Der 23. Fall aus der Leo-Schwartz-Krimireihe
2. überarbeitete Auflage 2020
1.
Ursula Kußmaul hatte die Party verlassen, sie langweilte sich zu Tode. Nur oberflächliches Geplänkel und Dummköpfe mit Profilierungsneurosen, mit denen sie sich gerne gestritten hätte, es aus Rücksicht auf die Gastgeberin aber unterließ. Mit Alkohol wäre das alles vielleicht noch erträglich gewesen – aber ohne? Sie würde gerne ein Glas trinken, aber sie war müde, außerdem musste sie noch fahren. Nachdem Ursula wieder und wieder durch den riesigen Raum gegangen war und nach einem halbwegs normalen Gesprächspartner gesucht hatte, gab sie entnervt auf. Nein, das würde heute nichts mehr werden. Ob es an ihr selbst lag? Es mag möglich sein, dass sie heute schlecht drauf war. Vielleicht war der Tag für sie gelaufen und es war mühselig, sich hier auf Biegen und Brechen amüsieren zu müssen. Sie hatte genug und wollte einfach nur nach Hause.
Ursula suchte nach ihrer Freundin Dagmar, um sich von ihr zu verabschieden. Dagmar schmiss die Party anlässlich ihres vierzigsten Geburtstages, auch wenn die Dekoration eher einem Kindergeburtstag glich, was durch die schrecklich laute Schlagermusik unterstrichen wurde. Wie oft „Atemlos“ lief, konnte Ursula schon nicht mehr zählen. Was fanden alle nur an dem Song, dem sie überall ausgesetzt war?
Dagmar war bester Laune. Sie lachte und schien sich mit den Leuten um sich herum blendend zu unterhalten, was bei dem Lärm schier unmöglich war. Ursula brauchte lange, bis Dagmar endlich verstand. Sie reagierte enttäuscht, was zu erwarten war. Klar versuchte sie, Ursula zum Bleiben zu überreden, aber die blieb stur. Nachdem Dagmar wegen der lauten Musik fast ununterbrochen auf sie einschrie, drehte sich Ursula irgendwann um und ging einfach.
Draußen sog sie die frische Luft der Augustnacht ein, was nach dem heißen Tag und der stickigen Luft im Inneren des Partyraumes eine Wohltat war.
Die Fahrt quer durch Ulm war sehr angenehm, es war kaum Verkehr. Sie lehnte sich zurück und lauschte der ruhigen Musik im Radio, was nach dem fürchterlichen Krach für ihre Ohren wie eine Wellnesskur war. Der heutige Tag war stressig gewesen, auch wenn er perfekt gelaufen war. Die Vernehmung des Täters war reine Routine, der Mann hatte ohne Punkt und Komma geplappert; und zwar viel mehr, als nötig gewesen wäre. Auf die ausführlichen Beschreibungen der Gespräche zwischen Täter und Opfer, die nicht unmittelbar mit der Tat zu tun hatten, hätte sie gerne verzichten können. Trotzdem lief alles wie am Schnürchen. Zum Glück hatte sie Dagmars Geburtstagsparty hinter sich gebracht. Jetzt freute sie sich auf ein Gläschen Sekt und ein paar Pralinen, die im Kühlschrank auf sie warteten.
Sie fuhr auf der Neuen Straße. Schon von Weitem sah sie einen Wagen, der mit weit offenstehenden Türen schräg rechts neben der Fahrbahn stand. Davor stand noch ein Wagen, der ähnlich schief stand und an dem ebenfalls die Türen geöffnet waren. Was sollte das? Auch wenn um diese Uhrzeit nicht viel Verkehr war, war es nicht hinnehmbar, dass hier so chaotisch geparkt wurde. Früher war sie nicht so streng, aber je länger sie ihren Job bei der Polizei ausübte, desto pedantischer wurde sie. Oder lag es einfach nur daran, dass sie schon lange keinen Urlaub mehr gehabt hatte?
Ursula verminderte das Tempo und kam langsam näher. Sie entschied, sich das näher anzusehen und dafür zu sorgen, dass die Fahrzeuge weiterfuhren. Plötzlich tauchte eine Frau auf der Fahrbahn auf und sprang ihr vor den Wagen. Ursula bremste scharf und registrierte erleichtert, dass der Frau offenbar nichts passiert war, denn sie lief einfach weiter. Die Frau versuchte, über die Fahrbahn zu rennen. Konnte es sein, dass sie barfuß war? Was, zum Teufel, war hier los? War das eine Beziehungsgeschichte, wie sie viel zu oft vorkam? Irgendetwas sagte ihr, dass das hier etwas anderes war. Aber was?
Sie stellte ihren Wagen ab, stieg aus, schaltete die Warnblinkanlage ein und ging auf die beiden Fahrzeuge zu.
Bei dem einen handelte es sich um einen schwarzen Geländewagen, der andere war ein gelber Sportwagen, der sicher ein Vermögen gekostet hatte. Noch bevor sie sich die Kennzeichen näher ansehen konnte, stand plötzlich ein Mann vor ihr und versperrte ihr den Weg. Sie beobachtete im Augenwinkel, wie die flüchtende Frau auf der Gegenfahrbahn von zwei Männern eingefangen und gegen ihren Willen in den gelben Sportwagen gesetzt wurde.
Die ganze Situation war unwirklich und Ursula bekam es mit der Angst zu tun. Vermutete sie richtig? Wurde hier eine Frau mit Gewalt festgehalten? Mitten in Ulm? Sie sammelte all ihren Mut zusammen und zog ihren Ausweis aus der Tasche, den sie dem riesigen Kerl vorhielt.
„Kriminalpolizei. Ihre Ausweispapiere bitte.“
Der Riese grinste sie nur an. Dann trat ein anderer an ihre Seite, während der dritte Mann telefonierte. Der Typ sprach nicht laut. Aber wie er sprach, klang überhaupt nicht gut. Der Mann war sicher der Fahrer des Sportwagens, denn rein optisch passte er mit dem dunklen, sportlichen Anzug und der Brille auf dem pomadigen Haar genau dazu.
„Ihre Ausweispapiere, und zwar von allen, wenn ich bitten darf“, wiederholte Ursula laut und versuchte, selbstbewusst aufzutreten.
Aber die Männer lachten nur. Nun kam der Sportwagen-Fuzzi ebenfalls hinzu. Er sah sie nur an, was ihr einen Schauer über den Rücken laufen ließ. Warum hatte sie überhaupt angehalten? Ihr Chef hatte verboten, irgendwelche Aktionen allein durchzuziehen, zumal sie nicht einmal bewaffnet war. Ihre Waffe lag verschlossen in ihrem Schreibtisch, schließlich konnte sie damit nicht auf der Party auftauchen.
Dann hielt ein Wagen neben ihr. Gott sei Dank – die Polizei! Ursula erkannte die Zivilfahrzeuge der Polizei sofort. Erleichtert versuchte sie, den Kollegen die Situation zu erklären, aber die interessierte das nicht. Sie wurde gepackt und unsanft in den Fond des Wagens gesetzt. Was sollte das? Während beide Kollegen mit dem Sportwagen-Typen sprachen, kramte sie hektisch in ihrer Tasche und suchte nach ihrem Handy. Warum war immer so viel Zeug in ihrer Tasche? Endlich hatte sie das Handy gefunden und wählte die Nummer ihrer Kollegin. Anna ging nach dem ersten Klingeln ran. Ursula konnte ihr gerade noch mitteilen, dass sie offensichtlich verhaftet wurde und dass sie den Chef informieren soll. Dann wurde die Wagentür aufgerissen und einer der Polizisten, der jetzt, wie sein Kollege auch, eine Maske trug, nahm ihr das Handy und die Tasche ab. Als wäre das nicht schon genug, bekam sie auch noch Handschellen und eine Augenbinde verpasst. Das geschah alles so schnell, dass Ursula kaum reagieren konnte. Und dann ging es auch schon los. Der Fahrer drückte aufs Gas.
„Könnt ihr mir erklären, was das soll? Ich verlange auf der Stelle mein Handy zurück. Ich arbeite bei der Ulmer Kriminalpolizei und kann euch so richtig Ärger machen. Glaubt mir, ihr werdet das noch bitter bereuen! Ihr stoppt sofort den Wagen und lasst mich raus!“ Ursula redete und redete, aber beide Männer sagten kein Wort. Sie versuchte es mit Provokationen und Beleidigungen, aber auch das funktionierte nicht. „Könnt ihr mich wenigstens von den Handschellen befreien? Die Dinger schmerzen, ich kann mich kaum bewegen.“ Das entsprach der Tatsache, aber auch hierauf reagierten die Männer nicht. Ursula gab nicht auf. Sie redete unvermittelt weiter, was den Männern immer mehr auf die Nerven ging. Wie lange würde sie brauchen, bis einer der beiden austickte? Und warum trugen die beiden Masken, obwohl sie sie vorhin ohne gesehen hatte? Sie zwang sich dazu, sich jedes Detail der beiden einzuprägen, um sie später identifizieren zu können. Die würden ihr blaues Wunder erleben, wenn sie wieder frei war und sich alles auflöste. Hatten die Männer nicht verstanden, dass sie von der Polizei war?
Nach über einer Stunde Fahrt stoppte der Wagen. Einer der Männer zog sie vom Sitz und schob sie unsanft auf einen harten Untergrund. Dann hörte sie, wie Türen geschlossen wurden. Das war das Heck eines Lieferwagens, ganz sicher. Das Geräusch des Motors, der gestartet wurde, passte genau dazu. Was sollte der Mist? Wo waren sie? Sie konnte wegen der Augenbinde nichts sehen, konnte aber deutlichen Verkehrslärm hören. Sie mussten sich in der Nähe einer vielbefahrenen Straße aufhalten. Wo genau, konnte sie nicht erahnen. Der Lieferwagen fuhr los und sie saß einsam auf dem nackten Boden eines Lieferwagens. Anfangs wurde sie unsanft hin und her geschleudert, dann ging es zum Glück nur noch geradeaus. Ursula bekam es mit der Angst zu tun. Der Wagen auf der Neuen Straße war eindeutig ein Zivilfahrzeug der Polizei – oder irrte sie sich? Waren die beiden Männer keine Polizisten? Waren das Mädchenhändler und sie war in deren Fänge geraten? Warum hatte sie angehalten und nicht Verstärkung gerufen, wie es Vorschrift gewesen wäre? Sie schrie und weinte, schließlich weinte sie nur noch. Die Fahrt ging unvermittelt weiter.
Der Wagen verminderte seine Geschwindigkeit und bog ab, wodurch Ursula erneut unsanft gegen die Wand geschleudert wurde. Wie lange waren sie unterwegs gewesen? Eine halbe Stunde? Zwei Stunden? Sie hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Dann hielt der Wagen an und nichts geschah. Was war los? Ursula hörte, wie ein Mann telefonierte und rückte näher, um irgendein Wort aufschnappen zu können. War das einer ihrer Entführer?
„Wir sind kurz vor unserem Ziel. Wir sind…“
„Ich möchte das überhaupt nicht wissen.“
„Wie du willst.“
„Hat euch jemand gesehen? Gab es Komplikationen?“
„Nein. Alles lief nach Plan.“
„Passt gut auf die Frau auf, damit sie keinen Unfug anstellen kann.“
„Mir ist nicht ganz wohl bei der Sache. Die Frau ist eine Kollegin. Wir können sie nicht einfach festhalten.“
„Das weiß ich auch! Trotzdem hat sie nicht nur die Fahrzeuge, sondern auch die Männer gesehen. Polizisten haben ein geschultes Auge für Details. Wir müssen verhindern, dass sie plaudert. Und das geht nur, wenn sie aus dem Weg ist.“
„Kannst du mir nicht sagen, worum es geht?“
„Nein, du musst mir vertrauen. Du vertraust mir doch, oder?“
„Selbstverständlich. Du weißt, was du tust.“
„Ich danke dir. In zwei Tagen ist alles über die Bühne und die Gefahr ist vorbei. Dann setzt sie irgendwo in der Pampa aus. Habt ihr darauf geachtet, dass sie euch nicht erkannt hat?“
„Sicher, wir sind keine Anfänger. Trotzdem habe ich Bauchschmerzen bei der Sache. Sie arbeitet bei der Kripo und wird vermisst werden.“
„Lass das mal meine Sorge sein. Ich streue das Gerücht, dass sie in Stadelheim einsitzt. Das wird diejenigen beschäftigen, die nach ihr suchen. Außerdem werde ich die Ulmer Kripo an die kurze Leine legen.“
„Gut. In zwei Tagen melde ich mich wieder.“ Der kurze Moment, in denen die Kollegin ihre Gesichter gesehen hatte, war nicht wichtig. Um eine Beschreibung abgeben zu können, war es zu dunkel gewesen, außerdem ging alles sehr schnell. Und dass die Kollegin telefoniert hat, verschwieg er auch. Was hatte die Frau in der kurzen Zeit schon groß weitergeben können?
2.
Leo Schwartz wurde mitten in der Nacht aus dem Schlaf gerissen. Das ständige Läuten seines Handys versuchte er zu ignorieren, schließlich hatte er Urlaub und den hatte er sich redlich verdient. Seit dem letzten Fall war endlich Ruhe eingekehrt, wodurch er und seine Kollegen nicht nur aufgelaufene Überstunden, sondern auch den Resturlaub der letzten Jahre abbauen konnten. Leo hatte sich zuerst gemeldet und kam den anderen zuvor. Das war zwar nicht ganz fair, aber er war fix und fertig. Er freute sich auf die freien Tage, die er nur mit Schlafen, Lesen und ausgedehnten Spaziergängen verbringen wollte. Er zog die Bettdecke über den Kopf. Dieses verdammte Handy läutete fast ununterbrochen. Wütend sah er auf die Uhr: drei Uhr zweiundvierzig. Was sollte der Mist? Alle wussten, dass er Urlaub hatte. Dann stand er auf und suchte nach seinem Handy, das in der Küche neben der Spüle lag.
„Was?“, schrie er wütend.
„Komm sofort her, wir brauchen dich hier.“
„Christine? Was ist passiert?“ Leo hatte die Stimme sofort erkannt.
„Logisch bin ich es, hast du meine Nummer nicht erkannt?“
Sollte Leo zugeben, dass er nun auch eine Brille brauchte, da die Buchstaben und Zahlen immer kleiner wurden und seine Arme nicht mehr ausreichten, um alles entziffern zu können? Nein, das schien nicht der richtige Zeitpunkt zu sein. Es musste etwas Schlimmes passiert sein, sonst würde ihn seine Freundin und frühere Ulmer Kollegin nicht um diese Uhrzeit anrufen. Die dreiundsechzigjährige Pathologin war im Ruhestand und die beiden sahen sich sporadisch, nachdem sie seit seiner Versetzung ins bayerische Mühldorf am Inn rund zweihundertfünfzig Kilometer trennten.
„Wann bist du hier?“ Für Christine war es keine Frage, ob Leo nach Ulm kommen würde, das stand für sie fest.
„Was ist passiert?“ Leo war hellwach.
„Ursula wurde verhaftet, sie sitzt in Stadelheim in U-Haft. Die Ulmer Kollegen und mein Bruder haben alles versucht, sie da rauszuholen, aber das ist nicht gelungen. Es wurde den Kollegen sogar verboten, sich in die Sache einzumischen. Dir wurde nichts verboten und nur du kannst ihr helfen.“
Christine klang verzweifelt. Leo kannte die Frau schon sehr lange und er hatte sie nur selten so reden hören.
„Willst du mir sagen, dass auch dein Bruder als Ulmer Polizeichef nichts tun kann?“
„Ja. Hast du mir nicht zugehört? Die arme Ursula sitzt hinter Gittern und uns sind die Hände gebunden. Du musst herkommen und ihr helfen. Hol sie da raus, Leo, und zwar so schnell wie möglich.“
„Was, zum Henker, hat Ursula angestellt?“
„Das weiß ich nicht, das weiß niemand. Uns ist lediglich bekannt, dass sie verhaftet wurde und in Stadelheim in U-Haft sitzt, mehr nicht.“
„Ihr kennt die Anklage nicht? Was sagt ihr Anwalt?“
„Es darf niemand zu ihr.“
„Bitte? Das ist gesetzwidrig, das geht nicht.“
„Das weiß ich auch. Mach dich auf den Weg, ich erwarte dich.“
Leo zog sich rasch an und rief seinen Kollegen Werner Grössert an, der als junger Familienvater über den nächtlichen Anruf nicht gerade erfreut war. Als Leo ihm erklärte, worum es ging, war der Ärger rasch verflogen. Auch der einundvierzigjährige Werner kannte Ursula Kußmaul und mochte sie.
„Ich rufe sofort meinen Vater an. Halt mich auf dem Laufenden.“
„Danke, Werner.“
Auch Werners Vater, der Mühldorfer Rechtsanwalt Doktor Wilhelm Grössert, war über den Anruf seines Sohnes erbost. Es dauerte sehr lange, bis er den Grund verstand.
„Du willst mir sagen, dass eine Kriminalbeamtin in U-Haft sitzt und niemand zu ihr darf? Noch nicht einmal ein Anwalt, auf den jeder Bürger ein Anrecht hat?“ Doktor Grössert war mit Leib und Seele Anwalt. Er hasste es, wenn Dinge nicht so abliefen, wie sie laufen sollten.
„Ja. Und niemand weiß, was ihr vorgeworfen wird, noch nicht einmal der Ulmer Polizeichef.“
„Das wollen wir doch mal sehen. Sie sitzt in Stadelheim?“
„Ja.“
„Ich kümmere mich darum und melde mich wieder bei dir. Grüße an deine Frau und meine reizende Enkeltochter.“
Leo fuhr durch die frische Augustnacht. Nach vielen Wochen waren die Temperaturen für Leo endlich wieder erträglich. Er mochte Hitze nicht, zumal er sich regelmäßig einen Sonnenbrand holte. Seit gestern hatte er Urlaub und gerade rechtzeitig hatte es angefangen, zu regnen. Dabei sanken die Temperaturen um über zehn Grad, was für ihn eine Wohltat war.
Es war nur wenig Verkehr und Leo kam rasch voran. Was hatte die verrückte Ursula Kußmaul angestellt? Sie war frech und ihr loses Mundwerk war gefürchtet, das wusste jeder. Aber sie war nicht boshaft und würde nie etwas Ungesetzliches machen, dafür liebte sie ihren Beruf als Polizistin viel zu sehr. Er hatte Ursula während seines letzten Falles in Ulm kennengelernt, bevor er strafversetzt und zurückgestuft wurde. Der Versetzung ging eine missglückte Falle voraus, was er als Leiter der Ulmer Mordkommission auf seine Kappe genommen hatte. Anfangs mochte er die laute, schrille und in seinen Augen verrückte Ursula Kußmaul nicht. Es dauerte nicht lange und er änderte seine Meinung, denn sie hatte das Herz auf dem rechten Fleck und er konnte sich voll und ganz auf sie verlassen. Der Gedanke, dass mit ihr etwas geschah, das er vielleicht auch nicht verhindern konnte, gefiel ihm nicht. Es musste etwas Gewichtiges vorgefallen sein, sonst hätte zumindest Zeitler als Ulmer Polizeichef seinen Einfluss geltend machen und sie da rausholen können. Und wenn ihm das nicht gelungen wäre, dann hätte er zumindest die Anklage längst auf dem Tisch.
Sonst freute sich Leo schon Tage vorher, wenn er wieder nach Ulm fahren konnte und Zeit mit Freunden und ehemaligen Kollegen verbringen konnte. Aber heute war es anders. Er registrierte kaum, dass er das Ortsschild Ulm hinter sich gebracht hatte, bei dem er sonst immer einen Freudenschrei ausstoß.
Kurz vor sieben Uhr war Leo vor Christines Haus angekommen. Noch bevor er klingelte, wurde die Tür geöffnet.
„Endlich bist du da“, sagte Christine erleichtert und drückte den zweiundfünfzigjährigen Freund an sich. „Komm rein, die anderen warten bereits.“
„Die anderen?“
„Denkst du, ich bin die einzige, die sich Sorgen macht? Selbstverständlich sind Anna, Stefan und mein Bruder auch hier. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als uns heimlich bei mir zu treffen. Eine Schande ist das!“
Leo betrat das Wohnzimmer. Dort saßen der Ulmer Polizeichef und Christines Bruder Michael Zeitler, die frühere Kollegin Anna Ravelli und Stefan Feldmann, Leiter der Ulmer Spurensicherung und Annas Lebenspartner. Die Begrüßung fiel heute sehr knapp aus, allen war die Anspannung ins Gesicht geschrieben. Die Stimmung war sehr gedrückt, sie machten sich Sorgen.
Leo ließ sich nochmals ausführlich die aktuelle Situation schildern, wobei er nichts Neues erfuhr.
„Die Staatsanwaltschaft hat der Polizei jegliche Einmischung und den Kontakt zu Ursula verboten?“
„Ja, das Innenministerium hat das abgesegnet. Und das ist es, was mir nicht gefällt. Ich zermartere mir das Hirn, was passiert sein könnte, komme aber auf keinen Nenner. Wir wissen alle, dass die Kollegin Kußmaul nicht gerade zurückhaltend ist, aber sie arbeitet immer korrekt.“ Michael Zeitler war am Ende. „Alle Stellen mauern. Offenbar wurde eine Informations- und Kontaktsperre verhängt, die ebenfalls direkt von der Staatsanwaltschaft Ulm kommen muss. Ich kenne den Oberstaatsanwalt Doktor Beilinger persönlich und habe ihn sofort angerufen, leider vergeblich. Er hat einen Termin in Frankreich und ist nicht zu sprechen, ich habe alles versucht.“
„Hat der Mann keine Vertretung?“
„Selbstverständlich. Ich habe mehrmals um ein persönliches Gespräch gebeten, wurde aber nur vertröstet. Man versprach mir, genauere Erkundigungen einzuziehen und sich wieder bei mir zu melden. Ich bin mir sicher, dass ich auf einen Rückruf ewig warten kann. In drei Tagen wird Doktor Beilinger zurückerwartet, dann knöpfe ich mir den Mann persönlich vor. Bis dahin sind wir auf uns allein gestellt.“
„Wie kann ich helfen? Was habt ihr euch vorgestellt?“
„Uns sind die Hände gebunden, wir dürfen in der Sache nichts unternehmen. Man hat mir deutlich mitgeteilt, dass man der Ulmer Polizei auf die Finger schaut und jeden unserer Schritte beobachtet. Ich befürchte sogar, dass unsere Telefone abgehört werden.“
„Das glaube ich nicht, das kann ich mir nicht vorstellen“, rief Leo.
„Als ich die Anweisung bekam, konnte ich das auch nicht fassen. Und wenn ich ehrlich bin, kann ich das immer noch nicht glauben und werde wütend, wenn ich daran denke. Wir sollten diese Anweisung ernst nehmen. Wir müssen höllisch aufpassen, wenn wir uns unterhalten. Wir werden uns außerhalb des Polizeipräsidiums nur heimlich treffen können, was nur bei Christine möglich ist. Ich als ihr Bruder falle nicht auf, wenn ich meine Schwester besuche. Ich fahre meinen Wagen in die Garage und die Kollegen können erst dort aussteigen, so weit sind wir schon!“ Der Ärger war Zeitler anzumerken, er schäumte fast vor Wut. „Ich komme mir wie ein Schwerverbrecher vor, der sich vor der Polizei verstecken muss, dabei gehören wir selbst dazu. Wie krank ist das denn? Aber momentan bleibt uns nichts anderes übrig, als uns so zu verhalten, weshalb ich Christine bat, Sie anzurufen und um Hilfe zu bitten. Wir können nicht tätig werden, Sie aber schon. Wenn ich nur wüsste, in welchen Schlamassel die Kollegin Kußmaul geraten ist, was solch eine Reaktion verursacht.“
„Warum Stadelheim?“
„Keine Ahnung, das verstehen wir auch nicht. Die Staatsanwaltschaft hat uns das ebenfalls nicht erklären können.“
„An welchem Fall arbeitet Ursula momentan?“
„Ich habe alle Fälle der letzten Jahre zusammengepackt und mitgebracht. Der Chef hat dafür gesorgt, dass niemand davon erfährt.“ Anna Ravelli zeigte auf einen Stapel Unterlagen, die auf der Anrichte lagen. Leo kamen diese bekannt vor. Die Farben und die Art der Einbände hatte er vor Jahren selbst eingeführt.
„Gut, die Unterlagen nehmen wir uns gleich vor. Wann habt ihr Ursula zuletzt gesehen?“
„Wir haben gestern einen Mordfall abgeschlossen, der wie im Lehrbuch ablief. Ein Mord aus Eifersucht, der Täter war geständig. Nach dem gestrigen Verhör haben wir den Schriftkram erledigt, gegen dreiundzwanzig Uhr war Feierabend. Ursula wollte noch auf eine Party, dort blieb sie bis kurz nach zwei. Sie hat mich angerufen und mir mitgeteilt, dass man sie verhaftet hat. Das Gespräch brach abrupt ab. Sie bat mich, den Chef zu informieren, was ich natürlich sofort gemacht habe.“
„Ich habe meine Kontakte spielen lassen und habe nach Stunden lediglich die Information bekommen, dass sie nach Stadelheim gebracht wurde und in U-Haft sitzt. Den Rest wissen Sie bereits.“
„Was schlagt ihr vor?“
„Die Party fand in der Goethestraße statt. Ursula ist direkt vom Polizeipräsidium aus dort hingefahren und blieb bis kurz nach zwei, das bestätigen die Handydaten und die Gespräche mit einigen Partygästen. Nach zwei Uhr war Ursulas Handy hier, hier und hier eingeloggt, woraus wir schließen können, dass sie direkt nach Hause wollte.“ Stefan Feldmann zeigte auf der Karte die markanten Punkte. „Sie fuhr auf der Neuen Straße. Zwischen Gänslände und Gideon-Bacher-Straße wurde das letzte Signal aufgenommen, danach nicht mehr. Der Anruf an Anna kam von hier. Vermutlich wurde ihr Handy dann ausgeschaltet.“
„Du meinst, dort muss sie verhaftet worden sein?“
„Keine Ahnung. Ich kann dir nur sagen, wo ihr Handy zuletzt eingeloggt war.“
„Sonst noch etwas? Wenn nicht, fahre ich jetzt in die JVA Stadelheim und spreche mit Ursula.“
„Denken Sie, dass das so einfach geht? Die lassen niemanden zu ihr, vor allem keine Polizisten. Wenn selbst die Familie und ein Anwalt nicht zugelassen werden, dann stehen Ihre Chancen, mit ihr zu sprechen, denkbar schlecht.“ Zeitler schüttelte enttäuscht den Kopf. Hatte der Mann nicht zugehört?
„Warum sollten sie mich nicht zu ihr lassen? Ich arbeite nicht mehr bei der Kripo Ulm.“
„Trotzdem bist du ein Polizist, dein Name ist doch bekannt.“ Auch Christine war über die naive Art ihres Freundes enttäuscht.
„Sie hätten sich früher nicht so viele Eskapaden leisten dürfen, der vermeintliche Ruhm ist jetzt die Quittung dafür“, brummte Zeitler. „Wir haben Sie kontaktiert, damit Sie so diskret wie möglich die Ermittlungen aufnehmen. Es steht außer Frage, dass wir Sie darin tatkräftig unterstützen. Dabei müssen wir selbstverständlich sehr vorsichtig vorgehen. Und damit meine ich vor allem Sie, Schwartz. Sie haben mich früher den letzten Nerv gekostet und ich hoffe, dass Ihnen die bayerischen Kollegen wenigstens etwas die Flügel stutzen konnten. Scherz beiseite. Wenn von Seiten der Justiz so gemauert wird, ist die Sache mit der Kollegin Kußmaul sehr heikel. Ich finde Ihren Vorschlag, mit ihr zu sprechen zu wollen, unter den gegebenen Umständen äußerst dämlich. Dadurch erfährt man doch sofort, dass Sie in die Sache involviert sind und geraten auch auf die Liste derer, die für den Schlamassel verantwortlich sind. Ich vermute, dass an der Sache sehr viel mehr dran ist, wir müssen vorsichtig sein.“
„Gut, dann kein Gespräch mit Ursula. Ich verspreche, dass ich es nicht versuchen werde. Warten wir ab, was der Anwalt erreicht, den ich engagiert habe. Doktor Grössert ist ein harter Hund. Außerdem hat er sehr gute Beziehungen. Ich bin mir sicher, dass er etwas herausfinden wird.“
„Ich verlasse mich auf Sie. Wenn Sie sich nicht daran halten, garantiere ich für nichts. Wir dürfen Frau Kußmaul nicht gefährden. Ich schlage vor, dass wir private Handynummern austauschen und nur darüber kommunizieren. Verfügen alle über ein solches?“
„Ich habe nur ein Diensthandy“, sagte Stefan, der kein Freund der ständigen Erreichbarkeit war. Zeitler griff in die Tasche und übergab ihm ein Smartphone und die dazugehörige Nummer. Alle tauschten die Nummern aus.
„Nur Gespräche und Informationen ausschließlich über diese Nummern. Treffen und Gespräche den Fall betreffend nur unter strengster Geheimhaltung. Außerdem versteht es sich von selbst, dass außer uns niemand eingeweiht wird. Die Sache mit dem Anwalt lasse ich gerade noch durchgehen“, Zeitler sah Leo strafend an. „Wir müssen nach außen den Eindruck erwecken, dass wir uns alle an die Anweisungen halten und uns nicht um die Kollegin Kußmaul kümmern.“
„Ist diese ganze Geheimhaltung nicht völlig übertrieben?“, sagte Leo, woraufhin ihn alle anstarrten.
„Mag sein, dass das so ist. Solange wir nicht wissen, wo Ursula ist und was ihr vorgeworfen wird, werden wir alles tun, was von uns verlangt wird. Hast du verstanden?“ Christine sprach ruhig und sah Leo dabei an.
„Alles klar, ich habe verstanden. Ich mache mich sofort an die Arbeit. Eine Frage habe ich noch: Von wem bekamen Sie Ihre Informationen, Herr Zeitler?“
„Direkt aus der Staatsanwaltschaft vom Stellvertreter Beilingers. Der Name ist Natascha Enzinger.“
„Kennen Sie die Frau?“
„Nicht persönlich. Wenn ich mit der Staatsanwaltschaft zu tun habe, wende ich mich direkt an Doktor Beilinger. Ich werde mich weiter um einen Termin bei Frau Enzinger bemühen. Wenn ich der Frau auf die Nerven gehe, macht sie vielleicht Druck.“
Ursulas Entführer waren nach einer schier endlos langen Fahrt offenbar an ihrem Ziel angekommen, denn der Wagen stoppte und sie hörte zwei Türen zuknallen. Dann wurde eine Tür geöffnet. Die frische Luft strömte bis zu ihr. Ursulas Glieder schmerzten und sie war am Ende. Endlich wurde ihr die Augenbinde abgenommen, als einer der Männer sie unsanft aus dem Wagen zerrte. Ihre Augen reagierten empfindlich auf den Sonnenaufgang. Sie musste sich jetzt zusammenreißen und sich jedes noch so kleine Detail merken. Die Männer trugen abermals Masken, unterschieden sich aber in Statur und Körperhaltung. Der eine war ziemlich groß und hielt sich aufrecht, der andere war klein und leger, auch die Kleidung. Den Lieferwagen sah sie nur aus dem Augenwinkel. Er war dunkel, ein neueres Modell. Mehr konnte sie nicht erkennen. Der kleinere Mann packte sie am Arm und zog sie mit sich. Sie wurde in ein Haus gebracht, dass sie noch niemals vorher gesehen hatte. Es ähnelte einem Bauernhaus, zumindest war vor dem Haus eine Art Trog und ein verwilderter Gemüsegarten, der mit einem defekten Holzzaun umgeben war. Sie befand sich auf dem Land, um sie herum waren nur Felder und Wiesen. Die Gegend sagte ihr nichts. Das waren zu wenige Informationen. Sie drehte den Kopf und wollte das Nummernschild des Wagens lesen, wurde aber von dem zweiten Mann daran gehindert.
„Vergiss es“, zischte der, gab ihr einen heftigen Stoß und versperrte ihr die Sicht.
„Musst du so grob sein?“, murmelte der andere, der das Verhalten völlig überzogen fand. Ursula verlor das Gleichgewicht und er konnte sie gerade noch festhalten, sonst wäre sie vorn über gefallen.
„Halts Maul, das geht dich nichts an“, erwiderte der andere.
Das Zimmer, in das Ursula gebracht wurde, war schlicht und einfach eingerichtet. Sie fuhr mit dem Finger über den Tisch, den eine dicke Staubschicht bedeckte. Sie sah den größeren der beiden Männer an, der nicht darauf reagierte. Die Tür wurde geschlossen. Noch bevor sie sich umsehen konnte, ging die Tür wieder auf. Der größere, vermutlich der Anführer, warf einen Schlafsack auf das Bett und zwei Handtücher auf den Tisch. Dann ging er wieder.
Jetzt war sie allein. Sie öffnete das kleine Fenster und sog die frische Luft tief ein. Ursula hatte freie Sicht auf ein Kornfeld, das sich leicht im Wind hin und her bewegte. Das Wetter würde heute nach zwei Regentagen wieder phantastisch werden, aber das tröstete sie nicht im Geringsten über ihre momentane Situation hinweg. Sie war völlig durcheinander und musste sich sammeln. Das Bett mit der schmutzigen Matratze sah zwar nicht sehr einladend aus, aber in ihrer jetzigen Situation mutete es himmlisch an. Der Schlafsack war neu, daran hing noch das Preisschild eines Ulmer Sportgeschäftes. Knapp hundert Euro hatte der Schlafsack gekostet. Ursula war erstaunt, dass man hier nicht gespart hatte. Sie öffnete den Reißverschluss des Schlafsacks und breitete ihn auf der Matratze aus. Eines der Handtücher rollte sie zusammen, das musste als Kopfkissen reichen. Sie musste dringend aus den Schuhen raus, in denen sie schon viel zu lange steckte. Durch einen Unfall war sie auf orthopädische Schuhe angewiesen, in denen ihre Füße festen Halt fanden. Der kurze Moment der Erleichterung, als ihre Füße endlich frei waren, war rasch verflogen. Die Tür ging auf und einer ihrer Bewacher, der große, brachte Wasser, Brot und Käse, wobei er immer noch eine Maske trug. Wortlos stellte er das Tablett auf den kleinen Tisch am Fenster. Das war der, der sie geschubst hatte, er war ganz sicher der Anführer. Vor ihm musste sie sich in Acht nehmen.
„Ich muss auf die Toilette“, murrte sie, wobei sie sich zwingen musste, nicht auf das Tablett zu starren. Sie hatte keinen Hunger, aber großen Durst.
Der Mann deutete stumm auf die Tür neben dem Schrank und ging wieder. Ursula hörte den Schlüssel im Schloss. Sie stand auf und ging zu der ihr gezeigten Tür, vielleicht gab es aus diesem Raum eine Möglichkeit zu fliehen. Aber sie wurde enttäuscht. Der fensterlose Raum war sehr klein und beinhaltete nur eine Toilette und ein kleines Waschbecken. Sie ging zurück, trank gierig fast die halbe Flasche Wasser und legte sich aufs Bett. Die Gedanken schwirrten durch ihren Kopf. Was sollte das alles?
3.
Nach einem knappen Mittagessen hielt es Leo nicht länger in Christines Haus aus, er musste dringend an die frische Luft. Zeitler, Anna und Stefan waren längst bei der Arbeit, er hatte die Prüfung der Unterlagen irgendwann allein übernommen. Es gab darin nicht den kleinsten Hinweis, der ihn weiterbrachte. Nicht nur die Konzentration, sondern auch das nervöse Geplapper seiner Freundin ging ihm auf die Nerven.
„Wo willst du hin?“
„Ich sehe mir die Stelle an, an der Ursula nach Stefans Angaben verschwunden sein soll.“
„Warte auf mich, ich komme mit.“
„Nein, ich gehe allein.“
Christine schimpfte und jammerte, aber Leo wollte unbedingt alleine sein. Er musste seine Gedanken ordnen, denn es war ihm ein Rätsel, was letzte Nacht mit Ursula passiert sein mochte.
Die Fahrt durch Ulm bei strahlend schönem Wetter konnte Leo nicht genießen, das sonst wehmütige Gefühl blieb heute aus. Der Verkehr war dicht, trotzdem stellte Leo seinen Wagen auf der Neuen Straße einfach am rechten Fahrbahnrand ab, auch wenn das nicht erlaubt war. Einige Autofahrer hupten und regten sich darüber auf. Auch, als er ausstieg und langsam die Straße entlangging. Er konnte nicht wissen, dass nur wenige Meter von seinem Wagen entfernt in der vergangenen Nacht Ursulas Wagen ebenfalls hier stand, der jetzt in einer Garage mitten in Ulm untergebracht war. Da der Verkehr sehr dicht war, musste Leo höllisch aufpassen. Dass sich immer mehr Verkehrsteilnehmer über ihn aufregten, interessierte ihn nicht. Er ging auf und ab und suchte nach dem kleinsten Hinweis, auf das, was letzte Nacht hier geschehen sein könnte. Wie lange er sich hier aufhielt, wusste er nicht, die Zeit verging wie im Flug. Irgendwann rief ihm ein alter Mann von der gegenüberliegenden Seite etwas zu, was Leo nicht verstand. Das war kein Passant, der sich über ihn ärgerte. Der Mann winkte und gestikulierte, was Leo dazu veranlasste, die Straße zu überqueren, was abermals von Verkehrsteilnehmern mit Unverständnis, wilder Gestik und Hupen quittiert wurde. Der alte Mann hatte Leo lange beobachtete, was diesem aber nicht aufgefallen war.
„Kann ich Ihnen helfen? Suchen Sie etwas?“
Der Mann vor Leo war weit über sechzig und ging am Stock. Er hatte ein helles Hemd an und trug eine Baskenmütze, was zu der kleinen, untersetzten Figur sehr gut passte.
„Es könnte sein, dass ich etwas suche. Ich interessiere mich für Geschehnisse der letzten Nacht.“ Leo sah den Mann an. So, wie dieser reagierte, war er bei ihm genau richtig.
Der alte Mann zögerte. Sollte er ihm wirklich sagen, was er heute Nacht beobachtet hatte? Leo zog seinen Dienstausweis und hielt ihn dem Mann vor.
„Kriminalpolizei?“
Leo nickte nur und steckte seinen Ausweis rasch wieder ein. Dass darauf nicht Ulm, sondern Mühldorf am Inn stand, hatte der Mann zum Glück nicht bemerkt.
„Ich wohne dort hinten in dem gelben Haus. Meine Wohnung liegt im vierten Stock links. Nachts kann ich nicht schlafen, die Schmerzen in der Hüfte sind oft kaum auszuhalten“, schrie er, denn ein lauter LKW machte eine Unterhaltung auf normalem Niveau schier unmöglich.
Leo wurde hellhörig. Hatte er richtig verstanden?
„Sie haben heute Nacht etwas beobachtet?“
„Ja.“ Der alte Mann schien erleichtert, denn das, was er gesehen hatte, ließ ihm keine Ruhe.
„Unterhalten wir uns irgendwo in Ruhe.“
„Dort hinten, gleich ums Eck, ist ein Café.“
„Gehen wir.“
„Was ist mit Ihrem Wagen? Der darf dort nicht stehen.“
„Das weiß ich. Gehen wir.“
In dem Café war nicht viel los. Leo kannte diese Lokalität nicht, er würde auch nur sehr ungern freiwillig in diesen Spießerschuppen gehen. Die Einrichtung war aus den siebziger Jahren und war stark abgenutzt. Im Hintergrund lief Schlagermusik, die zwar momentan wieder sehr angesagt, Leo aber völlig fremd war. Er konnte sich mit dieser Musik einfach nicht anfreunden. Er liebte handgemachte Rockmusik, die seiner Meinung nach viel zu selten gespielt wurde.
Der alte Mann stellte sich als Konrad Häberle vor. Er war Rentner, verwitwet und hatte keine Kinder. Leo bestellte Kaffee. Um das Eis zu brechen, plauderte Leo über banale Dinge, auch wenn er dafür eigentlich keine Zeit hatte. Aber die musste er investieren, denn Herr Häberle war sehr wortkarg, seit sie hier waren. Hoffentlich hatte er es sich nicht anders überlegt.
Häberle war tatsächlich am Überlegen, ob es so klug sei, mit der Polizei über das zu sprechen, was er beobachtet hatte, schließlich war seine Rolle dabei nicht ganz astrein. Zeit seines Lebens lebte er eher zurückgezogen und gehörte nie zu den mutigsten Menschen. Je länger er sich mit Herrn Schwartz unterhielt, umso mehr änderte er seine Meinung und entschied, doch zu sprechen, auch wenn das noch so absurd klingen sollte.
„Was haben Sie heute Nacht gesehen?“, preschte Leo hervor.
„Sie werden mich für schwachsinnig halten.“
„Nein, das werde ich nicht, versprochen.“
„Gut, wie Sie meinen. Ich konnte wegen der Schmerzen wie so oft nicht schlafen. Also ging ich ans Fenster und nahm mein Fernglas, das ich mir zur Pensionierung geleistet habe. Sie denken jetzt sicher, dass ich einer von den Spannern bin, die nach jungen Mädchen Ausschau halten, aber das bin ich nicht, Ehrenwort!“
Leo glaubte dem Mann kein Wort. Er mochte neugierige Spanner nicht, aber in diesem Fall musste er sich zurücknehmen. Er war nur daran interessiert, was der Mann heute Nacht gesehen hatte, deshalb forderte er ihn mit einem Lächeln auf, fortzufahren.
Häberle kam ein Stück näher und senkte die Stimme.
„Ein Sportwagen hat auf der Neuen Straße angehalten, der ihm nachfolgende Geländewagen auch. Eine Frau ist aus dem Sportwagen gesprungen und lief über die Fahrbahn, dabei wurde sie beinahe von einem Kleinwagen überfahren. Sie können sich nicht vorstellen, wie erschrocken ich war, als ich die Szene beobachtet habe. Nur um Haaresbreite hatte der Wagen die Frau nicht erwischt. Die Frau lief einfach weiter, aber einer der Männer aus dem anderen Wagen hatte sie schnell eingeholt. Wenn sie mich fragen, wollte die Frau einfach nur weg. Aber barfuß hatte sie wohl keine Chance. Dann hielt der Kleinwagen. Der Fahrer kam mir komisch vor, der sah aus wie ein Mönch. Er trug eine lange, weite Kutte, wozu der Hut irgendwie nicht passte. Aber ich kenne mich mit der katholischen Kirche nicht aus, ich war mein ganzes Leben Protestant.“
Leo war sofort klar, dass dieser vermeintliche Mönch Ursula gewesen sein muss. Seit er sie kannte trug sie verrückte Klamotten und Hüte, die in seinen Augen nie zusammenpassten.
„Was ist dann passiert?“
„Die Flüchtende wurde eingefangen und in den Sportwagen gesetzt; wenn Sie mich fragen, nicht freiwillig. Dann kam ein weiterer Wagen und der Mönch wurde in den Wagen gesetzt. Ebenfalls nicht freiwillig, der Mönch hat sich ordentlich gewehrt. Für einen kurzen Moment dachte ich, dass das eine Frau sei, aber dafür habe ich einfach zu wenig gesehen. Der Sportwagen brauste mit hoher Geschwindigkeit davon. Dann fuhr der Wagen mit dem Mönch weg, zeitgleich mit dem Geländewagen. Das alles hat keine zehn Minuten gedauert. Etwa zwanzig Minuten später stoppte eine dunkle Limousine. Der Beifahrer stieg aus, setzte sich in den Kleinwagen des Mönches und beide Fahrzeuge fuhren davon.“ Konrad Häberle machte eine kurze Pause und lehnte sich zurück. „Verrückte Geschichte, nicht wahr? Wenn ich das alles nicht mit eigenen Augen gesehen hätte, würde ich es selbst nicht glauben. Ich wollte die Polizei informieren, habe mich aber nicht getraut. Was hätte ich erzählen sollen? Diese irre Geschichte hätte mir die Polizei niemals geglaubt.“
„Konnten Sie ein Nummernschild erkennen? Die Farben der Fahrzeuge?“
„Nein, so gut ist mein Fernglas nun auch wieder nicht. Außerdem war es dunkel, wie hätte ich da Farben erkennen sollen? Der Sportwagen war hell, ebenso der Kleinwagen. Die beiden anderen waren dunkel, mehr konnte ich nicht erkennen.“
„Dass die Frau keine Schuhe trug, darin sind Sie sich sicher?“
„Ganz sicher. Die Frau rannte über die Fahrbahn, wobei sie fast von dem Fahrzeug des Mönches angefahren wurde. Zum Glück hatte der schnell reagiert. Im Scheinwerferlicht des Kleinwagens konnte ich deutlich erkennen, dass die flüchtende Frau keine Schuhe trug.“
„Können Sie die Personen genauer beschreiben? Bitte versuchen Sie, sich zu erinnern. Jedes Detail kann für die Polizei enorm wichtig sein.“
„Ich habe mich auf die flüchtende Frau konzentriert, die für mich im Fokus stand. Ich hatte Angst um sie. Sie schien mir sehr jung zu sein. Es sah für mich so aus, als hätte sie nicht viel an. Sie hatte langes Haar, in dem Punkt bin ich mir sicher. Bei den anderen Personen muss ich leider passen, ich habe vor allem auf die junge Frau geachtet.“
Leo hatte genug gehört. Wenn das stimmte, was Konrad Häberle von sich gab, suchten sie nach einem hellen Sportwagen. Wie hoch waren die Chancen, den zu finden? Leo bedankte sich, dann ging er zurück und setzte sich in seinen Wagen. Er rief Zeitler an.
„Wie glaubhaft ist der Zeuge?“
„Ich glaube ihm, zumindest den Kern der Geschichte.“
„Jetzt sollen wir nach allen hellen Sportwagen suchen? Mit welchem Kennzeichen?“
„Das ist sinnlos. Ich dachte an Geschwindigkeitsüberwachungen, denn laut Aussage des Zeugen fuhr der Sportwagen sehr schnell davon. Mit viel Glück könnte er irgendwo geblitzt worden sein. Wenn ich mich an meine Anfänge im Polizeidienst zurückerinnere, werden nachts kaum Blitzer aufgestellt. Es sei denn, es handelt sich um brisante Stellen. Wie viele fest installierte Blitzer gibt es entlang der Neuen Straße?“
„Für die drei Kilometer gibt es nur eine. Ich werde sofort veranlassen, dass die Fotos ausgewertet werden.“
„Wir sollten uns nicht nur auf diese Bilder konzentrieren, sondern alle Fotos, die in Ulm und um Ulm herum in der letzten Nacht gemacht wurden. Sollte der Fahrer tatsächlich auffällig geworden sein, finden wir ihn vielleicht auf diese Weise.“
„Sie haben es noch nicht verlernt, mir Anweisungen zu geben.“ Zeitler musste lachen, denn auch früher konnte sich Leo nur schlecht darin zurückhalten, seinem Chef gute Ratschläge zu erteilen. „Gute Arbeit, Schwartz. Wenn ich ehrlich bin, hatte ich befürchtet, dass sie in der oberbayerischen Idylle weich und ruhig geworden seien. Ich melde mich bei Ihnen.“
Leo legte schmunzelnd auf. Das war das höchste an Lob, was er von Zeitler zu erwarten hatte.
4.
Ursula schreckte auf, sie war eingeschlafen. Nur langsam begriff sie, dass das kein schlechter Traum gewesen war. Sie stand auf und sah sich in dem Zimmer um. Das Haus war alt, sehr alt. Sie war sich sicher, dass dieses Zimmer schon lange unbewohnt war. Das kleine, schmutzige Fenster schien ihr die einzige Möglichkeit zu sein, irgendwie hier rauszukommen. Aber würde sie überhaupt durch diese Öffnung durchpassen? Ja, sie hatte in den letzten Monaten ordentlich zugenommen, was sie bisher nicht gestört hatte. Jetzt wurde ihr der Umfang zum Verhängnis. Wie sie es auch drehte und wendete: Hier passte sie niemals durch, das war, wenn überhaupt, nur für eine gertenschlanke Person zu schaffen. Trotzdem besah sie sich das Fenster genauer.
„Vergiss es, du kommst hier nicht raus“, hörte sie die dunkle Stimme hinter sich. Ursula erschrak, sie hatte den Mann nicht kommen hören. Sie zitterte und setzte sich aufs Bett. Sie musste sich zusammenreißen.
„Ich bin nicht scharf darauf, Kindermädchen für eine durchgeknallte Frau zu spielen, das kannst du mir glauben“, fuhr der Mann fort, während er das Tablett an sich nahm. Ursula beobachtete jede Bewegung des Mannes und bemerkte, dass er leicht zitterte, als er das Tablett nahm. „Ich habe weiß Gott Wichtigeres zu tun, als hier meine Zeit zu vertrödeln. Solltest du mir den kleinsten Grund geben, werde ich dich ohne mit der Wimper zu zucken einfach abknallen.“ Der maskierte Mann sprach sehr laut. Konnte es sein, dass der Mann unsicher war?
„Warum bin ich hier? Wo bin ich? Was wirft man mir vor?“
„Denkst du wirklich, dass ich dir auch nur eine Frage beantworten werde? Du hast dich selbst in diese Lage gebracht, du hättest nicht so neugierig sein sollen. Halt einfach die Klappe und verhalte dich ruhig. Wenn du brav bist, kannst du in wenigen Tagen gehen.“ Der Mann stellte zwei Flaschen Wasser auf den Tisch und ging mit dem Tablett wieder.
„Was laberst du so lange mit der Frau? Ich habe dir doch gesagt, dass wir kein Wort mit ihr reden sollen. Und du hast dich gefälligst an meine Anweisungen zu halten, wofür bezahle ich dich?“ Gregor Pauschke war sauer auf seinen nichtsnutzigen Schwager, den er für den Auftrag mitgenommen hatte. War es so klug gewesen, gerade ihn zu engagieren? Waldi Gassner war ein Tagträumer und Möchtegernganove, dem noch nie etwas gelungen war. Aber heute Nacht musste alles schnell gehen und nur sein Schwager Waldi stand zur Verfügung.
„Reg dich ab, Mann, ich habe nichts gesagt. Ich habe sie dabei erwischt, wie sie sich am Fenster zu schaffen machte. Ich dachte, eine Drohung kann nicht schaden, um sie ruhig zu stellen.“
„Was hat sie gesagt?“
„Sie hat Fragen gestellt. Sie will wissen, was los ist und wo sie ist, ist das nicht verständlich? Ist doch klar, dass die Frau jede Menge Fragen hat, die habe ich übrigens auch. Ich habe mir vorhin ihre Geldbörse angesehen und den Dienstausweis gefunden. Die Gefangene ist deine Kollegin. Warum ist sie hier? Was steckt dahinter?“
„Du bekommst gute Kohle für wenig Arbeit. Fragen zu stellen und meine Anweisungen zu ignorieren, gehören nicht dazu. Mach einfach, was ich dir sage. In ein paar Tagen ist alles vorbei.“
„Genau das habe ich der Frau vorhin auch gesagt“, lachte Waldi. „Ich werde mit der Frau nicht sprechen und ich werde auch keine Fragen mehr stellen, du kannst dich auf mich verlassen. Aber ich möchte eine Knarre haben.“
„Du möchtest was? Ich höre wohl nicht richtig!“ Gregor ging lachend nach draußen.
Waldi war sauer. Er wusste schon lange, dass ihn sein Schwager nicht ernst nahm. Er fühlte sich überlegen und behandelte ihn oft wie ein dummes, kleines Kind. Auch wenn Gregor ihn nicht informierte, würde er schon noch herausfinden, was hier ablief.
5.
„Verdammter Mist!“, rief Zeitler aus, als er die Auswertung der Geschwindigkeitsmessungen, die er selbst vorgenommen hatte, vor sich hatte. Wieder und wieder besah er sich die Fotos, auf denen die Sportwagen und die dazugehörigen Nummernschilder deutlich zu sehen waren. Er kontaktierte die Kollegin Ravelli, die zwei der Sportwagen übernahm. Dann rief er Leo an, der in Christines Gästezimmer ungeduldig auf den Anruf gewartet hatte. Er war in den letzten Stunden dazu verdonnert worden, untätig rumzusitzen und nichts zu tun. Wiederholt hatte er Doktor Grössert angerufen, der aber bezüglich Ursulas Verhaftung noch keinen Schritt weitergekommen war. Der Anwalt versprach aber, an der Sache dranzubleiben. Er klang zuversichtlich, denn er hatte Kontakte in die höchsten Kreise.
Leo wurde immer unleidlicher, wobei ihm Christine keine große Hilfe war. Sie drängelte und machte ihm Vorwürfe, obwohl sie sehr gut wusste, dass ihm die Hände gebunden waren. Es gab nur die Spur nach dem vermeintlichen Sportwagen, nach denen Zeitler seit Stunden suchte. Endlich rief der Ulmer Polizeichef an.
„Es gibt drei helle Sportwagen, die in den zeitlichen Rahmen fallen. Zwei davon sind in Ulm gemeldet, um die kümmert sich die Kollegin Ravelli, wobei ich sie selbstverständlich begleiten werde.“
„Und der dritte?“ Leo spürte, dass es damit etwas Besonderes auf sich hatte.
„Den dürfen Sie gerne übernehmen. Allerdings bitte ich, äußerst diskret vorzugehen.“
Leo wurde hellhörig und immer ungeduldiger. Warum druckste Zeitler so rum?
„Ein Diplomaten-Kennzeichen.“
„Scheiße! Aus welchem Land?“
„Aus dem Kongo.“
„Sie verarschen mich doch.“
„Nein! Der Sitz der Botschaft ist in Berlin und das Kennzeichen, sowie der Wagen, sind dort gemeldet.“
„Und was macht dieses Fahrzeug in Ulm?“
„Das gilt es, herauszufinden.“
„Wo soll ich ansetzen? Das ist die Suche nach der berühmten Nadel im Heuhaufen.“
„Lassen Sie sich etwas einfallen. Wir von unserer Seite dürfen nichts in diese Richtung unternehmen, geschweige denn recherchieren. Schon allein die Überprüfung der beiden anderen Sportwagen ist äußerst riskant, aber das können wir mit dem hohen Messergebnis erklären. Suchen Sie diesen Sportwagen und schließen Sie aus, dass der Wagen etwas mit der Kollegin Kußmaul zu tun hat. Denn wenn das der Fall sein sollte, dann Gnade uns Gott.“
Leo lehnte sich mit einem Seufzer zurück. Mit einem Diplomaten hatte er zum Glück noch nie zu tun gehabt. Er wusste, dass er nicht den Hauch einer Chance hatte, wenn es sich bei dem Gesuchten um einen solchen handelte, denn die waren unantastbar. Wie sollte er jetzt vorgehen? Wie sollte er den Wagen finden?
Ihm fiel sein Freund Georg Obermaier ein, der in Berlin lebte und arbeitete.
„Georg? Ich bin es, Leo. Ich brauche deine Hilfe.“
„Leo? Wie schön, dass du dich meldest. Du brauchst Hilfe? Ich befürchte, dass ich dir nicht helfen kann. Ich bin momentan in Ägypten.“
„Was machst du in Ägypten?“
„Urlaub, was sonst. Ich habe mich von meiner Frau getrennt. Ich liege am Strand und trinke, um meinen Kummer zu vergessen.“
„Es tut mir leid, das zu hören. Wann kommst du zurück?“
„Machst du Witze? Ich bin heute erst angekommen, ich liege erst seit zwanzig Minuten hier. Ich habe noch fast die ganzen zwei Wochen vor mir.“
Leo sprach zwanzig Minuten mit seinem Freund und versuchte, ihn zu trösten. Er mochte Georg sehr und wusste, wie sich eine Trennung anfühlte, zumal er selbst eine hinter sich hatte.
„Genieße deinen Urlaub. Und versprich mir, dass du es mit dem Alkohol nicht übertreibst.“
„Versprochen. Wir hören uns.“
Georg klang nicht gut, trotzdem musste sich Leo auf die Suche nach Ursula konzentrieren. Was jetzt? Wie sollte er an Informationen dieses Diplomaten-Autos kommen? In seiner Verzweiflung rief Leo seinen Freund und Kollegen Hans Hiebler an, der schon einmal mit einem Diplomaten zu hatte, was vor seiner Zeit in Mühldorf war.
„Leo? Solltest du nicht mit einem Cocktail irgendwo am Strand liegen?“
„Ich bin in Ulm.“
„Naja. Ein besseres Urlaubsziel ist dir wohl nicht eingefallen, oder?“
„Ich brauche deine Hilfe. Kannst du reden?“
Der fünfundfünfzigjährige Hans spürte, dass etwas passiert sein musste.
„Ich bin allein. Was ist los?“
Leo erzählte ihm alles, was er wusste. Auch das, was ihm der Zeuge Häberle erzählt hatte. Damit verstieß er zwar gegen Zeitlers Anweisung, aber er musste irgendwie weiterkommen, wobei ihm Hans vielleicht helfen konnte. Auf ihn konnte er sich blind verlassen.
„Ich verstehe. Georg ist nicht in Berlin und Viktoria ist in Mühldorf, damit bist du auf dich allein gestellt. Du suchst nach einem Fahrzeug, das dir eigentlich nicht hilft, wenn du es gefunden hast.“
„Richtig.“
„Du sagtest, dass Ursula in Stadelheim sitzt?“
„Das ist die momentane Informationslage, die offiziell noch nicht bestätigt wurde.“
„Was für eine wirre Geschichte. Schade, dass ich hier nicht wegkann, ich würde dir gerne helfen. Lass mich überlegen, wie ich tun kann. Wenn Diplomaten im Spiel sind, ist das immer beschissen. Ich kann mich noch gut an damals erinnern und könnte mich noch heute darüber aufregen. Allerdings hat das alles auch etwas Gutes. Ich habe ein paar Leute kennengelernt, die jetzt behilflich sein könnten.“ Hans erinnerte sich an seine Kontakte. „Ich sehe zu, was ich machen kann und melde mich wieder bei dir. Übrigens: Tatjana ist seit gestern wieder zurück. Sie sieht blendend aus, die Kur hat ihr sehr gutgetan.“
Hans war vorsichtig mit seiner Formulierung. Die Wiederkehr der genesenen Tatjana Struck bedeutete auch, dass die Vertretung durch Viktoria Untermaier überflüssig geworden war und sie nun wieder gehen konnte.
Leo schluckte. Seine frühere Kollegin und Lebensgefährtin hatte die Vertretung übernommen, wovon er nicht begeistert gewesen war. Erst in den letzten Wochen verstandenen sie sich besser und näherten sich langsam wieder an.
„Viktoria ist wieder in Berlin?“, flüsterte er.
„Noch nicht. Der Chef gibt heute Abend einen aus, wozu er auch dich einladen wollte. Wir wussten nicht, dass du in Ulm bist.“
Werner Grössert wusste es, aber der hatte offenbar nichts gesagt. Warum sollte er?
„Ich würde gerne dabei sein, aber ich kann hier nicht weg.“
„Kann ich verstehen. Soll ich Viktoria etwas ausrichten?“
„Nein, danke. Was die Sache mit dem Sportwagen betrifft, bitte ich um absolute Diskretion. Sollten wir hier richtig liegen, hat Ursulas Verhaftung eventuell damit zu tun. Kein Wort zu irgendjemandem.“
„Du kannst dich auf mich verlassen.“
Leo rief all seine Kontakte in Deutschland und im benachbarten Ausland an, denen er vertraute. Dasselbe machte Hans parallel. Die beiden waren keine Anfänger und hatten über die Jahre viele Kontakte knüpfen können. Die Gespräche waren mühsam, denn beide mussten vorsichtig vorgehen. Kein Detail, das Ursula und der Suche nach ihr schaden könnte, durfte an die Oberfläche kommen.
Leo hatte bei dem Schweizer Polizisten Lukas Jäger endlich Glück. Der junge Polizist aus Appenzell war sehr ehrgeizig und Leo konnte sich noch gut an die problemlose Zusammenarbeit mit ihm während eines komplizierten Falles in den Schweizer Bergen erinnern, bei dem er selbst körperlich in Mitleidenschaft gezogen wurde.
„Wenn Sie möchten, kann ich für Sie Informationen einholen“, bot Lukas Jäger an.
„Sie haben verstanden, dass es sich um ein Fahrzeug mit Diplomatenkennzeichen handelt?“
„Ja, das habe ich verstanden. Wir Schweizer sehen diesen Status nicht ganz so eng. Wenn man in unser schönes Land kommt, muss man sich an unsere Gesetze halten, ob nun Diplomat oder nicht. Ihr Deutschen seid in dieser Beziehung viel zu ängstlich. Ich werde mich gerne für Sie umhören, Kollege Schwartz, zumal ich immer noch sehr in Ihrer Schuld stehe. Meine damalige Mitarbeit zusammen mit der Verhaftung haben mir eine Beförderung eingebracht, an der Sie maßgeblich beteiligt sind.“ Lukas Jäger konnte kaum glauben, dass ihn Leo Schwartz persönlich anrief. Er war ein regelrechter Fan des riesigen Schwaben, der sich mit einer Bitte an ihn wandte. Nie im Leben hätte er ihn abgewimmelt, auch wenn er momentan kaum Zeit hatte und die Sache nicht ganz so einfach war, wie er vorgab. Es war klar, dass er sich umgehend um die Angelegenheit kümmern wollte.
Leo musste schmunzeln, als er auflegte. Der Schweizer war eine Frohnatur, von denen es in dem Beruf nicht viele gab. Hatte er den Mann in Schwierigkeiten gebracht, indem er ihn bat, ihm zu helfen?
Hans hatte sich noch nicht gemeldet, aber Lukas Jäger hatte nach drei Stunden ein Ergebnis auf dem Tisch liegen.
„Der Wagen gehört zum Fuhrpark der Botschaft der Republik Kongo, die in der deutschen Hauptstadt Berlin ansässig ist. Dass Neacel Magoro der aktuelle Botschafter ist, dürfte Ihnen bekannt sein. Der Wagen, nach dem Sie suchen, wird hauptsächlich von einem Mann namens Temuera Achebe gefahren. Ich habe mich umgehört, auch bei uns in der Schweiz ist Achebe kein Unbekannter. Er fiel mehrfach wegen diverser Verkehrsdelikte auf. Offenbar denkt der Mann, dass man auch die Schweizer Autobahnen als Rennstrecke verwenden darf, wie es in Deutschland der Fall ist. Wir haben Geschwindigkeitsbeschränkungen, Ihr Land nicht, was diverse Raser-Spinner auf den Plan ruft. Aber das führt jetzt zu weit, zurück zu Achebe. Nach den Protokollen zu urteilen pochte Achebe bei Kontrollen auf seinen Diplomatenstatus, zu Anhörungen ist er nicht einmal erschienen. Sollte er in der Schweiz nochmals auffällig werden, blüht ihm die volle Härte der strafrechtlichen Verfolgung, denn bei uns ist das Maß schneller voll, als in Deutschland. Vielleicht sollte ich erwähnen, dass Achebe offensichtlich im Rotlicht-Milieu kein Unbekannter ist. Dafür habe ich keine Beweise vorliegen, ich bekam hierzu lediglich einen Hinweis eines Kollegen. Ich schicke Ihnen die Unterlagen zu. Wie hätten Sie es denn gerne? Fax? Email?“
„Am liebsten wäre es mir, wenn Sie mir alles an meine private Email-Adresse senden. Ist das möglich?“
„Normalerweise nicht, aber bei Ihnen mache ich eine Ausnahme.“ Lukas Jäger war zufrieden, als er die Unterlagen an Leos private Mailadresse sandte. Er hatte helfen können und war auch stolz auf das, was er in der kurzen Zeit herausgefunden hatte. Jäger lehnte sich zurück. Auf was hatte sich der Kollege Schwartz jetzt schon wieder eingelassen? Der Diplomatenstatus an sich war schon nicht ohne, dazu noch Achebe, der ihm auf einem Polizeifoto entgegengrinste. Ein arroganter, unangenehmer Zeitgenosse, mit dem Jäger nichts zu tun haben wollte. Die Tatsache, dass Leo Schwartz die Unterlagen an seine private Mailadresse geschickt haben wollte, unterstrich Jägers Vermutung: Das war eine ganz üble Sache, mit der sich der Schwabe beschäftigte. Aber das war zum Glück nicht mehr sein Problem, seine Arbeit war erledigt.
Leo war aufgeregt. Hatte Jäger das Rotlichtmilieu erwähnt? Wenn dieser Achebe damit zu tun hatte, würde er es herausfinden. Dazu brauchte er sich nur mit Tatjana Struck in Verbindung setzen, deren Vater kein Unbekannter im Rotlichtmilieu war.
Noch bevor er Tatjana kontaktierte, bekam er die Unterlagen von Jäger zugesandt. Auf dem Display lächelte ihm das Gesicht eines Mannes entgegen: So sieht er also aus, Temuera Achebe.
6.
Michael Zeitler und Anna Ravelli fuhren zu dem Halter eines cremefarbenen Sportwagens. Das Auto stand nicht vor dem Einfamilienhaus am Rande Ulms, eventuell parkte es in der geschlossenen Garage.
Sie klingelten an der Tür und ein Mann Ende fünfzig öffnete ohne Gruß. Es war offensichtlich, dass er schlecht gelaunt war.
„Kriminalpolizei Ulm. Mein Name ist Zeitler, das ist meine Kollegin Ravelli. Sie sind Ingo Sax?“
„Steht auf meinem Klingelschild. Was wollen Sie? Eine Spende für den Polizeiball? Ich muss Sie enttäuschen, bei mir ist nichts zu holen. Ich bin seit Jahren berufsunfähig und bekomme eine staatliche Zuwendung, mit der ich mir keine Extratouren leisten kann.“ Sax war drauf und dran, einfach die Tür wieder zu schließen.
„Haben Sie nicht verstanden, dass wir von der Kriminalpolizei sind?“, blaffte ihn Zeitler an.
„Und wenn Sie der Kaiser von China wären, wäre mir das auch wurscht. Ich habe mir nichts vorzuwerfen und möchte meine Ruhe haben, das wird mir im Grundgesetz garantiert.“
„Gut, wie Sie wollen. Wir können uns auch auf dem Polizeipräsidium unterhalten, wobei Sie davon ausgehen können, dass das sehr lange dauern wird.“ Zeitler war kurz davor, die Geduld zu verlieren. Wann hatte es eigentlich damit angefangen, dass Bürger jeglichen Respekt vor der Polizei verloren hatten?
„Sie haben gewonnen. Was wollen Sie?“ Sax verschränkte die Arme vor der Brust und machte keine Anstalten, die Beamten ins Haus zu bitten.
„Sie wurden letzte Nacht geblitzt. Sie waren bei erlaubten fünfzig km/h dreiundzwanzig zu schnell. Das ist doch Ihr Fahrzeug?“ Zeitler zeigte ihm das Foto, das zugegebenermaßen bezüglich des Fahrers unscharf war. Aber das Kennzeichen war deutlich zu erkennen.
„Ja, das ist mein Wagen. Deshalb kommt die Kriminalpolizei persönlich zu mir? Haben Sie nichts Besseres zu tun? Warum stellen Sie mir den Strafzettel nicht einfach per Post zu, wie sonst auch? Moment“, sagte Sax und besah sich das Foto genauer, „darauf bin ich ja überhaupt nicht zu erkennen. Der Fahrer bin nicht ich. Wissen Sie was? Schicken Sie mir das alles schriftlich zu, damit ich etwas in der Hand habe. Heutzutage geht nichts ohne Beweise. Alles Weitere wird mein Anwalt klären.“
„Wir möchten den Wagen sehen“, sagte Anna, die kurz davor war, zu explodieren.
„Dürfen Sie das überhaupt? Brauchen Sie dafür nicht irgendetwas Schriftliches? Ich glaube, ich sollte meinen Anwalt anrufen. Man muss sich als unbescholtener Bürger vor jeder Art von Beamtenwillkür schützen.“
„Gerne, wie Sie wollen. Rufen Sie Ihren Anwalt an und wir besorgen uns einen Beschluss, womit wir nicht nur Ihren Wagen, sondern auch Ihre Privaträume durchsuchen dürfen.“
Ingo Sax war erschrocken. Mit dieser heftigen Reaktion der Kriminalbeamten hatte er nicht gerechnet. Was war hier los? Hier ging es sicher nicht nur um die Geschwindigkeitsübertretung. Sax entschied, mit der Polizei zu kooperieren.
„Beruhigen Sie sich. Sie brauchen mir nicht gleich zu drohen, ich füge mich der Gewalt. Kommen Sie mit.“ Sax zog die Tür hinter sich zu und ging in den Garten des kleinen, alten Einfamilienhauses, das nicht Sax gehörte, sondern seiner Mutter, die ebenfalls hier gemeldet war. Der Weg führte nicht zur Garage, sondern ans Ende des Grundstückes, wo sie hinter einer hohen Hecke einen nagelneuen Carport vorfanden, in dem ein blitzsauberer Sportwagen stand. Sax kratzte sich verlegen am Kopf.
„Das ist mein Wagen.“
„Donnerwetter! Dass Sie sich den leisten können, grenzt an ein Wunder.“
„Meine Mutter bezahlt die Unterhaltskosten, sonst könnte ich mir den Spaß nicht leisten. Eine Freude braucht der Mensch, und meine ist mein Wagen.“
„Warum steht der Wagen hier und nicht in der Garage?“
„Wegen der Nachbarn. Was denken Sie, wie schnell das Neider auf den Plan ruft. Die Welt ist schlecht, das können Sie mir glauben.“
„Und Sie sind eine ganz ehrliche Haut“, lachte Anna sarkastisch.
„Natürlich bin ich ehrlich, das bin ich schon immer gewesen.“
„Dann stellen Sie das unter Beweis. Wer hat heute Nacht den Wagen gefahren?“
„Ich kann mich einfach nicht daran erinnern. Ich war mit einem Freund unterwegs und wir fuhren abwechselnd. Wenn einer von uns gemerkt hätte, dass wir geblitzt wurden, hätten wir sicher darüber gesprochen. Aber wir haben es nicht bemerkt. Ich kann Ihnen nicht sagen, wer von uns gefahren ist, ehrlich.“
„Name und Adresse Ihres Freundes?“
„Da muss ich passen, so gut kennen wir uns nicht.“
„Telefonnummer?“
„Sorry, die weiß ich nicht. Wir haben uns gestern erst kennengelernt und sind gemeinsam durch die Bars gezogen. Dabei haben wir selbstverständlich keinen Alkohol getrunken, ich schwöre.“
„Sie lernen einen Mann kennen und lassen ihn sofort mit Ihrem Wagen fahren? Sie verarschen uns doch!“
„Nein, das würde ich nie im Leben machen. Wenn Sie mich besser kennen würden, wüssten Sie, dass ich immer die Wahrheit sage.“ Ingo Sax lächelte Anna an, aber die ließ sich nicht beirren. Sie war davon überzeugt, dass der Mann log, sobald er den Mund aufmachte.
Zeitler sah sich um. Nicht nur im Garten, sondern auch außerhalb des Grundstücks.
„Sie fahren mit Ihrem Wagen hier raus? Ist das erlaubt?“ Zeitler wusste aus eigener Erfahrung, dass man solche Zufahrten genehmigen lassen musste, was sehr viel Zeit und Geld kostete.
Ingo Sax druckste herum.
„Es könnte sein, dass man das nicht darf. Aber ich störe niemanden und es hat sich bis heute auch keiner darüber beklagt. Bekomme ich jetzt Ärger oder haben Sie ein Einsehen mit einem armen, vom Leben gezeichneten Mann, der sich diesen kleinen Luxus gönnt, da er sonst nichts hat?“
Zeitler zögerte. Was hätte er davon, wenn er den Mann anzeigte? Anna dachte anders. Der Typ war vorhin sehr unhöflich gewesen und machte ihrer Auffassung nach eine falsche Angabe nach der anderen. Und jetzt, da man sein Geheimnis kannte, wurde er charmant und freundlich. Sie mochte solche Charaktere nicht und schmollte, da sie bemerkte, dass Zeitler nicht abgeneigt war, Gnade vor Recht walten zu lassen.
Dann ging ein Fenster im Erdgeschoss des Hauses auf und eine alte Frau streckte den Kopf heraus.
„Ingoooooo“, rief sie laut, „der Richard ist am Telefon. Er fragt, wann du gedenkst, zur Arbeit zu kommen.“
„Arbeit? Sagten Sie nicht, dass Sie keine Arbeit haben?“ Zeitler wurde wütend.
„Ich verdiene mir gelegentlich ein paar Mark dazu. Allerdings nur sehr selten, ich schwöre.“
Anna hatte genug gehört, sie suchte das Gespräch mit der alten Frau, die sich als Mutter von Ingo Sax vorstellte. Sie plauderte munter darauf los und hatte kein Problem damit, von ihrem fleißigen Sohn zu schwärmen, der ihr immer wieder teure Geschenke machte. Sie selbst hatte nur eine kleine Rente und war auf ihren Sohn angewiesen.
„Das gib eine fette Anzeige“, sagte Anna wütend, als sie wieder zu Sax und Zeitler ging.
Sax wollte sich rechtfertigen, aber darauf hatten die beiden Kriminalbeamten keine Lust. Sollte er sich doch äußern, wenn ihm die betreffende Post ins Haus flatterte.
Die Verabschiedung fiel weniger freundlich aus, denn nun kam sich Zeitler so richtig verarscht vor, was er auf den Tod nicht ausstehen konnte.
Der nächste Weg führte sie ans andere Ende von Ulm. Der zitronengelbe Sportwagen stach sofort ins Auge, als sie in die Straße einbogen. Er parkte vor einem frisch renovierten, modernen Mehrfamilienhaus, das von einem gepflegten Grundstück umgeben war. Alles war sehr sauber, sogar die verschiedenen Mülltonnen hatten einen eigenen Unterstellplatz und standen ordentlich aufgereiht nebeneinander.
Anna klingelte bei Gerhard Urban.
„Ja bitte?“, tönte es aus der Gegensprechanlage.
„Kriminalpolizei!“, rief Zeitler nur und sofort summte der Türöffner.
Das Treppenhaus war sauber, hell und freundlich. Für Annas Begriffe alles viel zu steril, Zeitler interessierte sich nicht dafür. Ein Mann Anfang vierzig stand vor der Wohnungstür im zweiten Obergeschoss. Er begrüßte die Kriminalbeamten mit Handschlag und bat sie ohne weitere Erklärung in die Wohnung. Anna war überrascht, denn das kam nicht oft vor.
„Bitte setzen Sie sich“, sagte Gerhard Urban freundlich, als er sie ins Wohnzimmer führte.
Anna sah sich in dem riesigen, teuer eingerichteten Raum um. Hier sah es aus wie in einem Möbelhaus. Alles stand auf seinem angestammten Platz und nirgends war ein Staubkörnchen zu sehen. Ton in Ton wurde alles perfekt aufeinander abgestimmt, sogar Gerhard Urban passte in seinem hellen Anzug und dem rosafarbenen Hemd genau dazu. Anna mochte es nicht, wenn alles perfekt war, das war ihr suspekt. Oder war es nur der Ärger darüber, dass sie es nie auch nur annähernd so weit bringen würde? Abgesehen von der fehlenden Kohle sah es in ihrer Wohnung immer chaotisch aus, was auch an Stefan lag, der, wie sie selbst, alles herumliegen ließ.
Zeitler waren die Wohnverhältnisse anderer völlig egal. Er registrierte sie zwar, bewertete sie aber nicht.
„Was verschafft mir die Ehre Ihres Besuches? Darf ich Ihnen einen Cappuccino anbieten, oder einen Espresso?“
„Nein, danke. Sie wurden heute Nacht mit überhöhter Geschwindigkeit geblitzt“, sagte Zeitler und legte Urban das Foto vor. „Das sind doch Sie und das ist Ihr Wagen?“
„Ja sicher. War ich so schnell unterwegs, dass dafür sogar die Kriminalpolizei kommen muss?“ Urban wirkte erschrocken, aber das war nur aufgesetzt. Die Kriminalbeamten spürten, dass sie es mit einem sehr selbstsicheren Menschen zu tun hatten, der sich im Griff hatte.
„Was haben Sie heute Nacht gemacht? Wo kamen Sie her und wo wollten Sie hin?“
Es entstand eine längere Pause, für Zeitlers Gefühl zu lange.
„Ich bin einfach nur durch die Gegend gefahren. Ohne Grund und ohne Ziel. Ich liebe die Nacht, in der alles entschleunigt ist. Wenn ich herumfahre, kann ich so richtig abschalten. Die einen gehen zum Wellness, andere machen Sport und ich fahre mit meinem Wagen durch die Nacht.“
„Allein?“
„Leider ja. Mir würde es auch besser gefallen, wenn ich jemanden an meiner Seite hätte, aber das ist mir momentan leider nicht vergönnt. Ich bin unglücklicher Single und stets auf der Suche nach dem großen Glück.“ Urban lächelte Anna an, was bei ihr einen Würgereiz verursachte. Gerhard Urban war einer der Typen, die sie überhaupt nicht leiden konnte.
„Die Wohnung gehört Ihnen?“, wollte Zeitler wissen. Er ahnte, dass die ein Vermögen gekostet hatte.
„Ja, sie gehört mir. Eine Erbschaft hat diese Anschaffung ermöglicht, da bin ich ehrlich. Ich möchte aber betonen, dass ich als Außendienst-Mitarbeiter einer Großhandelsfirma sehr erfolgreich bin. Wir vertreiben Rasentraktoren und Mähroboter der neuesten Generation.“ Urban stand auf und zog mehrere Prospekte aus seiner Aktentasche. „Bitteschön, nehmen Sie. Das sind die zuverlässigsten und wartungsfreundlichsten Geräte, die es momentan auf dem Markt gibt. Ich könnte Ihnen einen guten Preis machen.“
Anna hatte genug gehört und stand auf, wobei sie die Prospekte an sich nahm. Zeitler hatte kein Interesse. Er hatte keinen Garten und machte sich auch keine Gedanken darüber, wie andere ihre Grundstücke pflegten.
„Was meinen Sie, Chef?“, fragte Anna, als sie im Wagen saßen. „Ist Ihnen aufgefallen, dass Urban nicht einmal wissen wollte, mit welcher Geschwindigkeit er geblitzt wurde?“
„Ja, das ist mir aufgefallen. Ich mag beide Männer nicht. Der eine ist ein Betrüger und Sozialschmarotzer, der andere steht dem in meinen Augen in nichts nach. Nehmen wir beide auseinander und zerpflücken sie.“
„Bekommen Sie das genehmigt? Wir haben nur die Geschwindigkeitsüberschreitungen, die eigentlich im normalen Rahmen liegen.“
„Lassen Sie das mal meine Sorge sein. Sie hören sich schon an wie Schwartz. Ich befürchte, dass seine Anwesenheit einen schlechten Einfluss auf Sie hat.“…
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