einem kniffligen Fall gezwungen war, mit der Polizei zusammenzuarbeiten. Sie war es zwar gewohnt, stets allein zu arbeiten, aber bei diesem Job ging es nicht anders. Hans und sie waren seitdem unzertrennlich, aber noch behielten die beiden das für sich, worauf besonders sie großen Wert legte. Hans war ein phantastischer Mann, der ganz nach ihrem Geschmack war. Trotzdem war sie ein gebranntes Kind, weshalb sie vorsichtig mit Männerbeziehungen umging. Hans und sie sahen sich in den letzten Wochen sehr oft. Nachdem sie es vorzog, lieber zu ihm zu fahren, fand sie es an der Zeit, ihn zu sich einzuladen.
Der sechsundfünfzigjährige Hans Hiebler war sehr glücklich, als Anita ihm anscheinend beiläufig vorschlug, das nächste Wochenende bei ihr in München zu verbringen. Das war ein Vertrauensbeweis, den er sehr schätzte, denn Anita hatte durchblicken lassen, dass ihre Wohnung ihr Heiligtum war. Normalerweise hielt es Hans nie lange bei einer Frau, aber diesmal war es anders. Anita war nicht nur eine sehr hübsche und intelligente Frau, sondern auch humorvoll, belesen und nicht auf den Mund gefallen. Es gab kaum eine Minute, in der es langweilig war. Außerdem stand Anita auf eigenen Beinen, auch wenn er sich wegen ihres Jobs sehr um sie sorgte. Hans wusste sehr gut, wie schlecht Menschen sein konnten und seine Freundin war denen nicht nur ausgeliefert, sondern stellte sich ihnen entgegen. Aber das würde er ihr niemals sagen, dafür hätte sie kein Verständnis.
Das Wochenende war wieder viel zu schnell vorbei. Hans gewöhnte sich an Anita und genoss jede Sekunde mit ihr, was ihm langsam Angst machte. Ob er nach dem schrecklichen Mord an seiner Doris, der nunmehr drei Jahre zurücklag, endlich wieder jemanden gefunden hätte, mit dem er sich eine gemeinsame Zukunft vorstellen konnte? Noch glaubte er nicht daran, obwohl ihm die Vorstellung durchaus gefiel.
Anita hatte sich nach der Fahrt nach München sofort auf den Weg ins Autohaus Stürz gemacht. Das war seit Jahren „ihr“ Autohaus und dort wartete der neue Wagen auf sie. Sie hatte lange mit sich gehadert, ob sie sich solch eine Luxuskarosse leisten sollte. Aber warum nicht? Glänzend stand der Wagen im Ausstellungsraum und wartete auf sie. Was Hans wohl dazu sagen würde, wenn er ihn am kommenden Wochenende zu sehen bekam?
Am liebsten würde sie eine ausgedehnte Spritztour machen, aber die musste warten, denn es gab sehr viel zu tun. Sie fuhr die wenigen Kilometer zurück ins Büro und setzte sich an den Schreibtisch. Die Informationen, die sie am Freitag angeleiert hatte, lagen jetzt vor und sie konnte sich endlich daran machen, den Unbekannten zu suchen, den ihr Klient Bernd Nagel in die Finger kriegen wollte. Sie konnte den Mann verstehen, schließlich war dessen Mutter nicht nur einem Hochstapler aufgesessen, sondern sie hatte sich aus Scham darüber das Leben genommen. Wie sie wohl an Stelle des Klienten reagieren würde? Sie würde ebenfalls nach dem Mann suchen und ihn ganz langsam leiden lassen. In ihrer Phantasie stellte sie sich vor, wie sie ihn für jeden einzelnen Cent quälen würde.
Anita Seidl sortierte die Unterlagen. Dann druckte sie die Informationen und Bilder aus, die ihr per Mail zugesandt wurden. Stolz pinnte sie eine Information nach der anderen an die Wand, die voller und voller wurde. Es war ihr gelungen, mehrere Fotos von dem Mann zu bekommen. Einige Überwachungskameras hatten ihn aufgenommen, die Bilder waren allerdings unscharf und allein mit diesen konnte man den Mann nicht identifizieren.
Zu den vier Restaurants, in denen Frau Nagel mit Kreditkarte bezahlte, brach sie sofort auf. Da sie keine Zeit vergeuden wollte, hatte sie ihren Besuch angekündigt.
Man erinnerte sich an das Paar, da Frau Nagel viel von gutem Wein verstand, was nicht sehr oft der Fall war. Sie verlangte immer den passenden Wein und traf damit genau ins Schwarze. Außerdem war sie sehr freundlich und gab ein großzügiges Trinkgeld – alles Kriterien, an die man sich gerne erinnerte. Vom Personal der hochkarätigen Restaurants in München, Erding und Rosenheim ließ sie sich die Begleitung von Frau Nagel beschreiben.
„Ich habe etwas Besseres“, sagte Jean, der Kellner des Erdinger Restaurants „Petit Rouge“. Er ging nach hinten und kam mit einem USB-Stick wieder zurück. „Frau Nagel und ihre Begleitung waren am neunten November letzten Jahres unsere Gäste. Ich erinnere mich daran, da ich an diesem Tag Geburtstag hatte und Frau Nagel so lieb war, mir einen ganz besonderen Whiskey auszugeben. Erst lehnte ich ab, aber sie hatte darauf bestanden. Ein ganz vorzüglicher Tropfen, den ich mir selbst nicht leisten kann.“
„Und was genau finde ich auf dem Stick?“
„Nach Feierabend habe ich meine Kollegen eingeladen und wir haben gefeiert, selbstverständlich im Einvernehmen mit dem Chef. Sie können sich nicht vorstellen, wie viel Spaß wir alle hatten. Als nachträgliches Geburtstagsgeschenk bekam ich Fotos meines Ehrentages, die Sylvie gemacht hatte. Darauf sind auch Aufnahmen, wie ich diesen besagten Whiskey von Frau Nagel bekommen habe.“
„Sie meinen…?“
„Darauf ist ganz sicher deren Begleitung zu sehen.“
Anita machte sich sofort an die Arbeit. Sie öffnete ihren Laptop und kopierte alle Fotos.
„Ich werde damit sorgsam umgehen, machen Sie sich keine Sorgen. Mir geht es nicht um private Aufnahmen, sondern nur um diesen besagten Mann. Vielen Dank, Jean, Sie haben mir sehr geholfen.“ Anita steckte ihm einen Schein zu, den er gerne annahm.
Sie fuhr umgehend in ihr Büro, um die Fotos zu sichten. Darauf war tatsächlich der Mann, nach dem sie suchte, deutlich zu sehen. Diese Bilder waren sehr viel besser als die aus dem Medaillon und den Überwachungskameras. Jetzt wusste sie, mit wem sie es zu tun hatte. Aber noch hatte sie keine Ahnung, wie der Mann hieß und wo sie ihn finden konnte. Der Name Herbert Braunbach führte sie ins Leere. Wie viele Telefonate sie mit Braunbachs geführt hatte, konnte sie nicht mehr zählen. Sie war sicher, dass der richtige nicht dabei war. Dass dieser Name überhaupt echt war, bezweifelte sie.
Sie musste einen neuen Weg einschlagen und wandte sich den Schmuckstücken zu, die laut den Expertisen sehr teure Einzelanfertigungen waren. Die verhökerte man nicht einfach mal so auf dem Schwarzmarkt, damit musste man sich an exklusive Juweliere halten, die damit solvente Kunden erfreuen konnten.
Viele Hinweise trafen ein, nachdem die Juweliere verstanden, dass diese Käufe offenbar nicht ganz sauber waren. Niemand wollte mit dubiosen Geschäften zu tun haben. Der wichtigste Hinweis kam von einem Juwelier am Starnberger See, wo dem Inhaber ein sehr auffälliges Schmuckstück angeboten wurde, das längst verkauft war. Anita beruhigte den Juwelier Pauchritsch, der außer sich war.
„Der Kauf war absolut legal, machen Sie sich darüber keine Sorgen. Ich bin auf der Suche nach demjenigen, der Ihnen den Schmuck verkauft hatte. Er hat die eigentliche Besitzerin über den Wert getäuscht. Ich nehme an, dass Sie nicht nur eintausendzweihundert Euro für die opulente Kette bezahlt haben?“ Anita pokerte hoch, denn sie hatte keine Ahnung, wie viel das Schmuckstück tatsächlich eingebracht hatte. Aber wie sonst sollte sie den Juwelier aus der Reserve locken, der sonst niemals die echten Beträge offenlegte?
„Nein, wie kommen Sie nur darauf? Schon allein der Goldwert liegt bei dreitausend Euro. Dazu die lupenreinen Steine, die überaus wertvoll sind. Ich habe Herrn Braunbach einen angemessenen Ankaufspreis in Höhe von zwölftausendachthundert Euro ausbezahlt.“ Dass Pauchritsch dieses schöne und einmalige Stück für fast das doppelte verkauft hatte, musste er nicht preisgeben. Der Ankaufswert war in Ordnung und er musste sich deshalb keine Vorwürfe machen.
„Die Identität des Mannes ist falsch“, sagte Anita.
„Das kann nicht sein, ich habe mir den Personalausweis zeigen lassen, von dem ich selbstverständlich eine Fotokopie gemacht habe.“
„Könnte ich die haben?“
„Gerne. Wenn Sie mögen, kann ich Ihnen auch die Bilder der Überwachungskamera zukommen lassen.“
Anita war begeistert und versprach, die ganze Angelegenheit, die Pauchritsch sehr unangenehm war, diskret zu behandeln. Auch bat er darum, wenn möglich seinen Namen aus der ganzen Sache herauszuhalten, was sie ihm gerne versprach.
Nur wenige Minuten später kamen die gewünschten Unterlagen per Mail. Sofort machte sich Anita an die Arbeit. Sie war gespannt, ob sie hiermit auf einer heißen Spur war. Die Bilder waren sehr gut und sie begann, jede einzelne Sequenz zu vergrößern. Auf einem Spiegelbild in einer Vitrine entdeckte sie einen Wagen mit einem Münchner Kennzeichen. Sie rief Pauchritsch erneut an.
„Sie schon wieder!“ Der Juwelier war genervt von der penetranten Person, die es geschafft hatte, ihn zu verunsichern. Erst, nachdem er die Informationen per Mail an die Frau abgesandt hatte, wurde ihm bewusst, was er getan hatte. War die Frau überhaupt berechtigt, diese zu bekommen? Wer war sie überhaupt? Sie hatte ihn überrumpelt und verunsichert, was ihm leider sehr oft passierte. Wenn er doch nur dieses verdammte Schmuckstück nie angenommen hätte!
„Zuerst möchte ich mich nochmals ausdrücklich für die Bilder bedanken, die Sie mir zukommen haben lassen. Ich habe auf einer Aufnahme einen Wagen mit Münchner Kennzeichen entdeckt. Könnte es sein, dass es sich dabei um Ihren Wagen handelt? Oder gehörte der gar dem Mann, nach dem ich suche?“
„Das ist nun wirklich zu viel verlangt, Frau Seidl! Woher soll ich wissen, wem der Wagen gehört? Mir jedenfalls nicht!“
„Wo parken Ihre Kunden normalerweise?“
„Es gibt keinen ausgewiesenen Firmenparkplatz, leider. Meine Kunden parken in der Nähe oder kommen mit dem Taxi.“ Pauchritsch wollte die Frau abwimmeln, auch wenn er wusste, dass das der Wagen des Verkäufers sein musste. Aber wenn nicht, würde er die Frau auf eine falsche Spur führen und einen Unbeteiligten mit reinziehen, das wollte er nicht.
Anita hatte genug gehört. Sie machte sich daran, den Halter des Fahrzeugs ausfindig zu machen. Hierfür hatte sie einen Kontakt mit Namen Katja aufgetan. Von ihr kannte sie nur den Vornamen, mehr nicht. Der Kontakt bestand aus einer Mailadresse, die Bezahlung ging auf ein Schweizer Nummernkonto. Wer sich hinter der Frau verbarg, wenn es denn eine war, dann war die Tarnung perfekt. Katja hatte ihr bisher schon gute Dienste geleistet, die sie sich auch fürstlich bezahlen ließ. Anita zahlte ihr gerne die geforderten Beträge, denn erstens kam sie selbst nur sehr schwer an manche Informationen, und zweitens ersparte sie sich dadurch sehr viel Zeit.
Nach einer kurzen Email-Nachricht bekam sie sofort eine Antwort.
„Ich kümmere mich darum, Katja“
Jetzt hieß es warten. Anita drückte auf die Taste ihres neuen Kaffee-Vollautomaten, der für sie allein völlig überzogen war. Dampfender Espresso lief in eine pinkfarbene Tasse, auf der ein lustiges Kamel abgebildet war. Das war nicht ihr Geschmack, aber die Tassen waren eine kostenlose Beigabe zur Maschine und sie gedachte, diese auch zu benutzen.
Während sie trank sah sie sich die Bilder wieder und wieder an. Sie notierte jede Einzelheit, die sie an dem Gesuchten bemerkte. Hierzu war auch das Foto von Jean hilfreich. Der Unbekannte war etwa fünfundsechzig. Sie schätzte ihn auf einen Meter achtzig. Die Figur war sportlich und die Erscheinung elegant lässig. Die Kleidung war sicher nicht billig, auch wenn das täuschen konnte. Auf Bildern war nicht zu erkennen, ob es sich um echte Markenkleidung oder um Fake-Ware handelte, was auch auf die Uhr zutraf, die protzig wirkte. Ihr fiel auf, dass die Haarfarbe auf den Fotos variierte. Das könnte daran liegen, dass zwischen beiden Aufnahmen mehrere Monate lagen. Allerdings könnte es auch sein, dass der Mann in der Farbe nachgeholfen hatte. Männer waren seit Jahren davon überzeugt, dass es sexy aussah, wenn die Schläfen grau waren – und halfen dementsprechend nach. Anita empfand das als absolut dämlich, aber das war ihre persönliche Meinung.
Sie ließ einen weiteren Espresso laufen und besah sich die Fotos erneut. Sie vergrößerte das Gesicht des Mannes. Die Augenfarbe konnte man nicht erkennen, auch wenn sie sich noch so sehr bemühte. War das ein Muttermal auf seiner Hand oder war das nur ein Fleck? Anita verglich die Fotos miteinander und konzentrierte sich nur auf die linke Hand. Zwischen Daumen und Zeigefinger müsste das Muttermal sein. Dann sah sie es. Hier auf diesem Bild war das Mal zu sehen; zwar unscharf, aber das reichte ihr. Sofort notierte sie diese Kleinigkeit.
Dann meldete sich Katja.
„Der Wagen gehört einer Autovermietung Harbeck in München.“
„Kenne ich. Danke, Katja.“
„Immer wieder gerne. Noch etwas?“
„Im Moment nicht.“
Anita fand die Rechnung im Anhang und überwies die dreihundert Euro sofort. Katja arbeitete prompt und verlangte das auch von der Bezahlung.
Die Autovermietung Harbeck war zwanzig Minuten von Anitas Büro entfernt. Hier musste sie versuchen, an Informationen bezüglich des Mieters zu kommen, was nicht leicht werden würde. Sie musste geschickt vorgehen und hatte auch schon eine Idee, wie das funktionieren könnte. Sie steckte sich einen Kaugummi in den Mund und nahm ihn nach zehn Minuten wieder raus. Noch im Wagen drückte sie ihn auf das Armaturenbrett ihres neuen Wagens, was ihr eigentlich zuwider war. Kaum zehn Kilometer auf dem Tacho und schon wurde das Armaturenbrett missbraucht. Aber wo sollte sie den Kaugummi sonst hintun? Sie steckte den nur angetrockneten Kaugummi vorsichtig in ihre Jackentasche, als sie das gesuchte Fahrzeug auf dem Hof der Firma stehen sah. Sie hatte Glück, der Wagen war tatsächlich da!
Bevor sie ausstieg, wischte sie mit dem Ärmel ihrer Jacke über die Stelle am Armaturenbrett, wo gerade noch der Kaugummi war. Perfekt, man sah nichts mehr.
Das Büro der Autovermietung Harbeck war muffig und unordentlich. Es roch nach Zigarettenqualm, was Anita nicht mochte. Der behäbige Mann hinter dem zugemüllten Tisch strahlte sie an, als sie eintrat. Der Mann dürfte kein größeres Problem darstellen. Anita war sich sicher, dass sie ihre Informationen bekam. Sie setzte sich, schlug die langen Beine übereinander und verlangte, den gesuchten Wagen zu mieten.
„Sie wollen den Benz? Der passt doch nicht zu einer solch hübschen Dame. Nehmen Sie den gelben Sportwagen, der danebensteht. DAS ist das richtige Fahrzeug für Sie, glauben Sie mir.“
„Danke, aber ich möchte den Benz. Vorausgesetzt, es wurde darin nicht geraucht.“
„Selbstverständlich nicht! In unseren Fahrzeugen herrscht absolutes Rauchverbot. Und nach der Rückgabe erfolgt eine gründliche Reinigung.“
„Wenn ich mir den Wagen ansehen dürfte?“
„Gerne.“ Der Mann, der sich ihr als Karlstedt vorstellte, nahm den Schlüssel aus der Schublade, stand auf und zog die Hose nach oben, da sie ihm fast über den Hintern gerutscht war. Auf dem Schoß leuchtete ein fetter Kaffeefleck. Er grinste verlegen und ging voraus. Karlstedt gab sich galant und öffnete ihr die Wagentür. Anita setzte sich hinters Steuer, wobei sie den Kaugummi aus der Tasche zog und auf dem Fahrersitz platzierte. Sie bewegte sich vor und zurück, auch nach links und rechts. Das dürfte reichen, der Kaugummi würde seine Dienste leisten.
„Der Wagen ist perfekt, den brauche ich für zwei Wochen, eventuell auch länger. Ist das ein Problem?“
„Natürlich nicht.“
Anita stieg aus und schrie auf, als sie theatralisch bemerkte, dass ein Kaugummi an ihrem teuren Rock klebte. Es war offensichtlich, dass der auf dem Fahrersitz gelegen haben musste, denn dort waren deutliche Spuren zu sehen. Karlstedt war sprachlos. Ihm war die Situation dermaßen unangenehm, dass er zunächst keinen Ton herausbrachte.
„In der Haut desjenigen, der den Wagen gereinigt hat, möchte ich nicht stecken“, sagte Anita und sah dabei Karlstedt vorwurfsvoll an. „Sehen Sie sich meinen Rock an!“
„Das verstehe ich nicht. Um die Fahrzeugreinigung kümmert sich meine Frau, auf die kann ich mich immer zu einhundert Prozent verlassen. Außerdem kaut bei uns niemand Kaugummi, ich schwöre. Meine Frau mag das nicht und verbietet es jedem, der es wagt, einen Kaugummi zu kauen. Wie kommt dieses eklige Ding auf den Fahrersitz?“ Karlstedt verstand die Welt nicht mehr. „Ich kapier das nicht, ich kann mir das einfach nicht erklären.“
„Welches Ferkel hat den Wagen zuletzt gefahren?“, maulte Anita Seidl, die sich ein Lachen kaum verkneifen konnte. Der Schaden hielt sich in Grenzen, denn sie wusste, wie sie den Kaugummi wieder beseitigen konnte.
„Es kann eigentlich nicht sein, dass der Wagen ohne mein Wissen ausgeliehen wurde. Und wenn, dann muss das in den Unterlagen stehen.“ Karlstedt ging voraus und Anita folgte ihm. Jetzt würde sie Einblick in die Unterlagen bekommen und damit vermutlich auch irgendeinen Hinweis auf den Unbekannten.
Karlstedt blätterte in der Mappe und tippte dann auf der Tastatur seines Computers.
„Das verstehe ich nicht. Braunbach hat den Wagen am sechsundzwanzigsten Februar zurückgegeben. Seitdem wurde der Wagen nicht mehr bewegt. Wenn Braunbach tatsächlich derjenige gewesen war, der dafür verantwortlich ist, müsste der Kaugummi doch längst steinhart sein. Aber wer käme dafür sonst in Frage?“ Karlstedt rief seine Frau an, die die eigentliche Inhaberin der Autovermietung war, nachdem sie diese von ihrem Vater übernommen hatte. Sie bestätigte, dass sie selbst die Wagenreinigung abgenommen hatte und sich nicht erklären konnte, wie der Kaugummi auf den Fahrersitz gelangen konnte. Während des Telefonats hatte Anita keine Chance, einen Blick auf den Bildschirm oder in die Unterlagen zu werfen. Verdammt!
„Vielleicht doch der letzte Mieter?“, drängelte Anita, wobei sie ein angewidertes Gesicht zog und umständlich auf ihrem Stuhl saß.
Karlstedt wusste sich nicht anders zu helfen und kam der Bitte der hübschen Frau nach. Er rief die Daten des Mieters auf und wählte die Handynummer. Darauf hatte Anita gewartet. Sie stand auf und tat so, als würde sie an ihrem Rock herumzuppeln – aber in Wahrheit prägte sie sich die Handynummer ein, die sie deutlich auf dem großen Bildschirm lesen konnte. Karlstedt unterhielt sich mit Braunbach, also stimmte die Nummer. Sie nahm ihr Handy und speicherte die Nummer ein. Sie hatte, was sie wollte. Noch während des Telefongesprächs zwischen den Männern ging sie einfach. Sie stieg in ihren Wagen und fuhr davon.
„Hallo Katja. Ich schicke dir eine Handynummer. Kannst du herausfinden, wo das Handy gerade eingeloggt ist?“
„Kann ich versuchen, wird aber nicht billig. Ich melde mich wieder.“
Anita hatte nur den Rock ausgezogen und sofort die Nachricht geschrieben, als sie wieder in ihrem Büro war. Nachdem sie die Kaugummireste mühelos entfernt hatte, zog sie sich einen anderen Rock an und genoss dann einen weiteren, starken Espresso. Das war der letzte für heute, das nahm sie sich fest vor.
„Die Nummer ist in Burghausen eingeloggt. In der Kaiserstraße zwölf. Noch etwas?“
„Nein, danke. Gute Arbeit, Katja.“
„Immer gerne.“
Die Rechnung war angefügt. Darüber, dass es diesmal sechshundert Euro waren, wunderte sich Anita nicht. Im Internet gab sie Burghausen und die von Katja genannte, dortige Adresse ein. Hier war der Unbekannte? Sie war überrascht, denn Burghausen war nicht weit von Mühldorf entfernt, und dort lebte ihr Hans. Vielleicht fand sie die Zeit, auf einen Sprung bei ihm vorbeizuschauen? Bei der Gelegenheit könnte sie ihren neuen Wagen präsentieren, was ihm mit seinem mickrigen Beamtengehalt sicher die Sprache verschlagen würde. Hans war nicht neidisch, er gönnte jedem alles. Sie war da völlig anders. Aber jetzt ging es nicht um Hans und um ihr Privatleben, sondern um die Arbeit, die bei ihr immer an erster Stelle stand.
Sie nahm ihre Tasche, die für Notfälle immer gepackt war. Darin befanden sich Kleidung und Waschutensilien, die einige Tage ausreichen dürften. Ob sie die Tasche brauchen würde, wusste sie jetzt noch nicht. Sie nahm Laptop, Tablet und die Handtasche. Dann konnte es losgehen. Sie war neugierig darauf, was sie in Burghausen erwarten würde. Sie könnte ihrem Auftraggeber mitteilen, dass sie den Mann gefunden hatte, der seine Mutter so schändlich ausgenommen hatte. Aber noch brauchte sie einen Beweis dafür.
Die Fahrt war trotz der klirrenden Kälte für Anita sehr angenehm, denn die Heizung ihres neuen Wagens war hervorragend. Das war eines der Entscheidungskriterien für dieses Modell gewesen, wobei die anderen kleinen Spielereien, die dieser Wagen hatte, auch nicht ohne waren. Die gute Musik aus den achtziger Jahren sang sie lauthals mit. Ihre Laune war bestens, als sie vor dem Haus in der Burghauser Kaiserstraße 12 ankam. Es dämmerte bereits. Sie war überrascht, als sie das hübsche Haus betrachtete, dessen Grundstücksmauer allein schon sicher ein Vermögen gekostet hatte. Solch ein Haus wollte sie später auch mal. Ob sie aussteigen sollte? Nein, sie wollte den Gesuchten nicht aufschrecken. Noch war es mollig warm und sie entschied, im Wagen zu warten. Vielleicht ergab sich die Möglichkeit, den Mann von hier aus zu fotografieren. Hierfür lag ihr Fotoapparat griffbereit auf dem Beifahrersitz. Lang rührte sich nichts und ihr wurde langweilig. Sie griff ins Handschuhfach und zog die Betriebsanleitung ihres Wagens hervor. Sie begann zu lesen, wobei sie immer das fragliche Haus im Blick hatte. Erstaunt stellte sie beim Lesen fest, dass ihr neuer Wagen sogar eine Standheizung hatte, die sie sofort einschaltete. Schnell stieg die Temperatur an, was sehr angenehm war. Es war inzwischen dunkel geworden und sie las mit einer kleinen Taschenlampe weiter, die man hoffentlich von draußen nicht sofort sah. Und wenn schon! Schließlich konnte sie hier stehen und lesen wie sie wollte – wer sollte etwas dagegen haben?
Im Augenwinkel bemerkte sie eine Bewegung am Fenster des Hauses. Da stand ein Mann am Fenster! Sofort nahm sie ihr Fernglas und zoomte die Person näher heran. War das der Gesuchte? Noch war sie sich nicht sicher. Dann drehte sich der Mann und sah genau in ihre Richtung. Ja, das war er, ein Irrtum war ausgeschlossen. Endlich war sie sicher, dass sie auf der richtigen Spur war. Sie nahm ihren Fotoapparat und machte einige Bilder des Mannes. Es schien, als würde er in ihre Richtung blicken, aber das war ihr egal. Sie hatte, was sie wollte und rief ihren Auftraggeber an.
„Sie haben ihn gefunden? So schnell?“
„Ja“, antwortete Anita nicht ohne Stolz.
„Wo sind Sie?“
Sie nannte ihm die Adresse in Burghausen.
„Ich bin unterwegs, warten Sie auf mich.“
„Warum wollen Sie herkommen? Sollte ich nicht die Polizei rufen?“
„Die Polizei können Sie vergessen, die machen ja eh nichts. Nein, ich werde mir den Typen persönlich vornehmen.“
Anita gefiel das überhaupt nicht. Sie war der Meinung, genug Beweise gegen den Mann zu haben, um ihn anzeigen zu können. Stattdessen sah es so aus, als würde der Auftraggeber Selbstjustiz verüben wollen. Das konnte sie nicht zulassen. Sie versuchte mehrfach, Bernd Nagel zu erreichen, um ihn von seinem Vorhaben abzubringen. Aber der antwortete nicht. Anita war sauer. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als hier auf Nagel zu warten und dann zu versuchen, ihn zur Vernunft zu bringen, was eigentlich nicht ihre Aufgabe war. Sie konnte verstehen, dass er wütend war, aber sie konnte es nicht zulassen, dass er auf den Gesuchten losging.
Es blieb ihr nichts anderes übrig, als hierzubleiben und zu warten. Eigentlich hatte sie keine Lust mehr, in dem dicken Wälzer zu lesen, denn die Kapitel wurden gähnend langweilig. Dann fand sie einen Punkt bezüglich Sicherheit, falls sie eine Panne hätte. Sie war so vertieft und fasziniert, dass sie nicht bemerkte, wie sich ein Mann ihrem Wagen näherte.
Dann öffnete sich die Beifahrertür.
4.
Die Kriminalbeamten Leo Schwartz und Hans Hiebler hatten vor fünf Stunden ihre Position eingenommen. Das LKA observierte das Haus einer Verdächtigen seit Tagen, wozu auch Leo, Hans und die Kollegen der Mordkommission Mühldorf am Inn eingeteilt worden waren. Diese Aufgabe fiel eigentlich nicht in ihr Resort, aber die seit Wochen grassierende Grippewelle machte auch nicht vorm LKA halt. Der Mühldorfer Polizeichef Rudolf Krohmer hatte zähneknirschend zugesagt, die Observierung des Privathauses und der Firma der Verdächtigen Josefa Angermaier zu übernehmen. Und das auch nur, weil das LKA nicht damit rechnete, dass dort irgendeine Aktion ablaufen würde.
Der dreiundfünfzigjährige Leo Schwartz hatte schlechte Laune, denn diese Art von Arbeit mochte er nicht. Er musste im eiskalten Wagen sitzen und war zum Nichtstun verdonnert, was ihm nicht schmeckte. Aber was sollte er dagegen tun? Die Arbeit musste nun mal gemacht werden, auch wenn er sie nicht mochte. Das allein war nicht der Grund für seine schlechte Laune. Das letzte Wochenende war wegen der Arbeit ins Wasser gefallen. Die wenige Zeit, die ihm mit seiner Freundin Sabine Kofler geblieben war, hatte er verschlafen. Sabine lebte und arbeitete als Journalistin in München, was die Beziehung nicht einfacher machte. Heute Morgen erfuhr er, dass sie sich am kommenden Wochenende nicht sehen konnten, da Sabine wegen einer Reportage nach London fliegen musste. Natürlich gönnte Leo seiner Freundin den Erfolg, aber er wollte sie viel lieber bei sich haben. Die Aussicht auf ein einsames Wochenende und diese stumpfsinnige Arbeit hatten ihm die Laune gründlich verhagelt.
Der sechsundfünfzigjährige Hans Hiebler war heute äußerst gut drauf, auch wenn ihn diese Arbeit ebenfalls anödete. Schweigend saßen die beiden nebeneinander und beobachteten das Haus und die Straße. Beide stutzten, als ein ziemlich protziger Wagen am Straßenrand parkte, aber niemand ausstieg. Sie behielten ihn im Auge, verloren aber auch darüber kein einziges Wort.
„Glaubst du daran, dass eine Geschäftsfrau aus Burghausen mit Menschenhandel zu tun hat?“, durchbrach Leo die Stille. „In Frankfurt oder Berlin vielleicht, aber auch da nur bedingt. Menschenhandel! Dieses Wort allein verursacht bei mir einen Würgereiz.“
„Es gibt nichts, was es nicht gibt. Als der Chef sagte, worum es geht, hielt ich das auch für völlig absurd. Aber das Internet ist voller Informationen darüber. Offenbar sind billige oder kostenlose Arbeitskräfte ein sehr lukratives Geschäft.“
„Und das findest du in Ordnung?“
„Habe ich das gesagt? Natürlich ist das nicht in Ordnung! Ich kann und will mir Menschenhandel nicht einmal vorstellen! Trotzdem gibt es das, das ist nun mal eine Tatsache. Du kannst mir glauben, dass ich nicht scharf darauf bin, damit in Berührung zu kommen. Und um deine Frage umfassend zu beantworten: Nein, ich glaube nicht, dass Frau Angermaier oder Burghausen an sich mit Menschenhandel zu tun hat. Trotzdem hat der Chef zugesagt, dass wir das LKA unterstützen, deshalb sitzen wir hier. Wie Krohmer sagte, wird sich hier sowieso nichts abspielen. Wir sind nur hier, um zu beobachten und mehr nicht.“
Tatjana Struck, die Leiterin der Mordkommission, und der zweiundvierzigjährige Werner Grössert standen vor dem Autohaus, das der Verdächtigen gehörte. Tagsüber war das weniger langweilig gewesen, weil sich ständig etwas bewegte. Seit einer Stunde war Feierabend und das abseits von Burghausen gelegene Industriegebiet leerte sich mehr und mehr. Ab achtzehn Uhr schienen nur noch sie beide hier zu sein. Die Stimmung zwischen Tatjana und Werner war ebenfalls ziemlich gereizt. Die beiden schätzten sich zwar beruflich, konnten privat aber wenig miteinander anfangen. Während der Familienvater Werner Grössert aus reichem Hause kam und ein spießbürgerliches Leben führte, lebte Tatjana allein in einer sündhaft teuren Wohnung, die ihr Vater zum größten Teil finanzierte. Tatjanas Vater war eine Größe im Frankfurter Rotlichtmilieu, für den sie sich sehr schämte, auch wenn sie ihn als Mensch liebte. Trotzdem übte er einen Job aus, der mit ihrem als Kriminalbeamtin nicht kompatibel war. Seine Arbeit und die Tatsache, dass er sich ständig in ihre Belange einmischte, da er sich sehr um sie sorgte, waren die Gründe, warum sie sich hatte nach Bayern versetzen lassen.
Rudolf Krohmer, Chef der Kriminalpolizei Mühldorf am Inn, leitete diesen Einsatz, bei ihm liefen alle Fäden zusammen. Eigentlich war das nicht seine Aufgabe, trotzdem stimmte er zu, als der zuständige LKA-Beamte Feichtmayr ihn um Hilfe bat. Krohmers Mitarbeiter waren nicht scharf auf den Job, der versprach, sehr öde und langweilig zu werden, was ihm trotzdem allemal lieber war, als eine gefährliche Aufgabe. Feichtmayr gab Krohmer zu verstehen, dass die Observierungen des Hauses und des Autohauses der Verdächtigen Angermaier nur eine zusätzliche Absicherung waren und die eigentliche Aktion nicht hier stattfinden würden. Die Möglichkeit, dass seine bayerische Heimat womöglich mit Menschenhandel zu tun hatte, fand Krohmer einfach nur widerlich. Vielleicht irrte sich Feichtmayr, was nicht ausgeschlossen war. Nur noch wenige Stunden und der Einsatz war vorbei und alle konnten sich wieder Aufgaben widmen, die in ihren Zuständigkeitsbereich fielen.
„Was ist los, mein Moppelchen?“, durchbrach Hans die wieder entstandene Stille. Ihm ging die schlechte Laune und die Keksesserei seines Kollegen langsam aber sicher auf die Nerven.
„Moppelchen? Was soll das?“
„Du bist dick geworden, das habe ich dir schon mal gesagt. Schalte einen Gang zurück und überlege dir vor jedem Bissen, ob er das wert ist. Und hör endlich auf, hier alles vollzukrümeln. Schau mal, wie es hier aussieht!“
„Halt die Klappe und kümmere dich um deinen Mist.“ Leo steckte sich den nächsten Keks in den Mund, schaltete demonstrativ die Zündung ein und öffnete beide Scheiben.
„Hey! Was soll das? Willst du, dass man uns sieht? Außerdem haben wir heute minus sechs Grad! Mach sofort die Fenster wieder zu!“
„Ich brauche dringend frische Luft. Dein widerlicher Parfumgestank schnürt mir die Kehle zu.“
Es folgte eine Auseinandersetzung zwischen den beiden, die sich gewaschen hatte. Sie schlugen sich Vorwürfe um die Ohren, die alle nicht ernst gemeint waren. Wenn man stundenlang nur in einem Auto saß, war das nicht verwunderlich.
Ein Anruf von Krohmer unterbrach den Disput.
„Es geht los, Leute“, sagte Krohmer. Er war überrascht und auch verärgert darüber, dass die Sache gerade jetzt ins Rollen kam, wenn er dafür zuständig war.
„Echt jetzt?“ Auch Hans hatte nicht damit gerechnet.
„Ja. Die Info kam eben rein. Es sieht so aus, als wären Wohnhaus oder Firma doch im Spiel, vielleicht sogar beides.“
„Hat es nicht geheißen, wir stehen hier nur zur Absicherung?“
„Ja, aber daran können wir jetzt auch nichts ändern. Ein Lieferwagen hat sich aus der Kolonne entfernt. Das LKA konnte ihn bis Ach verfolgen, er fuhr vor einer Minute in Burghausen über die alte Grenze. Ich gab grünes Licht, dass wir ab Burghausen übernehmen. Der Lieferwagen ist weiß und hat blaue Streifen. Eine genauere Beschreibung liegt noch nicht vor. Das LKA hat versprochen, so bald wie möglich Verstärkung zu schicken.“
Leo schaltete die Zündung aus und schloss rasch die Fenster. Dann war es totenstill. Würde der Lieferwagen hier auftauchen oder im Autohaus Angermaier? Leo kontrollierte seine Waffe, was ihm Hans gleichtat. Das Warten zerrte an den Nerven. Leo sah beinahe jede Minute auf die Uhr. Was würde passieren? Sie waren hier nur zu zweit, auch Tatjana und Werner waren auf sich allein gestellt. Hoffentlich kam die Unterstützung des LKA zeitnah.
„Der dunkelblaue Wagen da vorn gefällt mir überhaupt nicht. Der steht seit knapp dreißig Minuten da und niemand ist bisher ein- oder ausgestiegen. Gehört der Wagen zu uns?“
„Spinnst du? Der ist viel zu wertvoll. Nein, das ist keiner von uns, wir beide sind definitiv alleine hier. Wir sollten das Kennzeichen checken.“
Leo gab das Kfz-Kennzeichen an die Kollegen weiter, während Hans das Fernglas nahm und versuchte, irgendetwas zu erkennen. In dem Moment versperrte ihm ein Lieferwagen die Sicht, der Pakete ins Nachbarhaus brachte. Und das dauerte. Als der endlich wegfuhr, versuchte Hans erneut, sein Vorhaben in die Tat umzusetzen. Dann klingelte Leos Handy, der Halter des Fahrzeugs war ermittelt.
„Das darf doch nicht wahr sein!“, rief Leo, als er aufgelegt hatte. „Du wirst nie erraten, wem der Wagen gehört.“
In dem Moment erkannte Hans die Frau hinter dem Steuer.
„Anita!“, flüsterte er.
„Ja, Anita Seidl. Was macht sie hier?“
„Das werde ich herausfinden. Sie muss hier weg, und zwar so schnell wie möglich.“
„Hans?“, rief Anita erschrocken, als sie ihn erkannte. „Wegen dir hätte ich fast einen Herzinfarkt bekommen! Was machst du hier?“
„Das könnte ich dich fragen. Fahr los!“
„Aber…“
„Fahr endlich los. Du gefährdest eine Observierung!“
Anita spürte, dass mit Hans nicht zu spaßen war und fuhr los. Sie hätte gerne sofort näheres erfahren, aber das konnte warten. Auf einem Supermarktparkplatz in der Nähe hielt sie an.
„Kannst du mir erklären, was das soll?“
„Was machst du hier? Was willst du von Frau Angermaier?“
„Von wem? Der Name sagt mir nichts. Ich bin hinter einem Mann her, dessen Handy in der Kaiserstraße 12 eingeloggt ist. Zumindest war er das noch vor drei Stunden. Ich habe vor dem Haus gewartet und ihn vorhin am Fenster gesehen.“
„Wen suchst du?“
Anita gab ihm die Fotos.
„Ja, der Mann ist im Haus von Frau Angermaier. Was ist mit ihm?“
„Er hat die Mutter meines Mandanten bis auf den letzten Cent ausgenommen. Sie hat sich umgebracht.“
„Ein Heiratsschwindler?“
„Vermutlich.“
„Dann wird er sich an der Angermaier die Zähne ausbeißen. Die Frau ist mit allen Wassern gewaschen.“
„Was ist mit ihr? Warum ist die Polizei hinter ihr her?“
„Das kann ich dir nicht sagen, das sind laufende Ermittlungen.“
„Wie bitte?“ Anita starrte Hans an. „Du gibst mir jetzt sofort Informationen darüber, was hier läuft, schließlich war ich dir gegenüber auch ehrlich.“
„Und dafür bin ich dir auch dankbar, meine Schöne. Ich hätte nie im Leben damit gerechnet, dass wir uns so schnell wiedersehen. Du siehst wieder besonders hübsch aus.“
„Lass die Schleimerei! Ich will wissen, was hier läuft!“ Anita war stinksauer.
„Das glaube ich dir gerne. Trotzdem darf ich dir nichts sagen. Sei so lieb und fahr mich wieder zurück. Wenn ich es dir sage, lässt du mich aussteigen und fährst einfach weiter und hältst dich von der Kaiserstraße fern, in Ordnung?“
„Du kannst mich mal! Steig aus!“
„Aber…“
„Steig aus, habe ich gesagt!“ Sie beugte sich über Hans und öffnete die Beifahrertür von innen. „Wenn du nicht sofort aussteigst, rufe ich laut um Hilfe.“
Hans war total baff und stieg aus. Er sah Anita zu, wie sie den Wagen wendete und wieder zurückfuhr. Sie wird doch nicht…? Verdammt! Hans rief Leo an, während er loslief. Er musste so schnell wie möglich wieder zu Leo.
„Ich fürchte, Anita kommt zurück!“
„Was? Wir müssen jeden Moment damit rechnen, dass der Lieferwagen hier auftaucht. Wo bist du?“
„Auf dem Weg zu dir“, keuchte Hans.
„Was soll ich mit der Seidl machen? Soll ich sie aufhalten?“
„Keine Ahnung! Wenn die Angermaier mitkriegt, dass sich die Polizei in ihrer Nähe aufhält, dann ist die Arbeit von mehreren Monaten futsch. Krohmer wird das nicht verstehen.“
Leo war wütend. Was, wenn diese vorlaute Detektivin alles kaputtmachte? Dann bemerkte er Scheinwerfer im Rückspiegel, das musste sie sein. Leo wurde nervös, er musste etwas unternehmen. Er stieg aus und lief ihr direkt vor den Wagen.
Anita erschrak und bremste. Gerade noch rechtzeitig. Es hätte nicht viel gefehlt und sie hätte den Mann überfahren. Moment – war das nicht…? Ja, das war Schwartz!
Leo war erleichtert, dass seine dämliche Aktion nicht schiefgegangen war. Er stieg in Anitas Wagen.
„Fahren Sie!“, sagte er schroff.
„Nein, das werde ich nicht! Sie steigen augenblicklich aus!“
„Wenn Sie nicht sofort losfahren, werde ich Sie festnehmen. Ein Grund dazu fällt mir schon noch ein. Ich spaße nicht, ich meine es ernst!“
Anita fuhr los, auch wenn ihr das widerstrebte. Nach zwei Straßen hielt sie an.
„Was fällt Ihnen eigentlich ein, Herr Schwartz? Ich verstehe, dass Sie einen Polizeieinsatz haben und diese Frau Angermaier, oder wie sie heißt, warum auch immer observiert wird. Aber ich habe auch meine Arbeit zu machen. Wie ich Hans vorhin sagte, suche ich den Mann, der sich bei Frau Angermaier im Haus aufhält. Und ich werde nicht einfach so von hier verschwinden, nur weil es der Polizei nicht gefällt. Ich bin…“
Weiter kam Anita nicht. Leo drückte ihren Kopf nach unten.
„Was zum Teufel…“ Anita verstand nicht, was das sollte. Sie wollte sich aufrichten, aber Leo ließ das nicht zu. Er drückte sie mit roher Gewalt nach unten.
Leo hatte den Lieferwagen kommen sehen. Noch konnte er nicht mit Gewissheit sagen, dass das der richtige war. Erst, als er direkt an ihm vorbeifuhr und er die Streifen sah, war er sich sicher: Das war er! Ob er es noch rechtzeitig geschafft hatte, dass sie nicht gesehen wurden? Als der Wagen abgebogen war, richtete er sich wieder auf und nahm sein Handy. Dabei ließ er Anita los.
„Wo bist du, Hans?“
„Ich sitze im Wagen“, keuchte Hans, der völlig außer Atem war.
„Der Lieferwagen kam eben an mir vorbei.“
„Ich sehe ihn. Wo bist du?“
„Zwei Straßen weiter. Du musst vorerst ohne mich auskommen. Halt‘ mich auf dem Laufenden.“
Leo fluchte, als er das Gespräch unterbrach.
„Ich möchte auf der Stelle wissen, was hier los ist!“ Anita zählte eins und eins zusammen. Das, was hier gerade passierte, war keine normale Observierung. Hier ging es um mehr.
„Steigen Sie aus“, sagte Leo entschlossen.
„Ich denke ja überhaupt nicht daran!“ Anita klammerte sich entschlossen am Lenkrad fest. Sie würde ihren Platz und auch ihren Wagen verteidigen.
„Ich brauche Ihren Wagen!“
„Nur über meine Leiche“, zischte sie und krallte sich am Lenkrad fest. „Wo soll‘s hingehen?“
„Das ist ein Polizeieinsatz, ich brauche Ihren Wagen“, wiederholte Leo, der sich Sorgen um Hans machte, da der jetzt völlig auf sich allein gestellt war.
„Und ich werde Ihnen den Wagen nicht überlassen. Entweder die Sache läuft mit mir oder Sie sehen zu, wie Sie an einen Wagen kommen. Sollen wir hier noch lange diskutieren? Ich dachte, es eilt.“
„Drehen Sie um! Zurück zum Haus der Angermaier. Los! Fahren Sie endlich“, rief Leo genervt. Er hasste es, wenn er es mit sturköpfigen Zivilisten zu tun hatte. Am liebsten würde er die nervige Frau aus dem Auto werfen, aber das durfte er nicht tun. Wie es Hans wohl ging?
5.
Herbert Braunbach zeigte sich Josefa Angermaier gegenüber von seiner besten Seite. Er hatte Blumen mitgebracht und sogar ein kleines Schmuckstück überreicht, das er günstig erstanden hatte. Diese billigen Schmuckstücke, mit dem die Damen so leicht zu erfreuen waren, besorgte er übers Internet. Wie viele dieser Schmuckstücke er schon verschenkt hatte, wusste er nicht mehr und das war auch nicht wichtig. Die Damen, mit denen er es zu tun gehabt hatte, interessierten ihn nicht mehr, sobald er sie verließ. Er dachte keine Sekunde mehr an die vielen Frauen, die er um ihr Vermögen gebracht hatte. Er sah nichts Verwerfliches darin, dass er für seine Dienste entlohnt wurde, auch wenn er dafür die wildesten und rührseligsten Geschichten erfand. Für Braunbach war das ein sehr erfolgreiches Geschäftsmodell. Er gab den Frauen Selbstvertrauen, überhäufte sie mit Komplimenten und Aufmerksamkeiten, die auch vor dem Schlafzimmer nicht aufhörten – und dafür wurde er bezahlt. Wenn das Geld nicht so floss, wie er sich das vorstellte, drückte er auf die Tränendrüse oder versprach das Blaue vom Himmel; wenn es sein musste, sogar die Ehe. Ob er ein Gigolo, Heiratsschwindler oder ein Betrüger war? Wie man seine Dienstleistungen nannte, war ihm gleichgültig. Er hatte nichts gelernt und war für normale Spießerarbeit nicht geschaffen, das hatte er mehrfach ausprobiert. Irgendwie musste er seinen Lebensunterhalt bestreiten und Geld für schlechte Zeiten und für die Rente zurücklegen. War es nicht sein Recht, sich um sich selbst zu kümmern? Sein Talent war es, einsamen, wohlhabenden Frauen das Vermögen abzuluchsen, woran er großen Spaß hatte. Es war ihm eine Freude, wenn er es wieder geschafft hatte, einen dicken Scheck oder ein fettes Geldbündel in Händen zu halten. Daneben hatte er keine Skrupel, auch das eine oder andere Schmuckstück zu verkaufen und die Eigentümerin darin auch noch zu betrügen. Die Welt will beschissen werden, war eine seiner Lebensweisheiten.
Vor drei Wochen hatte Braunbach die Unternehmerin Josefa Angermaier kennengelernt. Sie besaß ein Autohaus, das sehr gut zu laufen schien. Er hatte keine Ahnung von Geschäften, schon gar nicht von Autoverkäufen. Der dicke Wagen der Frau, ihre teure Garderobe, der wertvolle, dezente Schmuck und vor allem die noble Villa, waren Anzeichen genug für seine Annahme. Er hatte sie in Bad Birnbach in den Thermalquellen kennengelernt, als sie auf der Liege lag und ein Buch las. Wie zufällig kamen sie ins Gespräch, in dem er das Wesentliche erfuhr: Die Frau war alleinstehend und vermögend – alles andere spielte keine Rolle, der Charakter und das Aussehen waren für ihn nicht wichtig.
Josefa war zu Beginn sehr zurückhaltend, seit Tagen wurde sie sogar etwas schroff ihm gegenüber. Er gab sich verständnisvoll und bemühte sich noch mehr, da er vermutete, dass sie einen stressigen Job hatte. Ob dem tatsächlich so war, war ihm egal. Details, die die Damen von sich gaben, interessierten ihn nur, wenn sie ihm nutzten.
Heute war Josefa sehr gereizt. Sie lief mit ihrem Handy auf und ab. Auf was sie wartete, verriet sie ihm nicht und wenn er ehrlich war, war ihm das auch egal. Sie hatte vor Tagen eine Münzsammlung erwähnt, und darum ging es ihm heute. Er wollte einige der Münzen mit den billigen Imitationen, die in seiner Jackentasche steckten, austauschen, sobald er die Sammlung gefunden hatte. Was die Münzen wohl bringen würden? Noch konnte er nicht danach suchen, denn Josefa hielt sich immer in seiner Nähe auf. Dann klingelte ihr Handy und sie ging ins Nebenzimmer. Sie sprach leise, er verstand kein Wort. Ob er es wagen konnte, im alten Sekretär nach den Münzen zu suchen, die er dort vermutete? Ein Versuch war es allemal wert. Er zog die dünnen Baumwollhandschuhe an und ging zu dem Sekretär, der sicher ein Vermögen gekostet hatte. Vorsichtig zog er die erste Schublade auf, aber hier war nichts. Noch bevor er sich in den anderen Schubladen umsehen konnte, kam Josefa zurück. Rasch trat er zur Seite und nahm die Hände auf den Rücken, wo er die Handschuhe auszog.
„Was machst du da?“
„Nichts. Ich gehe einfach nur auf und ab. Kannst du dich endlich loseisen? Ich würde so gerne mit dir essen gehen. Ich möchte meine hübsche Begleitung überall vorzeigen. Alle werden mich um dich beneiden.“ Braunbach nahm ihre Hand und küsste sie galant.
„Lass das!“, herrschte sie ihn an. Ja, sie war wie jede Frau empfänglich für Schmeicheleien, aber dafür hatte sie jetzt keine Nerven. „Ich habe noch zu tun und bitte dich zu gehen, Herbert.“
„Das kann ich nicht! Bitte erlaube mir, mich in deiner Nähe aufzuhalten. Ich möchte dich nur ansehen, deine Schönheit und deine elegante Erscheinung genießen. Bitte erlaube mir das.“ Herbert Braunbach setzte sein charmantestes Lächeln auf, dem kaum eine Frau widerstehen konnte.
Josefa Angermaier lächelte. Warum sollte er nicht hierbleiben? Das wäre sogar sehr gut für ihren Plan. Sie könnte ihm damit zeigen, dass sie ihm vertraute, was sie keineswegs tat. Schon von Anfang an spürte sie, dass der Mann etwas im Schilde führte. Erstens kannte sie Menschen und vor allem Männer, dafür lebte sie einfach schon zu lange und hatte zu viele schlechte Erfahrungen gemacht. Und zweitens war er einfach viel zu nett und warf mit Komplimenten geradezu um sich. Sie hatte einen Spiegel und wenn sie sich darin anschaute, sah sie keine Schönheit darin, sondern nur eine alte Frau, da konnte Herbert sagen, was er wollte. Sie traute dem Mann keinen Meter über den Weg, allerdings trat er zur richtigen Zeit in ihr Leben. Sie spürte schon lange, dass ihre Geschäfte, mit denen sie ihren aufwändigen Lebensstil finanzierte und fürs Alter vorsorgte, Aufmerksamkeit erregten. Sie war sehr risikobereit gewesen und die Geschäfte wurden immer heikler. Wenn die Zeit gekommen war, brauchte sie einen Sündenbock – und dafür war Herbert genau der Richtige.
Sie sah ihn an und lächelte, dann küsste sie ihn. Sie musste Herbert in Sicherheit wiegen und anfangen, ihm das Gefühl zu geben, dass er zu ihr gehörte und sie ihn nicht durchschaut hatte. Er durfte bleiben, auch wenn er dabei für eine Stunde alleine im Haus war. Anstellen konnte er nichts, sie hatte alle Wertsachen vorsorglich sicher weggesperrt.
„Gut, du kannst bleiben. Ich brauche noch etwa eine Stunde, dann bin ich fertig.“
„Ich werde warten. Danke, mein Täubchen.“ Braunbach setzte sich. „Du arbeitest zu viel. Wenn ich dir doch nur helfen könnte.“
Josefa stutzte. War jetzt nicht der passende Moment, um einen Schritt weiter zu gehen? Hatte sie dafür noch Zeit? Sie musste sich die Zeit nehmen, denn die Gelegenheit war sehr günstig.
„Du kannst mir tatsächlich helfen, mein Lieber.“
Jetzt war Herbert Braunbach sprachlos. Er hätte nie damit gerechnet, dass die Frau seinen Vorschlag ernst nehmen würde. Auf richtige Arbeit hatte er keinen Bock, was er ihr am liebsten sofort gesagt hätte. Aber das durfte er nicht, noch nicht. Er musste ihr gegenüber freundlich und charmant bleiben, denn es stand für ihn sehr viel auf dem Spiel.
„Was immer du willst, mein Engel“, antwortete er und begann zu schwitzen.
Josefa musste ein Lachen unterdrücken, denn Herbert reagierte so, wie sie es erwartet hatte. Sie durfte ihn nicht überfordern, sonst wäre er schnell verschwunden. Nein, sie musste vorsichtig vorgehen.
„Ich bin vor Monaten auf ein lukratives Angebot eingegangen und habe begonnen, mit Fahrzeugteilen aus Osteuropa zu handeln. Die Geschäfte laufen gut, was auch dem Finanzamt nicht entgangen ist. Mein Steuerberater hat mir offenbart, dass ich mit einer enormen Steuerbelastung zu rechnen habe, die den Gewinn selbstverständlich sehr schmälern würde.“ Sie atmete theatralisch und tat so, als würde ihr die bevorstehende Frage schwer fallen. „Man könnte dieses Problem umgehen. Den Geschäftszweig könnte ich offiziell verkaufen und der lukrative Handel würde separat weiterlaufen. Hierfür bräuchte ich einen Strohmann.“
„Und dabei hast du an mich gedacht?“
„Richtig. Du wärst auf dem Papier der Eigentümer und über ein eigens auf deinen Namen eingerichtetes Konto würden die Geschäfte laufen, um die du dich selbstverständlich nicht kümmern musst. Du hast nichts weiter damit zu tun, als deinen Namen herzugeben und zu Beginn einige Unterschriften zu leisten. Offiziell setzt du mich als Prokuristin ein und alles läuft weiter wie bisher.“ Josefa war nervös. Würde er darauf eingehen? Die Papiere, die sie mit ihrem Anwalt ausgearbeitet hatte, lagen seit Wochen vor. Würde er ihr das übel nehmen?
Herbert biss sich auf die Unterlippe. Er verstand nichts von kaufmännischen Dingen, von Steuern gleich gar nicht.
Frau Angermaier wurde nervös. Sie brauchte Herbert, aber der zögerte noch. Sie musste unbedingt noch einen drauflegen.
„Selbstverständlich musst du das nicht umsonst machen. Ich würde dir zehntausend Euro dafür zahlen.“
Herbert Braunbach war sprachlos. So viel Geld war ihr das wert? Was sollte er jetzt machen? Sollte er einwilligen? Nahm er das Geld an, ging die Beziehung zu dieser Frau in eine Richtung, die er nicht gutheißen konnte. Er strahlte sie an und küsste sie.
„Ich möchte doch kein Geld von meiner Süßen, das kommt ja überhaupt nicht in Frage. Selbstverständlich werde ich dir helfen.“
Josefa war überglücklich, ihr Plan schien zu funktionieren. Sie löste sich aus seinen Armen und ging zum Sekretär. Von dort holte sie eine Mappe hervor, die sie auf den Tisch legte. Herbert sah sie sprachlos an.
„Ich habe mit deinem Einverständnis gerechnet und die Papiere bereits vorbereitet. Bitte verurteile mich nicht, Herbert. Ich bin nun mal eine Geschäftsfrau, wie sie im Buche steht.“
Herbert lächelte. Auch wenn er sich überrumpelt fühlte, schätzte er doch ihren Geschäftssinn.
Sie gab ihm den Stift und er unterzeichnete an den Stellen, auf die sie mit den Fingern zeigte.
„Das mit dem heutigen Datum erledige ich später, das eilt nicht“, erklärte Josefa lapidar. Dann ging sie zum Sekretär und legte die Mappe zurück. Aus einer der Schubladen zog sie ein kleines Päckchen hervor, dass sie ihm mit einem charmanten Lächeln überreichte.
„Für mich?“, rief Herbert überrascht.
„Ja. Mach auf!“
Gierig riss er die Verpackung auf. Ihm blieb fast die Spucke weg, als er die goldene Uhr erblickte.
„Das kann ich nicht annehmen. Die hat doch sicher ein Vermögen gekostet! Nein – die kann ich wirklich nicht annehmen. Dieses wertvolle Geschenk in Verbindung mit dem, worum du mich eben gebeten hast, gefällt mir nicht.“
„Nimm die Uhr, mein Lieber. Du hättest sie so oder so bekommen. Wenn du nicht eingewilligt hättest, hätte das nichts zwischen uns geändert“, log sie. Natürlich wollte sie Herbert mit dieser Uhr belohnen. Die Uhr lag seit vielen Jahren in ihrem Sekretär. Sie wäre ein Geschenk für ihren untreuen Nichtsnutz von Mann gewesen, bevor seine Affäre ans Licht kam. Unschöne Wochen voller heftiger Diskussionen, Beleidigungen und Tränen folgten, dann verstarb er, woran sie nicht ganz unschuldig war. Sie hatte seine Blutdrucktabletten einfach ausgetauscht, was für sie mit fünf Semestern Medizin kein großes Problem gewesen war. Sie hatte den blutdrucksenkenden Wirkstoff einfach durch einen blutdrucksteigernden ausgetauscht. Dafür hatte sie auf dem Schwarzmarkt Tabletten besorgt, sie verrieben und mit einer manuellen Tablettenmaschine aus dem Internet einfach neue gemacht, die dem Original verdammt ähnlich sahen. Jetzt galt es abzuwarten. Und ihr teuflischer Plan ging tatsächlich auf. Noch bevor ihr Mann die Chance gehabt hatte, auch nur einen einzigen Koffer zu packen, war er tot. Er fiel einfach um. Der herbeigerufene Arzt diagnostizierte einen Herzinfarkt, was ja auch der Wahrheit entsprach. Niemand schöpfte Verdacht, alles ging seinen Weg. Das war jetzt zwölf Jahre her und seitdem hatte sie sich von einem grauen Mäuschen zu einer Geschäftsfrau gemausert, was ihr niemand zugetraut hatte. Das Autohaus lief von Anfang an schlecht. Als die Abwrackprämie ins Leben gerufen wurde, folgten drei gute Jahre, die dann nach und nach wieder abflauten. Die Konkurrenz in und um Burghausen war einfach zu groß. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als an die Reserven zu gehen. Als die weg waren, fing ein Firmenkredit den nächsten ab. Als sie vor über einem Jahr kurz vor dem Konkurs stand, bekam sie ein sehr lukratives Angebot, das sie nicht ablehnen konnte. Die Geschäfte liefen so gut, dass sie nicht nur die Kredite ablösen konnte, sondern sich sogar in der glücklichen Lage befand, immer mehr Gelder fürs Alter zurückzulegen. Aber seit vier Monaten spürte sie, dass ihr zunehmender Reichtum Aufmerksamkeit erregte, ihre Lage wurde langsam brenzlig. Und dann trat Herbert in ihr Leben. Er war geradezu perfekt dafür geeignet, alles auf ihn als Verantwortlichen abzuwälzen, falls sie mit ihrer Annahme richtig liegen sollte.
Herbert legte die Uhr an, die phantastisch glänzte und funkelte. Nicht nur die Marke war ihm bekannt, sondern auch das Modell. Viele Sammler würden dafür töten. Und jetzt hatte er sie am Handgelenk, einfach so. Er nahm Josefa in die Arme und küsste sie leidenschaftlich, was die sich gerne gefallen ließ. Mit ihr hatte er einen fetten Glücksgriff getätigt, er durfte sie unter keinen Umständen verlieren.
Josefa war zufrieden. Es kam ihr wie ein Wunder vor, dass sich ein Mann wie Herbert für sie interessierte. Er war sehr stattlich und hatte perfekte Umgangsformen. Außerdem war er der erste Mann seit vielen Jahren, mit dem sie intim wurde. Sex war ihr nie wichtig gewesen, aber seit Herbert war das anders. Sie begann sogar, richtig Spaß daran zu haben, womit sie mit ihren siebenundsechzig Jahren nicht mehr gerechnet hätte. Unter normalen Umständen hätte sie Herberts Gegenwart sehr genossen, sie konnte von seinen Komplimenten und Schmeicheleien nicht genug kriegen, auch wenn sie wusste, dass sie nicht ehrlich gemeint waren. Er war hinter ihrem Geld her, nicht mehr und nicht weniger. Und sie brauchte ihn nicht nur fürs Bett und für ihr Ego, sondern auch als Strohmann.
Der Lieferwagen fuhr vor. Es war höchste Zeit, zu gehen.
„Ich muss weg, es dauert nicht lange“, sagte sie, nahm ihren Mantel und ging.
Herbert konnte sich an der wertvollen Uhr kaum sattsehen. Er drehte sein Handgelenk in alle Richtungen und betrachtete sich lange in dem großen Spiegel in der Diele. Sollte er es jetzt noch wagen, nach den Münzen zu suchen? Nein, das war jetzt nicht mehr notwendig. Er war hier auf eine wahre Goldader gestoßen und das durfte er nicht gefährden. Geld hatte er noch genug, das war nicht das Problem. Er musste nur hier sitzen und auf Josefa warten. Als Frau war sie ihm zuwider und entsprach überhaupt nicht dem Typ, auf den er stand. Aber darum ging es nicht. Er musste an sich und an seine Zukunft denken, nur das war wichtig…
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