Der 3. Fall aus der Leo-Schwartz-Krimireihe
1.
„Komm sofort, ich brauche dich in der Pathologie.“
„Christine? Was ist los?“ Leo Schwartz, Leiter der Mordkommission Ulm rieb sich die Augen und sah auf seine Uhr. „Halb 4. Bist du wahnsinnig geworden?“
„Ich weiß, wie spät es ist. Hast du mich nicht verstanden? Komm sofort her.“
Sie hatte aufgelegt. Typisch für Christine Künstle, Pathologin in Ulm und Leos beste Freundin. Natürlich hatte er keine große Lust, mitten in der Nacht aufzustehen, zumal sein Dienst erst um 8.00 Uhr begann. Aber was blieb ihm anderes übrig? Erst gestern kam er mit Christine aus einem 2-wöchigen, wunderschönen und erholsamen Griechenland-Urlaub zurück und hatte sich seinen ersten Arbeitstag eigentlich anders vorgestellt. Was in Gottes Namen machte Christine mitten in der Nacht in der Pathologie? Er zog sich an und fuhr los. Unterwegs überlegte er sich, ob er sich in einem Drive-In einen Kaffee holen sollte. Aber wenn Christine zu solch unchristlicher Zeit anrief, musste es dringend sein und so verzichtete er auf den Kaffee und fuhr direkt zur Pathologie. Ihre Stimme klang sehr aufgeregt und er war gespannt darauf, was der Grund dafür war.
Sofort nach seiner gestrigen Ankunft am Münchner Flughafen hatte er im Büro die Nachricht hinterlassen, dass er wieder verfügbar war und die Bereitschaft übernahm. Seine Kollegin hatte ihn vertreten und er wollte sie so schnell wie möglich entlasten. Außerdem liebte er seinen Beruf und die zwei Wochen in Griechenland waren zwar erholsam, aber auch schrecklich langweilig gewesen. Er hatte seine Schwierigkeiten damit, nichts zu tun.
Er parkte den Wagen und war inzwischen hellwach. Seine Neugier wuchs und wuchs, denn Christine war ganz bestimmt keine Panikerin, die gleich bei jedem Mist Alarm schlug. Sie konnte sich durchaus selbst helfen und war nicht zart besaitet. Er würde es gleich erfahren.
Mit einem flauen Gefühl im Magen ging er durch die einsamen, dunklen, kalten Gänge der Pathologie. Er hasste diesen Ort und vermied es so gut es ging, hierherzukommen. Mitten in der Nacht ganz besonders, denn wenn kein Betrieb war, empfand er dieses Gebäude als besonders unangenehm. Schon seit seiner Ausbildung war ihm die Pathologie ein Graus. Er hatte sich mehrfach übergeben müssen und er war oft kurz davor gewesen, alles hinzuschmeißen. Noch heute musste er sich von damaligen Kollegen Hohn und Spott diesbezüglich über sich ergehen lassen, wenn sie sich zufällig über den Weg liefen.
„Endlich! Wo bleibst du denn so lange? Komm hier rüber und sieh dir das an.“
Christine war alleine und blickte nur kurz auf, denn sie hatte nur darauf gewartet, ihm endlich das zu zeigen, was sie so aufbrachte.
Oh bitte nicht! Jetzt musste er sich auch noch die Leiche ansehen, die vor ihr auf dem Tisch lag. Sein Magen zog sich aufs Heftigste zusammen. Ganz vorsichtig näherte er sich und zwang sich, nur genau auf die Stelle zu sehen, die Christine so wichtig schien.
„Jetzt stell dich doch nicht so an, der beißt nicht mehr. Sieh her.“
Leo sah in Höhe des Rippenbogens zwei Einstiche. Für ihn war das nichts Ungewöhnliches. Er sah Christine fragend an und war froh, endlich den Blick von der Leiche nehmen zu können.
„An diesem Einstich hier ist der Mann definitiv gestorben. Die Stichverletzung wurde mittels eines Messers mit Wellenschliff beigefügt. Der Stichkanal ist etwa 23 cm lang, die Tatwaffe wurde nicht gefunden. Aber dieser Einstich hier wurde dem Opfer post mortem beigefügt. Und zwar mit einem scharfen Jagdmesser, einem sogenannten Hirschfänger. Das Messer lag neben der Leiche. Verstehst du mich jetzt?“
Leo schüttelte den Kopf. Worauf wollte sie hinaus?
„Mein Gott, jetzt streng dich ein bisschen an, ich spreche doch nicht Suaheli. Dieser Mordfall war während unseres Urlaubs bearbeitet worden. Wie du weißt, ist es meine Angewohnheit, dass ich gerne überprüfe, was während meiner Abwesenheit los war. Und dabei habe ich die zweite Stichwunde, sowie das Messer entdeckt. Beides wurde nicht im Bericht erwähnt.“
„Du meinst, die zweite Stichwunde wurde dem Opfer hier in der Pathologie beigefügt und das Messer lag neben der Leiche?“
„Na Gott sei Dank! Jetzt hast du endlich verstanden, worum es geht. Kümmere dich darum. So eine Schlamperei gibt es bei mir nicht und so etwas dulde ich auch nicht.“ Die nur 1,60 Meter große, stämmige, 62-jährige Frau sah ihn ernst an und fuhr sich mit der einen Hand durch die kurzen, braunen Haare. Man sah ihr an, dass sie entsetzt war über die Tatsache, dass jemand in ihrer Pathologie, die sie gerne als ihr Wohnzimmer bezeichnete, sein Unwesen trieb.
Leo ging zum Tisch und nahm die Akte zu diesem Mordfall in die Hand, die Christine bereits besorgt und auch darin gelesen hatte. Der Mordfall wurde von seiner Kollegin Anna Ravelli bearbeitet und er hielt sehr große Stücke auf sie. Tatsächlich wurde in der Akte nur die eine tödliche Stichverletzung erwähnt. Von der zweiten, als auch von dem Hirschfänger, stand hier nichts. Außerdem waren die dazugehörigen Tatort-Fotos eindeutig, auf denen ebenfalls nur die eine Stichwunde zu sehen war. Natürlich musste dieser Sache umgehend nachgegangen werden. Aber vorher musste er sich um Christine kümmern, die ihm Sorgen bereitete. Äußerlich war sie zwar knallhart und durchaus bei Kollegen gefürchtet, aber er war einer der wenigen, die wussten, dass sie einen überaus weichen Kern besaß.
„Hast du überhaupt schon gefrühstückt? Und warum um alles in der Welt musst du mitten in der Nacht arbeiten? Dein Arbeitstag beginnt erst um 8 Uhr und von dem Flug gestern musst du doch noch todmüde sein.“
„Papperlapapp, so ein Flug macht mir doch nichts aus. Ich konnte nicht schlafen und da ich gerne in Ruhe arbeite, dachte ich mir, ich fange gleich an, denn ausgeruht habe ich mich zwei Wochen lang. Und nein, gefrühstückt habe ich natürlich noch nicht, es ist ja auch noch keine Zeit dafür.“
Sie kannte Leo nicht nur lange, sondern auch sehr gut. Sie wusste, dass er es gut mit ihr meinte. Aber sie war in Ordnung. Sie nahm ihn beinahe flüchtig in ihre Arme und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. Sie machte sich umgehend wieder an die Arbeit, denn sie befürchtete noch mehr Fehler und Schlampereien in ihrer Pathologie.
Leo Schwartz ging in sein Büro und zog aus dem Automaten im Flur der Mordkommission Ulm einen starken Kaffee. Er trank diesen langsam und genüsslich, denn sein Magen musste sich nach dem Besuch in der Pathologie erst einmal beruhigen. Er las nochmals ausführlich die dünne Akte des Mordfalls und beschloss, seine Kollegin Anna Ravelli herzubeordern. Wenn das mit der Pathologie an die Öffentlichkeit gelangen würde, gab das mächtig Ärger. Vor allem freute er sich nicht gerade auf die diesbezügliche Unterredung mit seinem Vorgesetzten und entschied daher, ihn so lange wie möglich nicht damit zu behelligen.
Natürlich war Anna nicht erfreut darüber, so früh ins Büro zitiert zu werden, aber Leo machte es dringend. Es konnte kein neuer Mordfall sein, das hätte Leo erwähnt. Was brachte ihn dazu, so früh im Büro zu erscheinen? Und was wollte er von ihr? Sie wurde neugierig und beeilte sich. Nur eine knappe halbe Stunde später stand sie gegen 5.00 Uhr in der Tür. Trotz der knappen Zeit sah die 29-jährige, 1,75 Meter große, sportliche Frau mit den langen, schwarzen Locken ausgeruht und frisch aus.
„Guten Morgen Leo! Ich hoffe, du hattest einen schönen Urlaub.“
„Guten Morgen Anna. Schön, dich zu sehen. Zuerst möchte ich mich dafür entschuldigen, dass ich dich aus dem Bett geholt habe. Ja, ich hatte einen schönen Urlaub. Ich habe dir sogar etwas mitgebracht, das habe ich aber zuhause vergessen. Bekommst du morgen.“
„Kein Problem. Stefan hat Bereitschaft und musste sowieso zur Arbeit.“
Natürlich! Daran hatte Leo nicht gedacht, als er Anna anrief. Stefan Feldmann, Leiter der Spurensicherung Ulm war der Lebensgefährte seiner Kollegin Anna. Er selbst hatte veranlasst, dass sich die Spurensicherung umgehend die Pathologie vornehmen soll.
Leo unterrichtete seine Kollegin ausführlich über das, was er in der Pathologie mit eigenen Augen gesehen hatte. Anna konnte nicht fassen, was sie hörte.
„In unserer Pathologie? Das kann nicht sein.“
„Erzähl mir von dem Fall.“
„Das Opfer wurde mit einer Strichwunde tot aufgefunden, den genauen Fundort ersiehst du aus den Unterlagen. Die Tatwaffe wurde nicht gefunden, obwohl das ganze Areal akribisch abgesucht wurde. Wir haben einwandfrei gearbeitet.“
„Beruhige dich, ich glaube dir ja. Ich habe die Fotos gesehen und bin davon überzeugt, dass sich jemand an der Leiche in der Pathologie zu schaffen gemacht hat. Was weißt du über das Opfer?“
„Das Opfer ist Karl Rauschberger. Bei dem 57-jährigen Mann handelt es sich um einen Obdachlosen, der nur Der Lehrer genannt wurde. Ich vermutete eine Tat im Affekt nach einem Streit. Es könnte sich auch um Raubmord handeln. Die Habseligkeiten des Opfers waren sehr dürftig. Wir wissen nicht, ob etwas fehlt.“
„Angehörige? Zeugen?“
„Nein, keine Familie und keine Zeugen. Wir haben wirklich sauber gearbeitet, das musst du mir glauben.“ Anna war verunsichert, denn das war der erste Mordfall, den sie eigenständig bearbeitete. Die versprochene Vertretung für die Dauer von Leos Urlaub war zum fraglichen Zeitpunkt nicht in Ulm erschienen. Er hatte es nicht nötig gehabt, sich bei ihr zu melden. Erst nach drei Tagen stand er plötzlich in der Tür. Anna war stinksauer und hatte auf seine weitere Mithilfe verzichtet und den Fall alleine übernommen.
„Ich zweifle nicht an dir. Trotzdem können wir das, was in der Pathologie geschehen ist, nicht ignorieren. Wir sollten uns nochmals das Umfeld des Opfers genauer vornehmen. Für mich sieht es so aus, als wenn da jemand eine Stinkwut auf den Mann hatte.“
„Oder wir haben es mit jemandem zu tun, der komplett irre ist. Welcher normale Mensch verschafft sich unbefugten Zugang in die Pathologie, sticht dann auf einen Toten ein und lässt das Messer neben der Leiche liegen?“
„Der Hirschfänger ist bereits bei der Spurensicherung, die nehmen sich auch die Pathologie wegen eventuellen Einbruchspuren vor. Hoffentlich finden sie verwertbare Spuren. Ich möchte nicht daran glauben, dass das irgendeiner aus unseren Reihen gemacht hat.“
„Das ist absoluter Blödsinn, niemand von der Polizei oder der Pathologie würde so etwas tun. Diese Möglichkeit sollten wir zuerst ausschalten. Ich checke Lieferanten, Reinigungspersonal usw., eben alle, die Zugang zur Pathologie haben.“
„Dann übernehme ich die Befragung der Kollegen.“
Nach drei Stunden mühsamer Befragungen waren sie zwar keinen Schritt weiter, aber erleichtert über die Tatsache, dass sich bei den Befragungen keine Verdächtigen herauskristallisierten. Christine hatte ihre Mitarbeiter bereits Gebet genommen. Für sie stand fest, dass es keiner von ihnen gewesen war.
„Hol deine Jacke Anna, wir hören uns bei den Obdachlosen um.“
Anna Ravelli setzte sich hinters Steuer. Durch den Mordfall, der erst vor wenigen Tagen geschehen war, kannte sie nicht nur den Tatort, sondern auch die einschlägigen Plätze, wo sich die Obdachlosen in Ulm aufhielten.
Leo sah sich am Waldrand um. Hier wurde die Leiche Rauschbergers gefunden. Weit und breit war niemand zu sehen.
„Dort lag die Leiche. Da hinten ist der Waldweg. Wir haben keine Spuren gefunden.“
Leo ging den Tatort mehrmals ab. Wie kam Rauschberger hierher?
„Lass uns fahren,“ sagte er.
„Mach dich darauf gefasst, dass wir nicht mit offenen Armen empfangen werden.“
Tatsächlich waren die Befragungen sehr zäh und äußerst anstrengend, denn nicht alle Obdachlose waren kooperativ und freundlich. Aber Leo hatte eine Engelsgeduld und erfuhr durch seine Art der Befragung weit mehr, als Anna erfahren hatte. Das 52-jährige Opfer Karl Rauschberger wurde hier nur der Lehrer genannt, da er tatsächlich Geschichts- und Englischlehrer war, bevor er durch ein persönliches Schicksal abrutschte und schließlich obdachlos wurde.
„Was damals genau passiert war, das hat er uns nie erzählt. Der Lehrer war kein typischer Obdachloser. Ich gebe zu, dass der Großteil von uns gerne Alkohol trinkt, aber das hat der nie gemacht. Der war ein Studierter, ein ganz schlauer, das hat er aber nie raushängen lassen.“
„Ja das stimmt, der wollte eigentlich nur seine Ruhe haben,“ mischte sich ein weiterer Obdachloser ein, der eben im Begriff war, seine Habseligkeiten zusammenzusuchen und sich wieder auf den Weg zu machen.
„Hatte der Lehrer in letzter Zeit mit jemandem Streit? Gab es Ärger? Hat jemand eine Person beobachtet, die sich auffällig verhalten hat?“
„Nein, nicht das ich wüsste. Der Lehrer war ein friedlicher, ruhiger Mensch.“
„Natürlich gibt es ab und zu mal Ärger wegen des Schlafplatzes oder auch, wenn man beklaut wird. Aber in letzter Zeit war nichts.“
„Wir haben deiner jungen Kollegin schon gesagt, dass das keiner von uns war. Der Lehrer war nicht immer hier, vielleicht hatte er Ärger bei einem anderen Unterschlupf. Frag doch mal drüben in Neu-Ulm am Bahnhof. Dort hat er sich aufgehalten, wenn das Wetter besonders schlecht war.“
Leo bedankte sich und versprach, am frühen Abend einen Kasten Bier vorbeizubringen. Er und Anna suchten noch weitere Plätze in der Nähe auf und erhielten ähnliche Aussagen über den Verstorbenen. Auch hier bekamen sie den Hinweis auf den Bahnhof in Neu-Ulm. Anna war enttäuscht. Ihr gegenüber hatte niemand den Bahnhof Neu-Ulm erwähnt, überhaupt haben sie nur wenig oder überhaupt nicht mit ihr gesprochen.
Auch am Bahnhof in Neu-Ulm wurden sie von den Obdachlosen nicht gerade freundlich empfangen und stießen auf Misstrauen. Keiner wollte etwas mit der Polizei zu tun haben. Hauptsächlich deshalb, weil seit Kurzem verstärkt gegen sie vorgegangen wurde. Offensichtlich eine neue politische Strategie, um sie von hier zu vertreiben, denn Obdachlose machen sich in der Öffentlichkeit nicht gut. Außerdem standen Wahlen an, was die politisch Verantwortlichen immer zu Aktionen veranlasste und bei den potentiellen Wählern auch gut ankam; Leo war diese Augenwischerei zuwider.
Leo ließ sich nicht von der unfreundlichen Art der Obdachlosen abschrecken. Er fragte einen nach dem anderen in einer Art und Weise, die das Misstrauen und die Ablehnung etwas milderte. Die Information, dass der Lehrer ermordet wurde, war für alle ein Schock. Der ruhige Mann war sehr beliebt und keiner konnte verstehen, dass diesem friedfertigen und verschlossenen Menschen irgendjemand etwas antun konnte. Aber niemand sagte etwas aus, was für die Ermittlungen wichtig waren.
Leo und Hans verabschiedeten sich von den Obdachlosen, die froh waren, endlich wieder ihre Ruhe zu haben.
„Woher kommt dieser Karl Rauschberger? Irgendwo muss er doch früher gelebt haben? Ich kenne niemanden, der keine Spuren hinterlässt. Wer weiß, was damals vorgefallen ist und Rauschberger veranlasst hatte, auf der Straße zu leben. Vielleicht gibt es eine Person aus dem früheren Leben, der ihn aufgespürt hat und der noch eine Rechnung mit ihm offen hatte?“
„Ich habe alles versucht, aber über diesen Rauschberger ist absolut nichts rauszufinden. Sein Name stand auf einem Foto, das er in seiner Brieftasche bei sich trug, keine Adresse oder sonst irgendwelche Hinweise. Wir sind uns nicht mal sicher, ob das überhaupt sein richtiger Name ist. Natürlich habe ich eine Personenabfrage gestartet und habe auch bei Schulen nachgefragt, ob ein Lehrer mit einem solchen Namen bei ihnen beschäftigt war. Diese Anfragen habe ich bundesweit weitergegeben.“
„Vielleicht wurde er als Vermisst gemeldet.“
„Negativ. Keine Person, die auch nur annähernd unserem Opfer ähnelt.“
„Dann weiß ich auch nicht weiter.“
Sie fuhren zurück in ihr Büro und dort wartete bereits Stefan Feldmann ungeduldig auf die beiden.
„Endlich. Ich warte hier schon eine Ewigkeit auf euch. Wir haben etwas gefunden, dass euch bestimmt interessiert. Zunächst einmal haben wir Einbruchspuren am Toilettenfenster der Pathologie gefunden. Leider keine Fingerspuren oder irgendetwas Verwertbares. Sicher ist, dass dort gestern Abend eingebrochen wurde, und zwar nach 17.00 Uhr. Die Putzkolonne war um diese Uhrzeit vor Ort und da war das Toilettenfenster definitiv geschlossen. Mehrere Mitarbeiter haben uns das unabhängig voneinander bestätigt. Und nun komme ich zu einem Knaller. Wir haben saubere Fingerabdrücke an dem Hirschfänger sichergestellt und konnten diese bereits zuordnen. Die gehören einem gewissen Simon Maurer. Bitte schön, hier ist der Bericht.“
„Machst du Witze?“ Leo war völlig verblüfft, damit hatte er nicht gerechnet. Das wäre ja fast zu schön, um wahr zu sein.
Stefan gab seiner Freundin Anna einen flüchtigen Kuss auf die Wange, was sie hier im Büro überhaupt nicht mochte. Sie hielt Privates und Berufliches streng auseinander, was aber unter den Umständen äußerst schwer war. Der 35-jährige Stefan Feldmann war schnell verschwunden. Leo war neidisch über die volle, pechschwarze Lockenpracht des Kollegen, während sein kurzes Haar nicht nur sehr grau war, sondern auch immer dünner wurde. Trotz seiner 49 Jahre und den 1,90 Meter war Leo Schwartz eher unscheinbar und fiel hauptsächlich wegen seiner immer gleichen Kleidung auf: Jeans, braune Lederjacke, die er schon viele Jahre zu fast allen Jahreszeiten und Gelegenheiten trug. Die Cowboystiefel hatte er vor Jahren in Amerika gekauft und er war sehr stolz auf sie. Aber vor allem liebte er seine T-Shirts, auf denen Rockbands abgedruckt waren, die außer ihm niemand zu kennen schien. Welche Banausen! Das waren Kult-Rockbands, die in der Szene eine großen Namen hatten.
Leo war seit einigen Jahren geschieden und hatte sich vor drei Jahren von Karlsruhe hierher nach Ulm versetzen lassen, um seiner geschiedenen Frau mit ihrem neuen Partner nicht über den Weg laufen zu müssen. Es hätte bei einer unschönen Begegnung nicht viel gefehlt, und er hätte diesem arroganten Schnösel mit seinem vielen Geld fast eine reingehauen. Das musste er verhindern und deshalb wählte er die Flucht, wobei ihm die freie Stelle in Ulm sehr gelegen kam. Anfangs fühlte er sich todunglücklich in Ulm. Je mehr Zeit verstrich, desto weniger dachte er an seine Heimat Karlsruhe und an seine Exfrau. Die Trennung von ihr hatte ihm fast das Herz gebrochen. Er hatte sich hier in Ulm sehr gut eingelebt und fühlte sich inzwischen sehr wohl. Vor allem seine Kolleginnen Christine Künstle, Anna Ravelli und auch deren Lebenspartner Stefan Feldmann waren zu seiner Familie geworden.
Leo las den Bericht der Spurensicherung sorgfältig durch und gab umgehend den Namen dieses Simon Maurer in den Computer. Sofort erschienen die entsprechenden Informationen von Simon Maurer auf dem Bildschirm. Anna stand hinter ihm und las mit.
„Körperverletzung bei einer Kneipenschlägerei in Reutlingen. Das ist aber schon Jahre her. Sonst absolut nichts. Was hat der mit unserem Toten zu tun?“
„Keine Ahnung, aber das wird er uns bestimmt erzählen.“
Sie klingelten an dem ansprechenden Mehrfamilienhaus am Rande Ulms. Nach wenigen Augenblicken summte der Türöffner. Sie gingen durch das saubere, helle Treppenhaus in den 3. Stock und dort wurden sie bereits erwartet.
„Wollen Sie zu mir?“
„Wenn Sie Simon Maurer sind, ja. Leo Schwartz, Kripo Ulm, das ist meine Kollegin Anna Ravelli.“ Sie zeigten ihre Ausweise und Simon Maurer bat sie mit einer Geste und einem Lächeln, einzutreten.
„Setzen Sie sich bitte.“ Sie hatten in dem geschmackvoll eingerichteten Wohnzimmer mit der braunen Ledergarnitur Platz genommen. „Möchten Sie Ihre Jacken ablegen?“
Beide lehnten dankend ab.
„Ich bin gespannt, was die Kriminalpolizei von mir möchte. Wie kann ich Ihnen helfen?“
Simon Maurer war 32 Jahre alt, von Beruf LKW-Fahrer, 1,72 Meter groß, sportliche und hatte eine sehr muskulöse Figur. Er trug eine dieser modernen Kurzhaar-Frisuren und war durchaus eine gepflegte, attraktive Erscheinung. Eigentlich nicht das, was Leo erwartet hatte. Anna hingegen schien sehr angetan, denn Maurer hatte zu seinem blendenden Aussehen nicht nur einwandfreie Manieren, sondern ein überaus charmantes Lächeln. Dazu roch phantastisch! Das war einer dieser modernen Männerdüfte, die ein Vermögen kosteten, aber in Annas Augen durchaus das Geld wert waren. Bereits zwei Mal hatte sie ihrem Stefan ein solches Parfum geschenkt. Aber er stand nicht auf Herrendüfte und die sündhaft teuren Flacons standen verschlossen im Badezimmer-Regal, wurden nicht beachtet und setzten nur Staub an.
„Wir ermitteln in einem Mordfall. Was sagt Ihnen der Name Karl Rauschberger, er wurde auch der Lehrer genannt? Hier ist ein Foto von ihm.“
„Absolut nichts, den Namen habe ich noch nie gehört. Auch das Gesicht sagt mir nichts.“ Er gab das Foto wieder zurück.
„Wo waren Sie am 9. Juli um ca. 15.00 Uhr?“
„Um Gottes willen! Ich brauche ein Alibi?“
„Bitte beantworten Sie meine Frage.“
„Lassen Sie mich überlegen. Am 9. Juli hatte ich eine Tour nach Süd-Frankreich. Ich hole schnell mein Notizbuch, da steht alles haarklein drin. Das mache ich schon seit Jahren so, weil ich mir schlecht Einzelheiten merken kann und das Finanzamt möchte immer alles genau wissen. Entschuldigen Sie bitte meine Unhöflichkeit. Möchten sie etwas trinken? Einen Kaffee vielleicht?“
Sie lehnten beide dankend ab. Simon Maurer holte aus dem Nebenzimmer ein rotes, ledergebundenes Notizbuch und blätterte darin.
„Klar war ich in Frankreich! Ich bin Sonntagabend 8. Juli um 22.00 Uhr losgefahren. Ziel war ein kleiner Ort vor Marseille. Dort habe ich termingerecht am Nachmittag abgeladen und bin am Mittwoch den 11.07. gegen 16.30 Uhr bei meinem Arbeitgeber auf den Hof gefahren. Bitteschön.“ Mit einem Lächeln beugte er sich zu Anna und reichte ihr das Notizbuch, wobei sie die Tätowierung auf dem muskulösen Oberarm entdeckte, die ihr sehr gefiel. „Bitte fragen Sie in der Firma nach, die können das bestätigen.“
„Wo waren Sie gestern Abend nach 17.00 Uhr?“
„Im Schützenhaus. Gestern war Vereinssitzung mit anschließendem Training. Ich war kurz nach 17.00 Uhr dort, das kann die Wirtin bestätigen. Ich ging erst nach Mitternacht. Da ich jetzt zwei Wochen Urlaub habe, konnte ich länger bleiben und auch mal ein Glas mehr trinken. Ich bin mit dem Taxi nach Hause, Quittung habe ich keine. Ich erinnere mich dass das Taxi die Nummer 66 hatte.“ Wieder lächelte er charmant.
„Das werden wir auf jeden Fall prüfen. Schreiben Sie uns bitte die Adresse Ihres Arbeitgebers und die Ihrer Vereinskammeraden auf.“
Simon Maurer notierte die Adressen mit sauberer Handschrift und gab Anna den Zettel, die ihm nun wiederum das Notizbuch zurückgab.
„Jetzt würde ich aber doch gerne wissen, was das hier soll und was ich mit der ganzen Sache zu tun habe.“
„Während einer Morduntersuchung sind Ihre Fingerabdrücke auf einem Messer aufgefunden worden und wir fragen uns natürlich, wie die da hinkommen.“
„Wie bitte? Ich verstehe nicht. Meine Fingerabdrücke? Das kann nicht sein.“
„Bei dem Messer handelt es sich um einen sogenannten Hirschfänger. Besitzen Sie solch ein Messer?“
„Ja sicher und zwar schon viele Jahre. Das Messer war ein Geschenk meines Großvaters zu meiner Konfirmation und sie können sich ausrechnen, wie lange das schon her ist. Den Hirschfänger habe ich noch nie benutzt, er liegt hier noch fabrikneu und in der Originalverpackung in der Schublade. Ein Andenken an meinen verstorbenen Großvater, von dem ich mich niemals trennen würde. Ab und zu nehme ich es heraus, sehe es mir an und denke an ihn, er war ein toller Typ. Eine Sentimentalität, ich weiß, aber ich kann eben nicht anders. Moment, ich zeige es Ihnen.“
Anna schmolz geradezu dahin, als sie die warmherzigen Worte hörte. Leo war das zuwider und ihn machte diese Geschichte eher misstrauisch. In seinen Augen war Maurer ein hervorragender Schauspieler.
Simon Maurer ging zum Wohnzimmerschrank und öffnete eine Schublade, kramte darin, fand aber offensichtlich nichts. Er öffnete die anderen Schubladen und suchte hektisch darin.
„Das gibt es doch nicht. Das Messer müsste hier sein. Es tut mir leid, ich kann es nicht finden. Aber es muss hier sein, ich verstehe das nicht. Erst vor ein paar Wochen habe ich es in den Händen gehabt.“ Simon Maurer war völlig verstört und verzweifelt, die Selbstsicherheit war verschwunden.
„Es hätte mich überrascht, wenn Sie es gefunden hätten. Ich bin mir ziemlich sicher, dass es bei uns liegt. Bitte verreisen Sie nicht und halten Sie sich zu unserer Verfügung.“
Anna und Leo ließen den überraschten Simon Maurer zurück und fuhren zu der angegebenen Adresse des Arbeitgebers, der Spedition Millthalter, da diese nur unweit von Maurers Wohnung entfernt war.
„Mein Name ist Leo Schwartz, Kripo Ulm, das ist meine Kollegin Anna Ravelli. Wer ist bei Ihnen für die Einteilung der Fahrer zuständig?“
Die kleine, dicke, ungepflegte Frau starrte die beiden an, sagte nichts, sondern zeigte auf einen älteren, übergewichtigen Mann mit Glatze, der gerade lautstark telefonierte. Sie warteten. Als der Mann aufgelegt hatte, traten sie an dessen Schreibtisch. Sie stellten sich abermals vor.
„Niederwinkler Alois, ich bin hier der Disponent. Mordkommission? Womit kann ich dienen?“
„Wir möchten von Ihnen wissen, wo Ihr Fahrer Simon Maurer am 09.07. gegen 15.00 Uhr war.“
„Der Simon war in Frankreich,“ kam es wie aus der Pistole geschossen. Alois Niederwinkler sprach in breitschwäbischen Dialekt. Er tippte auf der Tastatur seines Computers. „Die Fahrt war sehr lukrativ, ich kann mich noch sehr gut an den Auftrag erinnern: Aber das können wir uns gleich detailliert ansehen, denn unsere Lkws sind mit GPS ausgestattet, damit kann man alles lückenlos nachverfolgen. Hier habe ich die entsprechenden Daten, sehen Sie selbst.“
Leo las die Daten auf dem Bildschirm. Und tatsächlich: Simon Maurer war in Frankreich.
„Und das ist absolut sicher? Keine Manipulation möglich?“
„Noi, die Daten stimmen absolut. Simon war in Frankreich, daran gibt es keinen Zweifel.“
„Wer außer Ihnen hat noch mit der Einteilung der Fahrer zu tun?“
„Sie vermuten trotzdem eine Manipulation? Können Sie vergessen, außer mir teilt niemand die Fahrer ein. Das ist allein meine Arbeit, leider. Meine Kollegin, die sie vorhin kennenlernen durften, ist zu nichts zu gebrauchen. Entschuldigen Sie, aber die Wahrheit muss nun mal gesagt werden, auch wenn sie die Cousine vom Chef ist. Wir sind schon lange auf der Suche nach einer vernünftigen Arbeitskraft, aber das ist echt schwierig, Sie glauben nicht, wer sich hier vorstellt, wenn überhaupt jemand kommt. Diejenigen, die vom Arbeitsamt zu uns kommen wollen nur eine Bestätigung, dass sie sich vorgestellt haben. Und alle anderen Bewerber sind entweder ungeeignet oder absolut dämlich. Wenn Sie jemand wissen, schicken Sie ihn oder sie zu mir. Viele muss man nicht mitbringen. Wenn man lesen, schreiben und ein Telefon bedienen kann, und dann noch mindestens einen IQ im 2-stelligen Bereich hat, sind das schon super Voraussetzungen. Es wäre phantastisch, wenn ich beruflich etwas entlastet würde. Meinen letzten Urlaub hatte ich vor über drei Jahren. Jedes Jahr planen wir einen wunderschönen, gemeinsamen Urlaub, der dann doch ins Wasser fällt. Meine Frau glaubt schon nicht mehr daran.“
Leo mochte Alois Niederwinkler sofort, denn er war gerade heraus und hatte einen herrlichen hintergründigen Humor, den er sehr liebte. Noch stundenlang hätte er ihm zuhören können, aber das Telefon klingelte bereits wieder. Herr Niederwinkler verabschiedete sich und nahm das Gespräch entgegen, das jedoch schon beendet war, noch bevor sie aus der Tür draußen waren.
„Moment noch,“ rief Alois Niederwinkler ihnen hinterher, „ich kann mich daran erinnern, dass Simon während besagter Tour einen Strafzettel von den Franzosen kassiert hat. Fragen Sie ihn danach. So wie ich ihn kenne, hat der Strafzettel aufbewahrt. Ich bin ja davon überzeugt, dass diese Schneckenfresser regelrecht Jagd auf deutsche LKW machen. Die sind nicht nur sehr schnell mit ihren völlig überteuerten Strafzetteln, die natürlich an Ort und Stelle bezahlt werden müssen, sondern dazu auch noch sehr unfreundlich.“
Niederwinkler nahm kein Blatt vor den Mund.
Leo und Anna fuhren zurück ins Büro. Nach den Fingerabdrücken dachten sie eigentlich, dass sie den Fall sehr schnell abschließen konnten. Weit gefehlt. Der vermeintliche Täter hatte für die Tatzeit ein Alibi, und zwar ein absolut wasserdichtes. Trotzdem riefen sie bei Simon Maurer bezüglich des Strafzettels an, der ihnen dies bestätigte und tatsächlich noch das Original in seinen Unterlagen hatte. Er scannte den Strafzettel ein und sandte ihn per Mail an die Kripo. Wenige Minuten später hatten sie ihn in der Hand: An dem Alibi von Simon Maurer war wirklich nicht zu wackeln.
Auch die Aussagen der Vereinskammeraden bezüglich des gestrigen Abends waren einstimmig, auch der Taxifahrer konnte sich sofort an die Fahrt erinnern. Also konnte Maurer auch nicht in die Pathologie eingebrochen sein und dem Toten die Stichwunde zugefügt haben.
„So einen Blödsinn hatten wir bislang noch nicht. Das würde ja heißen, dass jemand nicht nur das Messer von Simon Maurer geklaut hat, sondern damit in die Pathologie eingebrochen ist und dem Toten Karl Rauschberger das Messer in den Leib gestoßen hat. Und das alles mit Handschuhen! Wer macht sich denn so eine Mühe?“
„Keine Ahnung, das ist mir auch ein Rätsel und ergibt für mich echt keinen Sinn. Es sieht fast so aus, als wollte jemand Simon Maurer absichtlich belasten. Der Mann ist ein sehr charmanter Mensch, das musst du zugeben. Schon die Stimme allein ist absolut sexy, ich könnte ihm stundenlang zuhören.“
„Was ist an dieser Stimme denn so besonders? Mir ist nichts aufgefallen. Und ich finde ihn nicht charmant, sondern aalglatt und schmierig.“
Leo war aufgefallen, dass Anna Maurer interessant fand. Er war einer dieser Typen, die bei Frauen gut ankamen und problemlos um den Finger winkelten. Ihm sind diese Männer sehr suspekt und daher war er ihnen gegenüber voreingenommen.
Das Telefon klingelte, Leo sprach nur wenige Worte.
„Der Chef möchte mich sprechen. Ich kann mir den Grund bereits denken.“
Sein Vorgesetzter Michael Zeitler war Christine Künstles Bruder und sie hatte ihn bestimmt schon informiert. Jetzt war er bestimmt sauer. Warum hatte sie ihm das nicht überlassen?
„Was geht in unserer Pathologie vor? Wer ist da eingebrochen und wer zum Teufel sticht auf eine Leiche ein und lässt das Messer liegen? Und warum werde ich davon erst über Umwege informiert?“
Ohne eine Begrüßung wurde Leo mit Fragen überhäuft, denn Michael Zeitler war kein Freund von langen Worten und überflüssigen Höflichkeitsfloskeln. Diese Umwege, von denen er sprach, hießen bestimmt Christine Künstle.
„Sorry, ich war eben auf den Weg zu Ihnen und wollte Sie informieren. Die Fingerabdrücke auf dem Messer konnten wir zuordnen, aber der Verdächtige hat ein wasserdichtes Alibi für den Mord und den Einbruch in die Pathologie. Er kann definitiv mit all dem nichts zu tun haben.“
„Dann machen Sie sich an die Arbeit und suchen Sie den Täter, und zwar so schnell wie möglich. Und ich rate Ihnen, davon nichts an die Presse durchsickern zu lassen. Was glauben Sie, was los ist, wenn das an die Öffentlichkeit gerät?“ Zeitler malte sich in den schillerndsten Farben aus, wie ihn die Presse belästigte und wie er sich auch bei seinen Vorgesetzten und vor dem Innenministerium rechtfertigen und erklären musste. Nein, das durfte nicht geschehen.
Für Zeitler war alles besprochen und mit einer Handbewegung entließ er Leo.
Leo und Anna nahmen sich nochmals das Umfeld und das frühere Leben des Opfers Karl Rauschberger vor. Zum Glück meldete sich nun endlich eine Realschule in Kirchentellinsfurt bei Tübingen, die bis vor 18 Jahren einen Karl Rauschberger beschäftigt hatte. Die Recherchen diesbezüglich liefen aber ins Leere: Er war ledig, hatte keine Kinder und keine näheren Verwandten. Zu früheren Kollegen hatte er keinen engeren Kontakt. Er galt als verschlossen und schüchterner Menschen, der seinerzeit aus persönlichen Gründen gekündigt hatte.
Die Polizei recherchierte vor Ort bei der letztgenannten Anschrift in Wannweil, aber auch hier bekamen sie eine negative Auskunft: Niemand konnte sich an Karl Rauschberger erinnern. Auch bei Versicherungen, Banken und Vereinen gab es von Rauschberger von einem auf dem anderen Tag keine Spur mehr. Verträge und Konten waren von ihm gekündigt worden. Es gab aus den Unterlagen nicht den kleinsten Hinweis oder Anhaltspunkt auf seinen weiteren Aufenthaltsort. Keine Adresse, keine Telefonnummer, noch nicht einmal ein Postfach. Nichts, absolut nichts. Als ob es diesen Menschen ab einem gewissen Zeitpunkt vor über 18 Jahren nicht mehr gegeben hätte. Für Leo war diese Tatsache nur schwer zu ertragen. Er konnte sich nicht vorstellen, dass es niemanden gäbe, der einen vermissen würde, wenn man nicht mehr da wäre. Karl Rauschberger würde in einem anonymen Grab auf billigste Art und Weise beerdigt werden und kein Mensch würde sich je an ihn und seinen Namen erinnern. Einfach schrecklich, und das in unserer heutigen, total vernetzten und überwachten Zivilisation. Er rief in der Pathologie an und gab den Leichnam zur Bestattung frei. Auch Christine, die den Anruf entgegennahm, wusste, was das zu bedeuten hatte und ihre Gedanken waren ähnlich gelagert. Aber es half nichts, so war nun mal das System und es gab Vorschriften, wie man in einem solchen Fall zu verfahren hatte.
Leo legte den Akt zu den unerledigten Fällen und nahm sich fest vor, diesen Fall nicht aus den Augen zu verlieren, denn der ging ihm ziemlich an die Nieren. Er fuhr nach Hause und löste unterwegs sein Versprechen bei den Obdachlosen ein, die sehr überrascht waren, als sie ihn und den Kasten Bier sahen.
Bei der Beisetzung zwei Tage später auf dem Ulmer Friedhof war neben Leo auch Christine gekommen, obwohl sie sich vorher nicht abgesprochen hatten.
„Was tust du denn hier?“ Leo könnte diese herzensgute Frau küssen.
„Sentimentalität,“ war die knappe Antwort, aber Leo verstand sie auch ohne weitere Erklärungen.
Die Zeremonie war trotz allem sehr schön und rührend, denn der junge Pfarrer fand genau die richtigen Worte. Trotzdem war diese Beerdigung anders als alle anderen. Es gab keine Blumen, keine Kränze und keine Grabreden. Es gab niemanden, der auch nur eine Träne vergoss und den Verlust des Mannes betrauerte. Nach knapp 20 Minuten war alles vorbei. Die Urne wurde in die Erde gesetzt und mit Erde bedeckt. Diese Bestattung wurde anonym als Baumbestattung vorgenommen, was für Leo und Christine völlig neu war.
„Hast du gewusst, was eine Baumbestattung ist? Ich kenne nur die Friedwälder und habe mir selbst einen solchen schon angesehen, denn ich möchte später niemanden mit der Pflege meines Grabes belasten.“
„Von diesen Baumbestattungen habe ich erst vor kurzem in der Tageszeitung gelesen, die sind eine Alternative zu den Friedwäldern. Die kompostierbare Urne wird dabei einfach an einem Baum vergraben, wofür die Friedhofsverwaltung einige Bäume freigegeben hat. Ich finde, das ist eine tolle Sache. Aber mach dir keine Sorgen Christine, ich würde mich gerne um dein Grab kümmern.“
„Jaja, das sagst du jetzt. Wer sagt denn, dass ich vor dir sterbe? So viel älter bin ich nun auch wieder nicht. Ich bin noch topfit und werde euch alle überleben. Warum warst du eigentlich hier? Hast du darauf gehofft, dass der Täter hier auftaucht?“
„Nein, eigentlich nicht. Ich war nur hier, weil ich mir sicher war, dass zu der Beisetzung niemand kommt, der Gedanke daran hatte mir keine Ruhe gelassen. Und da ich Zeit hatte, bin ich eben hergefahren.“
Christine kommentierte das nicht weiter, hakte sich bei Leo unter und sie gingen zu ihrem Lieblings-Italiener.
Das Wochenende stand vor der Tür und Leo freute sich riesig darauf, wieder einmal über seine geliebte Schwäbische Alb zu wandern. Er fand immer wieder Ecken und Winkel, die er noch nie gesehen hatte und wo er kaum jemanden begegnete. Ganz früh morgens packte er seinen Rucksack. Nachdem er nach einer halben Stunde Fahrt gerade noch rechtzeitig einen verstecken Parkplatz von der Straße aus ausmachen konnte, parkte er und lief los. Das Wetter heute würde phantastisch werden. Die Vögel pfiffen und er konnte sogar einiges Rotwild entfernt beobachten; einfach herrlich. Der Herbst war noch in weiter Ferne. Noch vor dem Winter würde er noch einige Male auf der Alb wandern können, sofern ihm das Wetter und seine Arbeit keinen Strich durch die Rechnung machten. Er liebte das Wandern über die Schwäbische Alb. Hier konnte er seine Gedanken ordne, in Ruhe nachdenken, Kraft tanken und so richtig abschalten…
Loris C. –
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Tim S. –
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