Der 13. Fall aus der Leo-Schwartz-Krimireihe
1.
„Verdammt, ist das heiß heute,“ stöhnte Leo Schwartz. Der 50-jährige gebürtige Schwabe hatte dienstfrei und sich dummerweise dazu bereiterklärt, seiner Vermieterin und Ersatzmutter Tante Gerda beim Anlegen ihres Gemüsebeetes zu helfen. Der Hofhund Felix hatte sich in den Schatten verzogen und machte das, was er außer Essen am liebsten tat: Schlafen.
„Bitte Leo, ich bekomme Fronleichnam Besuch von meinen Walking-Freunden und möchte, dass mein Garten tipptopp aussieht. Wir sind doch auch fast fertig, den Rest schaffen wir locker in einer Stunde.“ Natürlich untertrieb die 73-jährige Tante Gerda schamlos, denn sie hatten noch nicht einmal die Hälfte der Arbeit geschafft. Die liebenswerte, gutmütige und ehrliche alte Dame sah ihn mit ihren großen, braunen Rehaugen an und sofort bereute er seinen dummen Spruch. Natürlich half er ihr gerne, aber warum musste es dazu so heiß sein? Jammern half nichts. Er arbeitete weiter und nach drei (!) Stunden waren sie endlich fertig. Tante Gerda strahlte übers ganze Gesicht. Leo duschte ausgiebig und machte sich auf nach Altötting, um sich dort nach der anstrengenden Arbeit auf dem Kapellplatz einen Cappuccino zu gönnen. Natürlich hatte er Tante Gerda eingeladen, aber sie hatte für den morgigen Besuch noch viel zu viel vorzubereiten und war rasch im Haus verschwunden.
Auf dem Kapellplatz herrschte ein reges Treiben. Von allen Seiten trafen neue Gruppen ein und vermischten sich mit den anderen Wallfahrern und Touristen. Vor und um die Gnadenkapelle hatten sich riesige Menschentrauben gebildet, die alle noch versuchten, in das winzige Innere der berühmten Wallfahrtskirche zu gelangen, um dort die Schwarze Madonna bewundern zu können. Viele waren hier, um ihr persönliches Anliegen und ihre Bitten vorzubringen, andere waren nur neugierig. Leo zog wegen seinem eigentümlichen Kleidungsstil auch heute wieder viele Blicke auf sich, denn neben den üblichen Jeans und Cowboystiefeln trug er ein schwarzes T-Shirt mit dem Aufdruck einer Rockband aus den 80er-Jahren, die außer ihm keiner mehr kannte. Das wäre nicht so schlimm gewesen, wenn die Abbildung auf dem T-Shirt nicht mit einem riesigen Totenkopf in neongelb umrandet gewesen wäre; und dieser auffällige Totenkopf passte für viele Gläubige nicht an diesen ehrenwerten Ort. Leo war das vollkommen gleichgültig und er bemerkte die abschätzenden und abfälligen Blicke nicht. Oder war er mittlerweile sogar daran gewöhnt? Er gönnte sich noch ein Weißbier, denn auch am morgigen Feiertag Fronleichnam hatte er frei. Und das bei diesem Wetter! Er hatte das Glas noch nicht ganz leer, als er spürte, dass auf der rechten Seite des Kapellplatzes etwas vor sich ging, das hier nicht her passte. Die Passanten wurden unruhig und dann hörte er mehrere Frauen schreien. Leo sprang auf und lief zu dem Geschehen, das er noch nicht deuten konnte. Was war da los? Dann sah er einen Mann, der an der Handtasche einer alten Frau zerrte. Die alte Dame klammerte sich an den Schultergurt ihrer Tasche, aber der Dieb war kräftiger, riss die Tasche an sich und dabei fiel die alte Dame der Länge nach hin. Ohne sich umzudrehen rannte der Dieb davon. Leo war nur noch wenige Meter entfernt, aber der Dieb rannte nicht in seine Richtung, sondern lief direkt auf die Gnadenkapelle zu; es war offensichtlich, dass er in der Menschenmenge untertauchen wollte. Die alte Frau war völlig geschockt, als Leo zu ihr durchdringen konnte. Immer mehr Schaulustige hatten sich um das Diebstahlopfer versammelt, unfähig, irgendetwas zu tun. Er hatte sein Handy schon in der Hand und wollte den Notarzt rufen, als er bemerkte, dass etwas an der Gnadenkapelle vor sich ging, was ebenfalls nicht hierhergehörte. Zum Glück war er mit seinen 1,90 m im Vorteil und konnte über die meisten Schaulustigen hinwegsehen. Sah er richtig? War da eine Art Comicfigur?
„Rufen Sie den Notarzt und die Polizei,“ rief er laut in die Menge und hoffte darauf, dass zumindest einer seiner Anweisung Folge leistete. Er rannte zur Gnadenkapelle und stand schließlich vor einem Mann Ende 20, der ihn anstrahlte und triumphierend die geklaute Handtasche in die Höhe hielt. Von dem Dieb war weit und breit nichts zu sehen. Leo betrachtete den Mann genauer. Er war 1,75 m groß, korpulent und trug einen Schlafanzug mit Turnschuhen, über dem ein breiter Handwerkergürtel hing, der mit den wildesten Utensilien bestückt war: Ein gelbes Plastikschwert, mehrere Schlüssel, Plastikringe und ein echter Hammer. Die Augen waren mit einer schwarzen Farbe umrandet und er hatte eine große Brillenfassung ohne Gläser auf der Nase. Das Ganze toppte ein Trachtenhut mit einem riesigen Gamsbart.
„Papiere,“ sagte Leo außer Atem und zeigte seinen Ausweis.
Der Mann schien ihn nicht zu verstehen.
„Haben Sie einen Ausweis dabei?“
„Martin-Man hat die geklaute Handtasche,“ rief er laut, strahlte immer noch und hielt die Handtasche in die Höhe.
Erst jetzt erkannte Leo, dass er vor einem kranken Mann stand. Was sollte er tun? Leo entschied, einen Arzt zu rufen. Gerade, als er wählen wollte, rannte eine ältere Frau aufgeregt auf ihn zu.
„Das ist mein Sohn, sein Name ist Martin Mahnstein. Hat er etwas angestellt?“
„Ganz im Gegenteil. Eine Handtasche wurde geklaut und so wie ich das beurteilen kann, hat Ihr Martin sie dem Dieb entreißen können. Ich wollte nur seine Personalien feststellen.“
„Martin tut niemandem etwas. Er spielt gerne einen Superhelden und nennt sich Martin-Man. Normalerweise verlässt er nie alleine das Haus, aber heute ist er mir ausgebüchst. Ich habe nur einen kurzen Moment nicht aufgepasst. Sein Ausweis ist zuhause. Wenn Sie möchten, werde ich ihn holen.“ Frau Mahnstein verschwieg lieber, dass ihr Martin in seinem selbst kreierten Superhelden-Kostüm immer wieder verschwindet. Die Polizei hatte ihn sogar schon drei Mal aufgegriffen und zuhause abgeliefert. Aber das hier vor allen Leuten zuzugeben, war ihr zu peinlich. Sie würde am liebsten ihren Martin an die Hand nehmen und so schnell wie möglich von hier verschwinden.
„Danke, den Ausweis brauche ich nicht. Ihre Angaben genügen.“
Leo spürte, dass Frau Mahnstein die Situation sehr unangenehm war. Es hatten sich noch mehr Menschen eingefunden, die nach anfänglicher Bewunderung nun in Gelächter verfielen. Immer mehr zeigten auf Martin und machten sich über ihn lustig, was Leo vor allem direkt vor der Gnadenkapelle absolut unangebracht fand.
„Sperren Sie den Idioten endlich ein!“ Diese und ähnliche Zurufe kamen aus allen Richtungen und Leo wurde immer wütender.
„Halten Sie endlich den Mund, jetzt ist Schluss!“ schrie er in die Menge. „Sie sollten sich schämen!“ Es war tatsächlich einen kleinen Moment ruhig geworden, aber dann mehrten sich die Stimmen wieder und auch die Beschimpfungen und Sticheleien nahmen zu. Leo gab auf, das hatte keinen Sinn, mit der Vernunft der Menschen war nicht zu rechnen. Ein Idiot fing immer mit den Pöbeleien und Beschimpfungen an, andere folgten. Leo beachtete die Menschen nicht mehr und musste sich dazu zwingen, nicht hinzuhören. Leo nahm Martin den Hammer ab und übergab ihn seiner Mutter, das schien ihm sicherer.
„Geben Sie mir bitte die Handtasche.“
Martin war irritiert. Warum sollte er dem Fremden die Tasche geben? Das Lächeln war verschwunden und er wurde unsicher. Seine Mutter tätschelte ihm die Wange.
„Das hat Martin-Man sehr gut gemacht. Der Mann ist von der Polizei. Sei so lieb und gib ihm die Handtasche.“
Leo zeigte nochmals seinen Ausweis und dann endlich gab ihm Martin die Tasche.
„Vielen Dank Martin-Man. Komm mit, dann können wir beide die Tasche an die Besitzerin zurückgeben.“
Leo ging mit Martin und dessen Mutter zum inzwischen eingetroffenen Notarztwagen, der vor einem Devotionalienladen stand und dessen Angestellte darüber überhaupt nicht begeistert waren, denn so konnten die Kunden das Geschäft nicht betreten und waren dazu auch noch abgelenkt. Die Verkäuferinnen sahen unentwegt auf die Uhr. Gerade jetzt und vor ihrem Geschäft musste der Notarztwagen stehen. Das Geschäft mit Andenken, Kerzen, Weihwasser, Rosenkränzen und dem sonst üblichen Nippes war auch so schon hart genug. Hoffentlich war das hier bald beendet und der Eingang des Geschäfts war wieder frei zugänglich, sonst würden sie vom Chef wieder einen riesigen Anschiss kassieren, wenn die Einnahmen nicht seinen Erwartungen entsprachen. Inzwischen waren auch zwei Streifenwagen mit vier Kollegen eingetroffen, die auf Leos kurze Anweisung hin die Befragung der Passanten übernahmen.
Das Diebesopfer war sichtlich mitgenommen und saß im Notarztwagen. Ein Arzt kümmerte sich um die Frau und ihr Mann hielt ihr dabei die Hand.
„Hier haben wir Ihre Tasche. Sie können sich bei dem jungen Mann bedanken. Er hat sich mutig für Sie eingesetzt und dem Dieb die Tasche entrissen.“
Die alte Frau war zuerst über Martins Aussehen erschrocken, aber als sie ihre Handtasche erkannte, strahlte sie. Sie holte ihre Geldbörse hervor und gab Martin einen 50 €-Schein.
„Vielen Dank,“ sagte sie nur und lehnte sich wieder zurück, die Aufregung war zu viel für sie.
Martin war irritiert und starrte auf den Geldschein in seiner Hand. Was sollte er damit machen?
„Martin versteht nicht, was Geld bedeutet. Für ihn ist das nur Papier. Außerdem ist er gerne ein Superheld und die verlangen nie etwas für ihre Taten,“ erklärte Frau Mahnstein ruhig, aber immer noch beschämt. Sie wollte weg hier, so schnell wie möglich, denn sie bemerkte, dass auch hier immer mehr Menschen stehenblieben, über ihren Sohn sprachen und sich über ihn lustig machten. Auch Leo spürte die Blicke und hörte das eine oder andere abfällige Wort hinter vorgehaltener Hand und hätte nicht übel Lust gehabt, jedem einzelnen die Meinung zu geigen. Aber das brachte nichts, seine Aufmerksamkeit galt nun einzig und allein Martin und seiner Mutter. Er musste beide aus der Situation bringen.
„Martin-Man hat eine Belohnung verdient. Was hältst du davon, wenn wir beide in den Spielzeugladen in der Bahnhofstraße gehen? Du darfst dir für deine mutige Tat etwas aussuchen. Hast du Lust? Natürlich nur, wenn deine Mutter einverstanden ist.“ Frau Mahnstein zögerte. „Keine Sorge, ich bringe ihn gleich nach dem Spielzeugladen nach Hause.“
Eigentlich wollte Frau Mahnstein so schnell wie möglich mit ihrem Sohn nach Hause gehen. Das alles hier und die Tatsache, dass ihr Sohn in seiner Verkleidung in der Öffentlichkeit auftrat, setzte ihr ganz schön zu. Aber als sie sah, wie ihr Martin strahlte und Leos Hand nahm, konnte sie nicht anders und willigte ein. Voller Scham und vor allem voller Sorgen ging sie nach Hause in die Trostberger Straße, die nur wenige Gehminuten vom Kapellplatz entfernt war.
Als der Notarztwagen wegfuhr und die Menschenmenge sich auflöste, konnten nun auch die Verkäuferinnen des Devotionaliengeschäfts endlich aufatmen.
Während sich Martin mit großen Augen im Spielzeugladen umsah, hielt ihm Leo dabei den Rücken frei. Ausnahmslos alle Erwachsenen starrten Martin an und zogen ängstlich ihre Kinder zur Seite. Auf den einen oder anderen Spruch reagierte Leo sehr empfindlich und wies die jeweilige Person deutlich zurecht. Nur die Kinder hatten kein Problem mit Martin und behandelten ihn ganz normal. Martin stand unschlüssig vor dem Regal mit seinen geliebten Actionfiguren und konnte sich nicht entscheiden. Seine Augen wanderten von einer zur anderen Figur und wieder zurück. Leo hatte großen Spaß an Martins kindlicher Freude und drängte ihn nicht, er hatte jede Zeit der Welt. Endlich griff Martin zu und sah Leo fragend an.
„Diese willst du haben?“ Martin nickte. „Bist du dir ganz sicher?“
„Die will ich. Hast du so viel Geld?“
Statt einer Antwort nickte Leo und sie gingen zur Kasse, wo Martin nur ungern die Figur aus der Hand gab. Sobald der Preis eingetippt war, nahm er die Figur sofort wieder an sich. Die 50 € reichten nicht ganz, aber Leo legte gerne den Differenzbetrag drauf. Nach wenigen Minuten standen sie vor Martins Elternhaus in der Trostberger Straße. Das Haus war aus den 50er-Jahren und wirkte sehr farblos. Man sah, dass schon lange nichts mehr am Haus gemacht wurde. Aber der kleine Vorgarten war sehr hübsch angelegt und gefiel Leo ausnehmend gut. Er sah sogar noch besser aus als der von Tante Gerda, was er ihr aber nie sagen würde.
Frau Mahnstein sah aus dem Fenster im ersten Stock. Sie hatte nach ihrem Sohn Ausschau gehalten und war nun beruhigt, als sie ihn und den freundlichen Polizisten erblickte.
„Schau mal Mama, was mir Leo gekauft hat,“ rief Martin und hielt dabei seine Actionfigur in die Luft.
„Sehr schön Martin. Kommt rauf, ich habe Kakao gemacht.“
Martin ging durch die Gartentür ums Haus und stieg die Kellertreppe nach unten. Sie passierten dabei einen kleinen Garten, in dem ein Sandkasten, ein Fußballtor und viele Spielsachen lagen. In diesem Garten führte eindeutig Martin das Regiment, denn Leo bemerkte nicht eine Blume oder einen Zierstrauch, von denen es im Vorgarten nur so wimmelte. An der Kellertür hing eine künstliche Pflanze, hinter der Martin einen Schlüssel hervorzog.
„Du darfst niemandem sagen, dass hier der Schlüssel ist, das hat die Mama verboten. Aber die Polizei darf das natürlich wissen.“
Leo folgte Martin die Treppe nach oben. Das Treppenhaus war schon älter, die Wände waren schon viele Jahre nicht mehr gestrichen worden und auch die Möbel waren sehr abgewohnt. Nicht nur das äußere Erscheinungsbild, sondern auch das Innere des Hauses bestätigte Leo, dass es an finanziellen Mitteln fehlte.
Frau Mahnstein hatte den Tisch hübsch gedeckt und hatte für den Besuch extra Kuchen gekauft. Martin wusch sich die Hände und Leo tat es ihm gleich. Der junge Mann trank seinen Kakao, aß seinen Kuchen und spielte dann mit seiner Actionfigur.
„Vielen Dank Herr Schwartz, Sie sind sehr freundlich. Es ist für Martin nicht die Normalität, dass man offen und freundlich auf ihn zugeht. Normalerweise macht jeder einen großen Bogen um ihn. Ich beichte lieber gleich, dass ich vorhin geschwindelt habe. Martin ist in der Vergangenheit mehrfach ausgebüchst, das wollte ich vor den ganzen Leuten nicht zugeben. Verzeihen Sie mir, dass ich Sie angelogen habe.“ Leo war überrascht von der Offenheit der Frau. Wie alt mochte sie sein? Über 60? Oder sogar 70? Ihre ganze Erscheinung war altmodisch und zweckmäßig. Die Kleidung und die fast weißen Haare, die sie zu einem dünnen Zopf gebunden hatte, machten sie älter als sie war. Wenn er nicht gewusst hätte, dass die Frau Martins Mutter war, hätte sie auch locker die Großmutter sein können. Frau Mahnstein ahnte von diesen Gedanken nichts und wenn, wäre es für sie nicht wichtig gewesen. Das waren für sie nur Äußerlichkeiten, die für sie nicht im Vordergrund standen. Für sie gab es nur ihren Martin und die Sorge um ihn. Josefa Mahnstein war erleichtert, als Leo sie anlächelte, sie hatte sich wegen ihrer Lügen einem Polizisten gegenüber schon Sorgen gemacht. „Mein Junge kam viel zu früh zur Welt und die Ärzte haben falsch reagiert. Aber so spielt das Leben nun mal. Körperlich ist bei Martin zum Glück alles in Ordnung. Mein Martin ist ein herzensguter Mensch, der immer nur das Gute in allem und jedem sieht. Ich muss ihn vor den anderen, vermeintlich gesunden Menschen schützen, die meinen Jungen immer nur auslachen und ärgern. Trotz allem ist Martin ein Gottesgeschenk und um nichts in der Welt würde ich ihn hergeben.“ Die Frau sprach mit so einer Liebe, was Leo sehr ans Herz ging. „Martin ist jetzt 28 Jahre alt und seit seiner Geburt spare ich jeden Pfennig für seine Zukunft. Deshalb lasse ich auch im und ums Haus nichts herrichten, das kostet nur viel Geld und bringt später beim Verkauf auch nicht viel mehr. Wir bekommen nur sehr wenig Besuch und ich muss zugeben, dass ich mich für mein Haus vor Ihnen schäme Herr Schwartz. Aber ich muss sparen, und zwar so viel wie möglich. Wenn ich mal nicht mehr bin, soll mein Martin so viel Geld haben, dass er in einer sehr guten Einrichtung untergebracht werden kann, in der man sich perfekt um ihn kümmert.“
„Was ist mit Martins Vater?“
„Er ist abgehauen, als klar war, dass Martin nicht gesund wird und Zeit seines Lebens auf Hilfe angewiesen ist. Er zahlte nie Unterhalt, angeblich hatte er nicht genug Geld.“
„Andere Familienmitglieder, die Sie unterstützen?“
„Die können Sie vergessen, auch die wollen mit uns nichts zu tun haben. Außer klugen Ratschlägen kam da nie etwas. Sie schämen sich oder sind überfordert. Was auch immer, das Ergebnis ist dasselbe. Ich war schon immer allein für meinen Jungen da. Die Vorstellung, dass mir etwas passieren könnte, lässt mir nachts oft keine Ruhe. Aber noch bin ich da und wir führen ein perfektes Leben.“
„Wenn Sie erlauben, dann würde ich Martin ab und zu gerne besuchen.“
Martin sah Leo an. Er schien vertieft in sein neues Spielzeug, aber er hatte offenbar verstanden, was gesprochen wurde.
„Du willst mein Freund sein?“
„Ich bin dein Freund. Darf ich dich besuchen kommen?“
Statt einer Antwort sprang Martin auf und umarmte Leo.
„Machen Sie dem Jungen bitte keine Versprechungen, die Sie nicht halten können. Jede Enttäuschung setzt ihm sehr zu, er versteht das nicht.“
„Ich pflege meine Versprechen einzuhalten. Vielen Dank für Ihre Gastfreundschaft. Wir sehen uns wieder.“
Auf dem Nachhauseweg dachte Leo über Martin nach. Der Junge war ihm sofort ans Herz gewachsen. Die Begegnung mit ihm und das Gespräch mit der Mutter zogen ihn ganz schön runter. Noch vor wenigen Stunden hatte er sich über das heiße Wetter beschwert, was ihm jetzt echt idiotisch vorkam. Frau Mahnstein hätte allen Grund dazu, sich zu beschweren und mit ihrem Schicksal zu hadern, war aber trotzdem zufrieden. An ihr sollte man sich ein Beispiel nehmen. Er nahm sich fest vor, ihr zu helfen. Wie, wusste er jetzt noch nicht.
Er hatte noch keine Lust darauf, nach Hause zu fahren, wo Tante Gerda doch nur rotierte und sich für ihren morgigen Besuch kaputt schuftete. Heute wäre der perfekte Tag für einen ersten Biergartenbesuch in diesem Jahr. Der Himmel zog sich zwar zu, aber es war noch warm genug. Fast 18.00 Uhr, seine Viktoria müsste eigentlich Feierabend haben. Er wählte ihre Handynummer und war bester Laune.
„Biergarten hört sich verlockend an, aber daraus wird leider nichts. Wir haben einen neuen Mordfall.“
„Um was geht es?“
„Irgend so ein Spinner hat sich bei einem Streit eingemischt und sich als Retter aufgespielt. Die Sache ist eskaliert und der vermeintliche Rächer hat zugestochen. Die Spurensicherung ist bereits vor Ort.“
Leo hatte angehalten, denn ihm wurde übel. Vor der nächsten Frage grauste ihm.
„Wo ist der Tatort?“
„Altötting in der Marienstraße, das ist in der Nähe vom Kapellplatz. Der Täter ist flüchtig. Wir haben mehrere Zeugenaussagen, vielleicht sind die brauchbar. Außerdem hat die Altöttinger Polizei einen Hinweis auf einen Typen gegeben, der schon als Retter in der Not aufgefallen ist. Der Fall wird ein Kinderspiel. Wir sind noch nicht mal am Tatort und haben schon einen Verdächtigen.“
„Wie heißt der Verdächtige?“
„Warum willst du das wissen? Du hast heute und morgen frei, genieß die Zeit. Nächste Woche bekommst du alle Einzelheiten, wenn wir den Fall bis dahin nicht schon gelöst haben.“ Viktoria lachte, aber Leo wurde immer schlechter.
„Der Name, Viktoria. Gib mir bitte den Namen!“
„Na gut, wie du willst. Der Verdächtige heißt Martin Mahnstein.“
2.
Leo wendete den Wagen und fuhr so schnell wie möglich zurück nach Altötting. Das konnte doch nicht wahr sein, das durfte einfach nicht sein. War Martin abermals ausgebüchst? Aber er war nicht gewalttätig. Und wie sollte er an ein Messer kommen?
Viktoria staunte nicht schlecht, als ihr Kollege und Lebensgefährte Leo Schwartz vor dem Haus der Mahnsteins in der Trostberger Straße aus seinem Wagen stieg. Sie hatte ihm die Adresse nicht genannt. Sie ging auf ihn zu und erschrak, als sie sein Gesicht sah.
„Was ist mit dir? Was hast du mit Martin Mahnstein zu tun?“
Leo erzählte ausführlich die kleine Episode auf dem Kapellplatz, die sich erst vor wenigen Stunden zugetragen hatte. Viktoria hörte geduldig zu. Der 54-jährige Kollege Hans Hiebler, der letzten Sonntag seinen Geburtstag gefeiert hatte, gesellte sich zu ihnen und folgte aufmerksam Leos Ausführungen. Auch heute umgab den sportlichen, attraktiven, 1,80m großen Mann ein betörender Herrenduft, der Viktoria im Wageninneren fast den Atem geraubt hätte.
„Wir haben zwei Zeugenaussagen, die sich mit deiner Aussage weitgehend decken. Allerdings beschreiben sie den verkleideten Mann als aggressiv und sehr gefährlich. Bei der Altöttinger Polizei ist er mehrfach aufgefallen, allerdings halten die Martin Mahnstein für harmlos.“
„Das ist genau meine Rede. Martin ist nicht gewalttätig. Und nie im Leben hat der einen Menschen erstochen.“
„Trotzdem müssen wir den Hinweisen nachgehen. Ob es dir nun passt, oder nicht.“
Die 49-jährige, 1,65 m große und sehr attraktive Viktoria Untermaier war die Chefin der Kriminalpolizei und mochte es nicht, wenn man ihre Vorgehensweise kritisierte. Sie stemmte die Arme in die Hüften, wodurch sie signalisierte, dass sie sich nicht von ihrem Vorhaben abbringen lassen wollte. Leo wusste, dass sie den Hinweisen nachgehen musste und gab schließlich nach.
„Ich werde euch begleiten. Lasst mich mit dem Jungen sprechen, mir vertraut er.“
„Du bist nicht im Dienst Leo,“ stöhnte Viktoria auf, die keine Lust darauf hatte, mit drei Mann zu einer Befragung zu erscheinen. Allerdings kannte sie Leos Hartnäckigkeit. Und sie zweifelte nicht an Leos Schilderungen. „Also gut, gehen wir.“
Frau Mahnstein war erschrocken, dass gleich drei Polizisten mit ihr bzw. mit ihrem Sohn sprechen wollten. Vor allem die Tatsache, dass Leo Schwartz dabei war, irritierte sie. Hatte der Vorfall auf dem Kapellplatz doch noch ein Nachspiel?
„Wo ist Martin?“
„Er spielt im Garten.“
Frau Mahnstein zeigte auf ein Fenster und die Polizisten blickten hinaus. Martin rannte in seinem Kostüm auf dem kleinen Grundstück auf und ab und hielt die neue Actionfigur in die Luft. Martin lachte und hatte Riesenspaß.
„War er die ganze Zeit im Garten? Hatten Sie ihn ununterbrochen im Auge?“
„Ich habe das Abendessen vorbereitet. Ich bin mir sicher, dass Martin die ganze Zeit im Garten war.“
„Trotzdem könnte er weggelaufen sein, ohne dass Sie es mitbekommen haben. Ihr Sohn ist heute schließlich schon einmal abgehauen. Wie können Sie sich da sicher sein, dass Ihr Sohn immer hier war?“
Leo sah Viktoria mit einem strengen Blick an. So hart musste man mit Frau Mahnstein nicht sprechen.
„Ich bin mir ganz sicher und bleibe dabei: Martin war hier.“ Jetzt ging sie auf Leo zu. „Sagen Sie mir, was passiert ist. Diese Befragung und die Tatsache, dass gleich drei Polizisten hier sind, haben doch nichts mehr mit dem zu tun, was vorhin auf dem Kapellplatz passiert ist. Hier geht es doch um etwas ganz anderes.“ Frau Mahnstein sah ihn angsterfüllt an und er entschied, ihr die Wahrheit zu sagen.
„Ein Mann wurde nahe des Kapellplatzes erstochen. Zeugen behaupten, dass es Martin gewesen ist. Wir kommen nicht umhin, ihn mitzunehmen. Wir werden seine Kleidung untersuchen und dabei wird sich schnell herausstellen, dass Martin nichts damit zu tun hat.“
„Mein Martin ist kein Mörder! Sie haben ihn kennengelernt Herr Schwartz, er kann keiner Fliege etwas zuleide tun.“
„Das weiß ich und die ganze Angelegenheit wird sich aufklären.“
„Sie wollen meinen Sohn wirklich mitnehmen?“
„Sie können ihn gerne begleiten, das ist kein Problem.“
„Das geht nicht. Ich habe eine Putzstelle, zu der ich Martin mitnehmen kann. Ich kann es mir nicht leisten, auf das Geld zu verzichten und diesen Job aufs Spiel zu setzen.“ Frau Mahnstein war außer sich und zitterte.
„Machen Sie sich keine Sorgen, ich kümmere mich um Martin.“
„Bringen Sie ihn mir wieder zurück? Sehe ich ihn wieder? Bitte bringen sie ihn nicht in eine psychiatrische Anstalt, tun Sie das meinem Jungen nicht an.“ Frau Mahnstein war außer sich. Sie fürchtete sich schon lange vor solch einer Situation und hatte tatsächlich die Befürchtung, dass sie ihren Sohn nicht mehr wiederbekäme, wenn er erst einmal in die Fänge der Justiz gelangte. Erst gestern hatte sie wieder einen Bericht über einen ähnlichen Fall gelesen und wollte ihren Sohn auf keinen Fall dem ausliefern. Die Polizisten waren erschrocken über die Panik, die Frau Mahnstein im Gesicht abzulesen war.
„Ich werde immer an Martins Seite bleiben. Und ich verspreche Ihnen, dass ich ihn wieder wohlbehalten nach Hause bringe. Es kann allerdings etwas dauern.“
„Martin muss um 19.00 Uhr zu Abend essen. Es ist wichtig, dass er seinen Tagesablauf und seine Gewohnheiten wenigstens annähernd einhält. Alles andere verwirrt ihn. Warten Sie, ich werde eine Brotzeit herrichten.“
„Lassen Sie nur Frau Mahnstein, ich kümmere mich darum. Er wird bei der Polizei nicht verhungern.“
Martin freute sich, Leo zu sehen und ging ohne weiteres mit ihm mit. Er fragte nicht einmal nach seiner Mutter, die am Fenster stand und sich so lange um ihren Sohn Sorgen machen würde, bis sie ihn wieder in die Arme schließen konnte. Sie glaubte keine Sekunde, dass ihr Sohn zu einem Mord fähig wäre, daran verschwendete sie keinen einzigen Gedanken. Sie machte sich die größten Sorgen darüber, dass sie ihren Martin verlieren würde.
Leo fuhr mit Martin nach Mühldorf, während die Kollegen den Tatort in Augenschein nahmen, dafür hatte Leo jetzt noch kein Interesse. Er wollte sein Versprechen einhalten und mit Martin gemeinsam zur Spurensicherung, damit dort seine Kleidung überprüft werden konnte. Auf der Fahrt nach Mühldorf stellte Leo alle möglichen Fangfragen, die Martin mehr oder weniger beantwortete. Durch die Autofahrt war er sehr abgelenkt, er sah ständig etwas Neues. Frau Mahnstein hatte kein Auto und für Martin war eine Autofahrt fast so interessant wie seine Superhelden.
„Das ist Martin Mahnstein.“ Friedrich Fuchs, Leiter der Spurensicherung, war bereits von Viktoria telefonisch informiert worden. Es war ihm egal, ob der Verdächtige krank oder gesund war, er machte nur seine Arbeit. Martin musste seine Hände herzeigen. Fuchs ging mit leichten Klebestreifen über die Haut, nahm mit verschiedenen Substanzen Proben, was alles sehr zu kitzeln schien, denn Martin lachte und jauchzte. Dann sollte er sein Superheldenkostüm ausziehen, aber er weigerte sich.
„Wir leihen uns das Kostüm nur aus, du bekommst es so schnell wie möglich wieder. Inzwischen darfst du einen Jogginganzug der Polizei anziehen. Na? Was sagst du?“
Martin war sofort begeistert und zog sich in Windeseile aus. Stolz drehte er sich im Kreis, als er den Jogginganzug anhatte.
„Ich bin jetzt auch ein Polizist, genauso wie du Leo,“ sagte er stolz.
Dann gingen die beiden in die Kantine. Martin hatte Hunger, außerdem war es schon nach 19.00 Uhr. Martin stand mit großen Augen vor der üppigen Auslage und konnte sich nur schwer entscheiden. Noch nie vorher hatte Martin so viel zu Essen zur Auswahl gehabt, er hatte in seinem ganzen Leben immer nur bei seiner Mutter gegessen. Die beiden aßen mit großem Appetit. Endlich bekam Leo den Anruf; die anderen waren in Mühldorf eingetroffen.
Rudolf Krohmer, Leiter der Polizeiinspektion Mühldorf am Inn, staunte nicht schlecht, als Leo zusammen mit dem Verdächtigen Hand in Hand auf dem Gang auf ihn zukam.
„Würden Sie mir das bitte erklären?“
„Das erklärt sich von selbst, wenn Sie Martin kennengelernt haben.“
Sie betraten das Besprechungszimmer, in dem Viktoria und Hans bereits warteten. Sie setzten sich und noch bevor Krohmer etwas sagen konnte, stupste ihn Martin an und zeigte auf seinen Jogginganzug.
„Hast du gesehen? Ich bin jetzt auch Polizist. Ich habe auch einen Polizeianzug. Bist du auch Polizist?““
Krohmer nickte und verstand sofort. Unbekümmert und unbeschwert antwortete Martin auf alle ihm gestellten Fragen. Dann hatte er keine Lust mehr und bockte. Leo sprach mit Engelszungen, aber Martin wollte nicht mehr. Er begann sich zu langweilen, das lange Sitzen und die vielen Fragen war er nicht gewöhnt. Die Tür ging auf und ohne Anzuklopfen kam Krohmers Sekretärin Hilde Gutbrod in das Besprechungszimmer. Wieder einmal hatte man sie nicht über die Besprechung informiert und sie wollte sich persönlich davon überzeugen, was eigentlich los war, denn ihre Informationsquellen gaben nichts Vernünftiges her. Wer war der junge Mann im Jogginganzug der Polizei, der sie mit offenem Mund anstarrte?
„Boah, du glitzerst aber schön,“ rief Martin. „Bist du eine Königin?“ Frau Gutbrod war 63 Jahre alt und ignorierte ihr Alter nicht nur, sondern reagierte sehr empfindlich, wenn sie darauf angesprochen wurde. Schon seit vielen Jahren kämpfte sie mehr oder weniger erfolgreich gegen die Zeichen der Zeit an. Sie färbte die Haare in immer kürzeren Abständen, schminkte sich sehr stark und ließ sich regelmäßig Falten unter- und Lippen aufspritzen. Sie kleidete sich wie eine 20-jährige, wobei die Röcke immer kürzer und die Schuhe immer höher wurden. Ihr überladener Schmuck klimperte und glitzerte bei jeder noch so kleinen Bewegung.
Frau Gutbrod war eigentlich verärgert, dass man sie wieder einmal übergangen und ignoriert hatte. Aber als sie sich den jungen Mann näher betrachtete, begriff sie sofort und ihr wurde das Herz schwer. Sie hatte in ihrer Kindheit einen sehr guten Freund, der dem jungen Mann hier sehr ähnlich war. Sie hatte damals nicht verstanden, dass dieser Freund einfach so von einem auf dem anderen Tag nicht mehr mit ihr spielen durfte. Er musste sogar auf eine besondere Schule. Und irgendwann zog die Familie für immer weg.
„Nein, ich bin keine Königin. Ich bin die Hilde, und wie heißt du?“ Sie nahm sich einen Stuhl und drängte sich zwischen Krohmer und den jungen Mann.
„Ich bin der Martin. Und wenn ich mein Kostüm anhabe, dann bin ich der Superheld Martin-Man. Aber ich musste mich ausziehen und mein Kostüm abgeben. Leo hat versprochen, dass ich es später wiederbekomme. Und jetzt bin ich auch Polizist, wie Leo. Schau doch, was ich anhabe!“
„Das ist ja toll.“
Die beiden unterhielten sich lange. Die Polizisten waren erstaunt, wie gut Frau Gutbrod mit Martin umgehen konnte und wie sie ihm eine Information nach der anderen ohne Probleme entlockte. Aber keine seiner Antworten deuteten darauf hin, dass er mit dem Vorfall in der Marienstraße in Altötting etwas zu tun haben könnte oder gar in letzter Zeit ein Messer in der Hand hatte.
„Nein, ein Messer darf ich nicht haben. Die Mama sagt immer, dass das gefährlich ist. Und gefährliche Sachen mag ich nicht. Ich möchte kein Aua.“
„Da hat deine Mama vollkommen Recht! Messer sind sehr gefährlich. Was hältst du davon, wenn wir beide in die Kantine gehen?“
„Du meinst da, wo es Millionen Essen gibt? Da war ich schon mit Leo, mein Bauch ist voll.“
„Meinst du, ein kleines Eis würde da noch reinpassen?“
Martin war begeistert, sprang auf und nahm Frau Gutbrods Hand. Sie drehte sich vor dem Hinausgehen um und sagte mit erhobenem Zeigefinger: „Lassen Sie Martin in Ruhe, der ist der harmloseste Mensch den ich kenne.“
„Was ist denn mit der los?“ rief Leo überrascht, denn sonst benahm sich Frau Gutbrod sehr zickig.
„Sie hat Martin ins Herz geschlossen. Erinnert ihr euch an Karl, als es um den Mord mit diesem Faschingskostüm ging? Auch diesen Karl hat sie unter ihre Fittiche genommen. Tja, wir unterschätzen alle die Frau, die unter ihrer zugekleisterten, künstlichen Maske ein Riesenherz hat. Das ist uns nur noch nicht aufgefallen.“ Hans musste lachen, denn immer wieder geriet er in der Vergangenheit mit Frau Gutbrod aneinander, die ihre Neugier und ihre Einmischungen einfach nicht unter Kontrolle hatte. Trotzdem wusste er, dass ihr Rentenbeginn kurz bevorstand und wurde wehmütig, er hatte sich in all den Jahren an ihre Marotten gewöhnt.
„Wie dem auch sei,“ unterbrach Krohmer. „Wir haben einen Mordfall und dieser Martin ist bisher unser Hauptverdächtiger, so sympathisch und harmlos er auch sein mag. Was sagen denn nun die Zeugen? Was ist mit der Aussage der Frau, die in den Streit verwickelt war? Wer ist die Frau überhaupt?“
„Die Frau heißt Lena Schuster, 22 Jahre alt, Sprechstundenhilfe. Sie kommt aus einem gutbürgerlichen Haus und war bisher noch nicht auffällig. Sie sagte zu der Tat und auch zu dem Mann, der ihr geholfen hatte, absolut nichts.“
„Aber wenn es Martin gewesen wäre, dann müsste ihr doch diese lächerliche Verkleidung aufgefallen sein,“ sagte Krohmer mit Blick auf die Fotos, die Fuchs vorhin gemacht hatte.
„Lena Schuster sagte aus, dass alles viel zu schnell ging. Wir würden sie gerne nochmals ausführlich befragen, aber ihr Arzt hat es verboten. Die Frau sah echt übel aus. Der Tote hat sie heftig verprügelt.“
„Andere Tatzeugen?“
Viktoria schüttelte den Kopf.
„Niemand, der die Tat selbst gesehen hat. Als die Polizei längst vor Ort war, haben sich Schaulustige eingefunden, auf deren Aussage hin wir auf Martin Mahnstein gekommen sind. Als einer der Polizisten bestätigte, dass Martin bereits mehrfach als selbsternannter Retter auffällig geworden ist, sind wir natürlich davon ausgegangen, dass wir den Täter haben.“
„Das waren bestimmt Passanten, die den Vorfall auf dem Kapellplatz mitbekommen haben und sich wichtig gemacht haben,“ maulte Leo. Ausführlich schilderte er nochmals den Handtaschendiebstahl und wie Martin diese dem Dieb entreißen konnte. Er verschwieg auch nicht, wie sich die Passanten danach abfällig über Martin geäußert hatten.
„Ich verstehe Sie ja, Kollege Schwartz. Auch wenn Sie anderer Meinung sind, bleibt Martin unser Hauptverdächtiger, obwohl ich auch nicht daran glaube und die Sachlage sehr dünn ist. Wie lange braucht die Spurensicherung, um Martins Kleidungsstücke zu untersuchen?“
„In zwei bis drei Stunden dürften sie damit fertig sein.“
„Gut, so lange bleibt Martin bei uns.“
„Aber er wird nicht eingesperrt, das können wir nicht machen,“ protestierte Leo, der sich um Martin sorgte.
„Natürlich sperren wir ihn nicht ein. Denken Sie, ich bin ein Unmensch? Frau Gutbrod kümmert sich derweil um ihn, ich spreche nachher mit ihr. Kommen wir auf den Mordfall zurück: Über das Opfer haben wir noch gar nicht gesprochen. Ich bin gespannt, um wen es sich dabei handelt.“
„Der Mann heißt Kevin Eichinger, 42 Jahre. Er ist einschlägig vorbestraft wegen Körperverletzung und Einbruch-Diebstahl; ein Eintrag wegen häuslicher Gewalt.“
„Dann hat es ja keinen Unschuldigen getroffen,“ murmelte Leo.
„Reißen Sie sich zusammen Herr Schwartz, das habe ich nicht gehört,“ sagte Krohmer, der ähnlich dachte, das aber nie zugeben würde.
„Ermitteln Sie in Eichingers Umfeld.“
„Zu dritt?“ maulte Viktoria, die nach dem Weggang von Sebastian Kranzbichler noch keinen Ersatz bekommen hatte.
„Dazu habe ich eine sehr gute Nachricht: Am Montag kommt der Kollege Grössert wieder zu uns.“ Krohmer sah auf die Uhr, es war heute wieder spät geworden. „Machen Sie Ihre Berichte noch fertig und gehen Sie dann nach Hause, morgen ist auch noch ein Tag. Es versteht sich von selbst, dass wir alle auf den Feiertag keine Rücksicht nehmen können.“
Die Nachricht Werner Grössert betreffend wurde freudig aufgenommen, denn er gehörte zum Team und war wegen seiner Frau vom Dienst freigestellt. Sie hatte trotz ihrer schweren Krankheit ein Kind bekommen und hatte die Geburt nur knapp überlebt. Natürlich war Werner nicht von der Seite seiner Frau gewichen und kümmerte sich während der Genesungszeit seiner Frau um die kleine Tochter. Ursprünglich hieß es, dass Grössert vor August nicht wieder zum Dienst erscheinen würde. Wenn der 40-jährige Kollege jetzt wieder zum Dienst erschien, musste es seiner Frau hervorragend gehen. Krohmer hatte erst vor zwei Stunden die freudige Nachricht bekommen und konnte somit die mühevolle Suche nach einem Ersatz einstellen.
Die Berichte waren fertig und nachdem klar war, dass auf Martins Kleidung keine Spuren des Opfers gefunden wurden, konnte Martin mitsamt seinem Kostüm wieder nach Hause. Alle waren erleichtert. Frau Gutbrod hatte sich mit ihm beschäftigt, ihm das ganze Polizeigebäude gezeigt, ihm alle anwesenden Kollegen vorgestellt und mit ihm gespielt und gezeichnet. Martin wurde müde und als Fuchs die freudige Nachricht übermittelte und Martin sein Kostüm wieder anziehen durfte, freute sich Martin auf seine Mutter und auf sein Zuhause. Es war noch nie vorgekommen, dass er so lange von daheim weg war. Frau Gutbrod fuhr ihn persönlich nach Hause, wo ihn seine Mutter schon sehnsüchtig erwartete.
„Hat es sich herausgestellt, dass mein Martin unschuldig ist?“
„Ja, Sie können ganz beruhigt sein. Geben Sie ihm morgen den Jogginganzug, den darf er gerne behalten. Sie haben einen sehr lieben Sohn, ich habe ihn sofort in mein Herz geschlossen.“
Frau Mahnstein war überglücklich, als sie Martin ins Bett brachte. Die wildesten Gedanken gingen ihr in den letzten Stunden durch den Kopf. Das waren die schlimmsten Stunden ihres Lebens.
Hans und Leo fuhren am nächsten Tag direkt nach Altötting, um Befragungen im Umfeld des Opfers Kevin Eichinger vorzunehmen. Die beiden arbeiteten schon seit einigen Wochen hervorragend zusammen und hofften, dass das auch nach Grösserts Rückkehr so bleiben würde.
Viktoria saß allein im Büro und war sauer, denn allein konnte sie nicht losziehen, das hatte der Chef ausdrücklich verboten. Normalerweise hätte sie darauf gepfiffen, aber das Milieu um das Opfer war ihr zu unheimlich, das traute sie sich allein nicht zu. Sie griff zum Telefon.
„Werner? Hier Viktoria. Würde es dir etwas ausmachen, heute schon zum Dienst anzutreten? Dein Ersatzmann ist wieder zurückbeordert worden und wir stehen wegen einem neuen Mordfall ganz schön auf dem Schlauch. Ich weiß, dass das sehr viel verlangt ist.“
„Das könnte ich einrichten. Was liegt an?“
„Das erzähle ich dir unterwegs. Ich bin in 15 Minuten bei dir.“
Viktoria freute sich auf Werner, der bereits in einem sehr teuren Anzug wie aus dem Ei gepellt vor dem Haus stand. Werner Grössert stammte aus einer reichen Mühldorfer Anwaltsfamilie, die wegen der Wahl seiner Frau und auch wegen seiner Berufswahl nicht gut auf ihren Sprössling zu sprechen war. Der Polizeidienst war unter ihrem Niveau. Aber durch die Geburt der Tochter hatten sich die Wogen etwas geglättet.
Nach einer herzlichen Begrüßung berichtete Viktoria ausführlich, worum es in dem Mordfall ging. Sie informierte Leo und Hans, dass Werner bereits heute schon mit an Bord war und sie die Befragungen aufteilen konnten, worüber die anderen nicht unglücklich waren. Leo und Hans übernahmen die Familie des Toten, Viktoria und Werner fuhren zu dessen Arbeitsstelle.
Eltern hatte das Opfer keine mehr, aber einen Bruder. Justin Eichinger war 34 Jahre alt, ebenfalls mehrfach vorbestraft und empfing die Polizisten in Jogginghose und Unterhemd mit äußerstem Misstrauen. Nur sehr ungern ließ er die Polizisten zu dieser unchristlichen Zeit in die kleine, unordentliche Wohnung, in der es nach Zigaretten und bissig nach Katzenpisse stank. Leo und Hans verzichteten darauf, sich zu setzen. Justin Eichinger war gestern Abend sehr schnell am Tatort gewesen und Hans hatte bereits das Vergnügen mit ihm. Polizisten mussten ihn mehrfach zurückhalten und Viktoria hätte nicht übel Lust gehabt, den unsympathischen, angetrunkenen Mann in Handschellen abführen zu lassen, denn er benahm sich sehr flegelhaft. Er behinderte die Polizisten bei ihrer Arbeit, schrie und schimpfte, und fing mit jedem Streit an, der ihn irgendwie unpassend ansah. Aber heute war er erstaunlich ruhig und man konnte einigermaßen vernünftig mit ihm sprechen, was wahrscheinlich daran lag, dass er heute nüchtern war.
„Haben Sie das Schwein schon, das meinen Bruder kalt gemacht hat?“
„Wir sind mit unseren Ermittlungen erst am Anfang. Hatte Ihr Bruder Feinde?“
„Nein. Kevin war überall beliebt und hat anständig gelebt. Ich verstehe nicht, warum ihn jemand einfach so abgestochen hat.“
„Nun bleiben wir mal bei der Wahrheit, Herr Eichinger. Ihr Bruder war kein Unschuldslamm. Als er erstochen wurde, war er gerade dabei, seine Freundin auf offener Straße grün und blau zu schlagen. Sie haben sie doch selbst gesehen!“
Justin Eichinger wollte das nicht hören, schüttelte den Kopf und schenkte sich einen Wodka ein. War das etwa sein Frühstück?
„Klar hat mein Bruder einige Jugendsünden begangen, wer nicht? Aber das ist lange her und gehört längst der Vergangenheit an. Warum müsst ihr Bullen immer wieder die alten Geschichten aufwärmen?“ Er trank seinen Wodka. „Und wenn Kevin seiner Torte eine geknallt hat, dann hatte er dafür bestimmt seine Gründe. Die Tussi konnte aber auch nerven! Immer hat sie an ihm herumgenörgelt. Kevin tu dies, Kevin tu das – wer hält das auf Dauer aus? Trotzdem ist das kein Grund, dass man ihn gleich absticht.“
„Mit wem war Ihr Bruder befreundet? Wo verkehrte er in seiner Freizeit?“
„Hören Sie. Es ist schlimm genug, dass mein Bruder tot ist. Ich werde Ihnen auf keinen Fall Namen von Freunden nennen, das können Sie vergessen. Die Bullen waren noch nie auf unserer Seite und ich bezweifle, dass man sich angemessen um die Aufklärung des Mordes kümmert. Ich werde das zusammen mit meinen Leuten in die Hand nehmen. Ich verspreche Ihnen, dass wir das Schwein finden. Dann machen wir kurzen Prozess, dafür brauchen wir die Bullen nicht. Und jetzt machen Sie, dass Sie wegkommen. Wenn Sie nochmal mit mir sprechen wollen, wenden Sie sich an meinen Anwalt.“
„Sie unternehmen nichts auf eigene Faust, haben Sie mich verstanden? Wenn wir Sie dabei erwischen, werden wir Sie und Ihre sogenannten Freunde sofort einsperren.“
„Sie haben mich nicht verstanden: Verpisst euch! Sofort! Und drohen Sie mir nicht, der Schuss kann ganz schnell nach hinten losgehen. Sie glauben doch nicht im Ernst, dass ich vor den Bullen Schiss habe? Ich kenne meine Rechte und weiß sehr gut, was ich darf und was ich nicht darf.“ Justin Eichinger war aufgestanden und stand nun ganz dicht vor Leo. „Und jetzt nochmal zum Mitschreiben: Raus mit euch!“
Das war ein Rausschmiss, dem die Polizisten Folge leisten mussten.
„Justin Eichinger ist ein ganz krummer Hund. Wenn der wirklich den Mörder seines Bruders sucht, bekommen wir Ärger,“ sagte Hans besorgt.
„Hast du seinen Gesichtsausdruck gesehen? Mir lief es eiskalt über den Rücken. Der Mann ist zu allem fähig, den behalten wir auf jeden Fall im Auge.“
Leo und Hans klingelten auch an den Türen der Nachbarn, vielleicht erfuhren sie so etwas über den persönlichen Umgang des Toten. Aber die Nachbarn der Eichingers waren über die Störung am heutigen Feiertag nicht begeistert und hielten sich sehr bedeckt. Niemand wusste etwas, vor allem wollte keiner mit der Polizei zu tun haben oder mit Justin Eichinger Ärger bekommen. Es kristallisierte sich heraus, dass die Eichinger-Brüder die Nachbarn nicht nur im Griff hatten, sondern sie regelrecht schikanierten. Bei einem Nachbarn im Haus gegenüber hatten Sie Glück. Leo hatte ihn vorhin schon bemerkt, denn der Mann sah auf ein Kissen gestützt aus dem Fenster und schien sie zu beobachten. Als sie bei ihm klingelten, summte der Türöffner und der Mann bat sie herein. Er hatte nicht nur Zeit, sondern war auch sehr mitteilungsbedürftig. Drei Kaffeetassen standen auf dem alten Küchentisch und der Mann schenkte Kaffee ein.
„Stimmt es also? Kevin Eichinger wurde erstochen? Ich habe schon Gerüchte gehört, aber die Leute reden viel, wenn der Tag lang ist.“
„Sie kannten den Toten näher?“
„Sicher kannte ich ihn. Frech war der, frech und unverschämt. Der hatte keinen Respekt, vor niemandem. Weil ich mir nichts gefallen ließ und ihm contra gab, hat er sich immer wieder mit mir angelegt. Er hat mich mehrfach übel beschimpft und mich wiederholt einen Nazi genannt, den man an die Wand stellen sollte. Ja, das hat er gesagt. Dabei bin ich erst 1944 geboren und habe diese ganze Nazizeit überhaupt nicht mitbekommen. Früher war das hier eine ruhige Wohngegend, aber seit diese Eichinger-Sippe hergezogen ist, geht es hier den Bach runter.“ Er schüttelte den Kopf und trank einen Schluck Kaffee. „Die Eichingers sind gleich nach der Wende hier aufgetaucht. Die haben sich von Anfang an keine Mühe gegeben, sich irgendwie anzupassen. Ansprüche haben sie gestellt, und die nicht zu knapp. Immer gab es Ärger mit dieser Sippe. Die Eltern waren schon unsympathisch, aber die Jungs waren noch schlimmer. Es gab keine Schlägerei, in die einer der Eichinger-Jungs nicht verwickelt war. Dann kamen noch mehr Ossis, inzwischen ist das Viertel fast voll von denen. Viele Familien und anständige Nachbarn sind schon weggezogen, nur noch das Gesocks ist übrig geblieben. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich habe nichts gegen die Ostdeutschen, es gibt auch anständige darunter. Zucker?“
Dieser Nachbar war echt ätzend und voller Vorurteile, aber er war der einzige Zeuge, der ihnen Informationen geben könnte.
„Wir sind auf der Suche nach Freunden und Bekannten des Toten.“
„Da gingen viele ein und aus, aber Namen kann ich Ihnen nicht nennen. Auch die Gesichter würde ich nicht wiedererkennen, das waren einfach zu viele. Meist kamen die jungen Leute erst am Abend, und da habe ich mich nicht mehr vor die Tür getraut. Ja, so weit sind wir schon, dass man sich im beschaulichen Altötting am Abend nicht mehr vor die Tür wagt. Und was macht die Polizei? Die ist mit diesen Leuten doch völlig überfordert. Und wenn sie doch mal einen schnappt, ist der schnell wieder auf freiem Fuß, weil unsere Justiz viel zu lasch ist. Aber fragen sie doch in deren Stammkneipe, vorn in der Bierschwemme, da haben sich diese Ganoven immer getroffen. Weiß das die Polizei nicht? Ich kann mir nicht vorstellen, dass das nicht bekannt ist. Früher war ich regelmäßig auf ein Feierabendbier in der Bierschwemme, aber das wurde zu ungemütlich, als sich die Eichingers mit ihren Freunden dort niedergelassen haben. Seitdem gehe ich da nicht mehr hin. Dort ist immer wieder die Hölle los, die Polizei ist Dauergast. Mich würde es nicht wundern, wenn die Eichinger-Brüder für den meisten Ärger verantwortlich wären. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch: So traurig Kevins Tod auch ist, bin ich nicht unglücklich darüber. Wenn jetzt auch noch sein Bruder Justin verschwindet, kehrt vielleicht endlich wieder Ruhe ein und man kann abends auch mal wieder auf die Straße. Aber so viel Glück werde ich nicht haben.“
Die nächste Anlaufstelle war die Polizeiinspektion Altötting. Die Kollegen waren sehr kooperativ, obwohl die Kriminalpolizei allgemein nicht gern gesehen war. Immer wieder gab es Kompetenzschwierigkeiten.
„Mit den Anzeigen die Bierschwemme betreffend könnten wir einen ganzen Aktenschrank füllen,“ übertrieb der Kollege und zeigte dabei auf Aktenordner hinter ihm. „Es stimmt, dass die Brüder Eichinger mehrfach aufgefallen sind. Aber nur wegen kleinerer Delikte. Streitigkeiten, Beleidigungen, so etwas in der Art. Seitdem Kevin Eichinger vor drei Jahren aus der Haft entlassen wurde, war er relativ sauber. Er ging einer regelmäßigen Arbeit nach. Von seinem Bewährungshelfer Gernot Sporrer haben wir nichts Negatives gehört. Wenn etwas vorgefallen wäre, hätte der sich bei uns gemeldet. Hier ist Sporrers Telefonnummer.“
„Sie sind sehr gut informiert. Respekt!“
„Wir kennen unsere Pappenheimer. Ich hatte nicht nur mehrfach persönlich mit den Eichinger-Brüder zu tun, sondern ging sogar mit Kevin zur Schule. Er war damals schon ein ziemlicher Raufbold und Kleinganove. Es war besser, einen weiten Bogen um ihn zu machen.“ Der Polizist lehnte sich zurück und man spürte, dass ihm etwas auf dem Herzen lag. „Es gibt noch etwas, das Sie wissen sollten: In den letzten Tagen wurden uns zwei Vorfälle gemeldet, bei denen auch ein Mann den Helden gespielt hat. Zum einen gab es einen Vorfall auf einem Supermarktparkplatz. Eine Mutter hat ihr Kind beschimpft und ist laut Zeugenaussagen ziemlich ausgerastet. Sie hat ihr Kind nicht nur beschimpft, sondern ihm auch noch vor aller Augen eine Ohrfeige gegeben. Zeugenaussagen zufolge sprang ein Mann hinter einem parkenden Auto hervor und hat der Frau einen kräftigen Schlag versetzt. Der Marktleiter hat die Polizei gerufen, ich war selbst vor Ort. Die Mutter war vollkommen aufgelöst und hat durch den Schlag eine Platzwunde am Auge davongetragen. Die Zeugen konnten den Mann nicht beschreiben, es ging alles viel zu schnell. Nach der Aktion war er sofort wieder verschwunden. Übereinstimmend war die Aussage, dass der Mann schwarz gekleidet war und eine Mütze trug, die er tief ins Gesicht gezogen hatte. Der andere Vorfall war vor vier Tagen vor dem Altenheim in der Mühldorfer Straße. Junge Leute haben eine gehbehinderte Frau geärgert. Daraufhin kam wieder wie aus dem Nichts ein Mann hinzu, der die jungen Leute vertrieben hat. Einer der Jungs fiel der Länge nach auf die Straße und hat sich dabei leicht verletzt.“
„Und wieder keine genauere Beschreibung?“
„Wieder nur die Angabe, dass der Mann schwarz gekleidet war und sofort verschwunden war.“
„Und es ist sicher, dass es sich in den beiden Fällen um einen Mann gehandelt hat?“
„So waren die Aussagen, verlassen würde ich mich darauf nicht. Fakt ist, dass in beiden Fällen eine dunkel gekleidete Person plötzlich aufgetaucht ist, geholfen hat und dann schnell wieder verschwunden war. Wir haben die betroffenen Personen und auch Zeugen mehrfach befragt, mehr Informationen waren nicht drin. Ich persönlich bin der Meinung, dass es sich in beiden Fällen um dieselbe Person handelt. Ich dachte, diese Information könnte interessant für Sie sein.“
„Sie meinen, wir haben es im vorliegenden Mordfall an Kevin Eichinger mit dieser Person zu tun?“
„Könnte doch sein, oder? Schon der dritte Fall, in dem ein Retter zur Hilfe kam, das kann doch kein Zufall sein! Und wenn das nicht die einzigen Fälle waren? Wenn dieser vermeintliche Retter schon öfter eingeschritten ist, ohne dass wir davon was wissen?“
„Danke für die Info, das klingt alles sehr interessant. Was können Sie uns über Martin Mahnstein sagen?“
„Der Martin ist im Grunde genommen ein ganz netter Kerl. Er spielt gerne den Superhelden und es gibt Leute, die sich vor ihm erschrecken. Ich persönlich halte ihn für absolut harmlos. Allerdings haut er öfter ab und streift ohne Begleitung durch Altötting. Ich habe ihn selbst schon hilflos aufgegriffen. Er ging einfach mit jemandem mit und hat dann nicht mehr nach Hause gefunden. Wenn Sie mich fragen, ist seine Mutter mit ihm überfordert. Martin gehört in eine professionelle Einrichtung. Aber zum Glück muss ich das nicht entscheiden, das ist nur meine persönliche Meinung.“
Nachdem Leo seinen Chef und auch Viktoria und Werner telefonisch über die beiden Vorfälle in Altötting unterrichtet hatte, die ebenfalls mit einem vermeintlichen Retter zu tun hatten, rief er den Bewährungshelfer Sporrer an, der gerade auf dem Sprung war und einen Termin außer Haus hatte. Als er hörte, dass sein Schützling Kevin Eichinger ermordet wurde, war er sehr betroffen. Er wollte auf die Polizisten warten und selbstverständlich sofort mit ihren sprechen.
Eichingers Akte lag auf dem Tisch, als die Polizisten eintraten. Sporrer gab freimütig Auskunft.
„Kevin Eichinger war kein leichter Charakter. Er kam nie damit zurecht, dass er damals als Jugendlicher seine Heimat in Ostdeutschland verlassen musste. Ich kann das sehr gut verstehen, ich habe selbst einen ähnlichen Hintergrund. Ich komme aus Chemnitz und auch ich wollte dort nicht weg, schließlich ist das Heimat und die verlässt man nicht einfach so. Aber das Leben stellt nun mal seine Weichen. Nach meinem Studium wurde mir die Stelle hier in Altötting angeboten und ich war sehr froh über diese Chance. Ursprünglich wollte ich nur eine kurze Zeit bleiben, daraus sind nun fast 15 Jahre geworden. Inzwischen gefällt es mir hier sehr gut. Aber ich schweife ab. Sie sind wegen Kevin Eichinger hier und nicht wegen meiner persönlichen Lebensgeschichte. Kevins Eltern wollten damals nach dem Fall der Mauer unbedingt raus aus Ostdeutschland. So, wie ich das in Erinnerung habe, wohnte ein entfernter Verwandter in Altötting, der zwischenzeitlich schon verstorben ist. Kevin Eichinger fand bei der Altöttinger Jugend keinen Anschluss, er war auch ein sehr schlechter Schüler. Er rutschte ab und geriet in Kreise, die ihn immer weiter herunterzogen. Eine Straftat zog die andere nach sich und die Knastaufenthalte häuften sich. Aber seit drei Jahren war Kevin Eichinger sauber. Er ging einer geregelten Arbeit nach, es gab nie Beschwerden. Sie kennen den Arbeitgeber?“
„Ja. Unsere Kollegen sind bereits vor Ort. Sie haben einen engeren Kontakt zu Kevin Eichinger gepflegt?“
„Das handhabe ich so, obwohl das nicht üblich ist. Meine Kollegen halten nur sporadisch Kontakt zu ihren Schützlingen, manche kennen sie nicht einmal persönlich. Ich mache meinen Job aus Leidenschaft und sehe immer das Gute im Menschen, auch wenn alles noch so hoffnungslos scheint. Außerdem bin ich davon überzeugt, dass bei engem Kontakt Straftaten verhindert oder zumindest erschwert werden. Das bedeutet zwar einen umfangreichen Zeitaufwand meinerseits, aber den nehme ich für die gute Sache gerne in Kauf.“
„Sie kennen auch Kevins Bruder Justin?“
„O ja, den durfte ich kennenlernen und ich halte nichts von ihm. Justin war kein guter Umgang für Kevin. Ich kann offen sprechen? Justin ist ein ganz labiler Charakter, der mir große Bauchschmerzen verursacht. Wenn Sie mich fragen, bewegt er sich in Kreisen, die es einem schwer machen, sauber zu bleiben. Ich befürchte bei ihm das Schlimmste. Aber Justin ist nicht mein Schützling und deshalb ist es nicht meine Aufgabe, mich um ihn zu kümmern.“
„Noch etwas, das für uns wichtig wäre?“
Sporrer schüttelte den Kopf und sah auf die Uhr.
„Wenn wir hier fertig sind, müsste ich los. Hier ist meine Karte.“
Der nächste Weg führte sie in die Bierschwemme, in der um diese Uhrzeit schon einiges los war. Vier Tische waren besetzt und der Mann hinter der Theke war gerade dabei, die Gläser des Vorabends zu spülen. Leo und Hans zeigten ihre Ausweise.
„Sie sind wegen Kevin Eichinger hier? Ich habe von dem Mord gehört, kann dazu aber nichts sagen.“ Der Inhaber Stefan Amann war zwar nicht unfreundlich, aber man merkte deutlich, dass er die Polizei nicht mochte und nicht gewillt war, Auskunft zu geben. Trotzdem bohrte Leo nach, so schnell wollte er nicht aufgeben.
„Uns ist zu Ohren gekommen, dass Kevin Eichinger immer wieder auffällig geworden ist?“
Amann schüttelte den Kopf und spülte ungehindert weiter.
„Nicht mehr wie andere auch. Ich kann über Kevin nichts Negatives sagen.“
„Und über seinen Bruder Justin?“
„Auch er ist ein gern gesehener Gast, über den ich nur Gutes zu berichten habe.“
„Jetzt spielen Sie doch hier nicht den Ahnungslosen, Amann. Wir haben die Akten der Polizei über die Vorkommnisse hier in der Bierschwemme gesehen. Sie tun ja gerade so, als wenn wir hier von braven Bürgern sprechen.“
„Sicher gab es das eine oder andere. Aber ich muss mich wiederholen: Mit den beiden gab es nicht mehr Probleme als mit anderen.“
„Mit wem war Kevin Eichinger befreundet?“
„Das kann ich Ihnen nicht sagen. Mal saß Kevin mit den einen am Tisch, mal mit den anderen, das wechselte ständig.“
„Erzählen Sie uns doch keinen Blödsinn! Nach unseren Informationen war Kevin Eichinger Dauergast in Ihrem netten Etablissement.“
„Hören Sie. Ich habe hier noch etwas anderes zu tun, als mich darum zu kümmern, wer mit wem zusammensitzt. Ich habe meine Aussage gemacht. Und wenn die Ihnen nicht passt, kann ich Ihnen auch nicht helfen, mehr weiß ich nun mal nicht. Was meine Kneipe betrifft, erfülle ich alle mir gestellten Auflagen und zahle pünktlich meine Steuern, mehr bin ich dem Staat nicht schuldig.“
Viktoria und Werner parkten ihren Wagen direkt neben der Staubsauger-Station der Tankstelle in Neuötting. Nach ihren Informationen arbeitete Kevin Eichinger seit drei Jahren hier.
„Kripo Mühldorf. Wo finden wir den Chef?“ fragte Viktoria die junge Frau hinter der Kasse, die herzhaft gähnte und mit überlangen, funkelnden Fingernägeln in ihr Handy tippte. Ohne eine Antwort zeigte sie nur auf eine Metalltür, wobei sie den Blick immer auf dem Display ihres Handys hatte. Die Frau war ja ein echtes Herzchen. Hinter der Metalltür befand sich ein schmuddeliger Aufenthaltsraum, der wiederum direkt in die Werkstatt führte. Ein älterer Mann stand an der Werkbank.
„Kripo Mühldorf, mein Name ist Untermaier, das ist mein Kollege Grössert. Sie sind der Besitzer der Tankstelle?“
„Besitzer wäre gut, ich bin lediglich der Betreiber. Kurz mein Name, Berthold Kurz. Was will die Kripo von mir?“
„Wir sind wegen Kevin Eichinger hier.“
„Hat er etwas angestellt?“
„Er wurde getötet.“
„Kevin ist tot? Das darf doch nicht wahr sein!“ Die Reaktion war nicht gespielt, Kurz wusste noch nichts vom Tod seines Mitarbeiters. „Ich habe mich schon gewundert, warum er heute nicht zur Arbeit erschienen ist und habe mehrfach versucht, ihn zu erreichen. Ich dachte, er hätte verschlafen. Deshalb habe ich heute meine Tochter Corinna eingesetzt, die deshalb stinksauer ist. Sie ist im Kundenverkehr eine Katastrophe. Aber was soll ich machen?“ Kurz trank einen Schluck Kaffee und schüttelte den Kopf. „Nie im Leben hätte ich damit gerechnet, dass Kevin tot ist. Was ist denn in Gottes Namen passiert?“
„Er wurde erstochen. Hatte er mit irgendjemandem Streit? Ist Ihnen in letzter Zeit etwas aufgefallen?“
Kurz schüttelte den Kopf.
„Kevin war trotz seiner Vorgeschichte zuverlässig, fleißig und bei meinen Kunden sehr beliebt. Es gab nie Ärger mit ihm. Anfangs war ich nicht gerade begeistert, einen Exknacki einzustellen, habe aber für den Job und die miese Bezahlung niemand anderen gefunden. Heute möchte sich keiner mehr freiwillig die Hände schmutzig machen. Außerdem ist die Unterstützung vom Staat fast genauso hoch wie der Verdienst. Da bleiben die meisten doch lieber zu Hause, liegen den ganzen Tag auf der Couch und glotzen in den Fernseher. Aber mehr als den Mindestlohn kann ich leider nicht bezahlen, dafür wirft die Tankstelle und die kleine Werkstatt viel zu wenig ab.“ Berthold Kurz ließ aus dem alten Kaffeeautomaten frischen Kaffee in seinen schmuddeligen Kaffeebecher und schüttelte immer wieder den Kopf. „Der Kevin ist tot. Das kann ich kaum glauben. Ich habe einen sehr wertvollen Angestellten verloren. Jetzt muss ich wieder lange suchen, bis ich für den Hungerlohn einen adäquaten Ersatz gefunden habe.“
„Gibt es auf Ihrem Firmengelände Überwachungskameras?“
„Natürlich, welche Tankstelle hat die nicht? Schon seit Jahren häufen sich wegen der hohen Spritpreise die Tankdiebstähle, dagegen muss man was tun. Schließlich bleiben wir Betreiber auf den Kosten sitzen, wenn wir den Diebstahl nicht beweisen können. Wir Tankstellen-Betreiber können nun wirklich am wenigsten für die Preispolitik im Ölgeschäft, uns fragt doch niemand. Wir müssen die Preise hinnehmen, die die großen Konzerne bestimmen. Dafür bekommen wir den Ärger der Kunden ab. Als ob wir durch das Tanken reich werden! Glauben Sie mir, das ist eine der undankbarsten Branchen überhaupt.“
„Würden Sie uns die Aufzeichnungen der Überwachungskameras überlassen?“
„Wenn Sie mir einen offiziellen Gerichtsbeschluss zeigen, gerne. Ich weiß, dass das nicht gerade für mich spricht, aber ich habe schlechte Erfahrungen mit der Polizei gemacht.“
Berthold Kurz sah den beiden Polizisten hinterher. Mit Kevin selbst kam er prima zurecht. Seine kleinen Geschäfte, die er nebenher abwickelte, nahm er ohne nachzufragen hin. Schließlich hatte auch er selbst eine Nebentätigkeit, mit der er sich ein Zubrot verdiente. Er wollte nicht wissen, was Kevin machte und es ging ihn auch nichts an. Zumindest so lange nicht, wie diese Geschäfte seine Arbeit nicht beeinträchtigten. Es gab nur ab und zu Ärger, wenn Kevins Freunde und vor allem sein Bruder vorbeikamen. Das waren echt gefährliche Typen, die sich einen Spaß daraus machten, Kunden anzupöbeln und zu erschrecken. Zum Glück hielten sich diese Besuche in Grenzen und Kevin konnte die Situation immer schnell klären. Trotzdem war es auf jeden Fall besser, die Aufzeichnungen der Überwachungskameras sofort verschwinden zu lassen.
Er ging vorbei an seiner Tochter Corinna, die immer noch fleißig in ihr Handy tippte. Kurz schüttelte den Kopf, die Frau war echt eine Katastrophe. Hoffentlich fand sie bald einen Mann, der sich um sie kümmert und sie versorgt, denn allein wäre Corinna aufgeschmissen. Und er hatte keine Lust, noch länger für das Lotterleben seiner Tochter aufzukommen. Das Verhältnis zwischen den beiden war schon seit vielen Jahren sehr angespannt, noch bevor die Mutter abgehauen ist und die Tochter zurückgelassen hatte. Corinna wusste genau, dass ihr Vater nicht viel von ihr hielt und sie provozierte ihn, wo sie nur konnte. Sie sah ihm hinterher und spürte, dass er etwas vorhatte. Schon allein die Tatsache, dass er die Tür des Büros hinter sich zumachte, bestätigte ihren Verdacht. Sie ging in den Aufenthaltsraum, von dem ein Fenster ins Büro ging. Durch die schmutzige Scheibe konnte sie beobachten, wie ihr Vater einige DVDs aus der Überwachungsanlage nahm und in eine Tasche steckte. Das Ganze dauerte nur wenige Augenblicke. Ihr Vater stand auf und Corinna lief schnell hinter den Kassentresen zurück. Wie vorher auch blickte sie stur auf ihr Handy. Ihr Vater sah sie an und wie immer schüttelte er nur den Kopf. Dann ging er nach draußen und warf die Tasche mit den DVDs in den Müllcontainer. Sie wartete, bis ihr Vater wie üblich zur Bank ging. Dann ging sie zum Müllcontainer und fischte die Tasche mit den DVDs raus und verstaute sie in ihrer Handtasche. Später, wenn sie Zeit und Lust hätte, würde sie sich ansehen, was ihr Vater vor der Polizei zu verbergen hatte.
„Der Mann weiß was und sagt nichts,“ sagte Werner wütend, der es nicht leiden konnte, wenn er angelogen wurde. Viktoria informierte Krohmer, der sich umgehend um den Beschluss kümmern wollte.
„Wenn du nichts dagegen hast, würde ich mir gerne den Tatort ansehen.“ Werner war nach den vielen Wochen Abwesenheit wieder in seinem Element und genoss die Arbeit. Auch wenn er gerne Zeit mit seiner kleinen Tochter und seiner Frau verbrachte, liebte er auch seinen Job.
„Von mir aus, wenn wir schon mal hier sind…“ Viktoria war davon nicht begeistert, denn sie wusste nicht, was das bringen sollte. Sie hatten dort gestern sehr viel Zeit verbracht und es war nichts dabei herausgekommen. Außerdem könnte sich Werner den Tatort auch auf Fotos ansehen. Aber sie wollte sich nicht gleich am ersten Tag mit ihm anlegen und fuhr los.
Sie parkten den Wagen in der Trostberger Straße und gingen die wenigen Meter zu Fuß zur Marienstraße. Hier auf der linken Straßenseite vor dem leerstehenden Geschäft war es geschehen. Nur eine getrocknete Blutlache und Kreidereste auf dem Boden zeugten noch von der gestrigen Gewalttat. Werner besah sich alles genau. Gedanklich ging er das Verbrechen durch. Hier auf dem Gehweg stand das Opfer, vor sich befand sich die Frau, die er verprügelte. Von dort unten oder aber von der Seitenstraße muss der vermeintliche Retter gekommen sein, obwohl die wenigen Zeugen nur von der Marienstraße gesprochen hatten. Viktoria wurde stutzig, als sie Werners Blicken folgte.
„Du meinst, der Typ kam vom Kreuzweg?“
„Warum nicht? Lass uns nachsehen, vielleicht haben wir Glück.“
„Na gut, wenn wir schon mal hier sind…“ Viktoria war sich sicher, dass Fuchs auch diese Möglichkeit in Betracht gezogen hatte. Allerdings wusste sie auch, dass sich die meisten Zeugenaussagen auf die Marienstraße konzentrierten und dabei die kleine Gasse vielleicht vernachlässigt wurde. Wie auch immer. Werner wollte sich selbst überzeugen und sie folgte ihm.
Sie gingen über die Straße in die schmale Gasse Am Kreuzweg, die die Marienstraße mit dem Kapellplatz verband. Werner lief sehr langsam voraus, hielt den Blick immer auf den Boden und bückte sich ab und zu. Sie waren bis zum Eingang des Kreuzweges vorgedrungen, der sich links befand. Sie passierten den Brunnen mit den Symbolen der sieben Sakramente und Viktoria staunte nicht schlecht, als Werner den Kreuzweg betrat, der bislang nicht in Betracht gezogen wurde.
„Keiner der Zeugen hat den Kreuzweg erwähnt. Nichts deutet darauf hin, dass der Täter hier gewesen wäre,“ maulte sie. Sie wusste genau, dass der Kreuzweg vom Vormittag bis zum Nachmittag immer gut besucht war, denn für die meisten Besucher der Gnadenkapelle gehörte der Kreuzweg zum Programm. Es wäre doch irgendjemandem aufgefallen, wenn der Täter hier gewesen wäre. Sie hielt diese Möglichkeit für absolut unwahrscheinlich.
„Wenn nun alle durch die Tat abgelenkt waren? Vielleicht waren zu dem Zeitpunkt keine Besucher im Kreuzweg? Ich möchte nur kurz nachsehen, es dauert auch nicht lange,“ antwortete Werner und ging seinen Weg weiter. Es war ihm egal, was die Zeugen sagten. Er versetzte sich in die Situation des Täters und er an seiner Stelle wäre hierher gerannt und hätte hier irgendwo die Tatwaffe entsorgt.
Viktoria fügte sich murrend und sah sich um. Sie war seit vielen Jahren nicht mehr hier gewesen, genauer gesagt seit den Feierlichkeiten zur Renovierung des Kreuzwegs 1991, zu den sie ihre damalige Schwiegermutter gedrängt und überredet hatte. Ja, ihre Schwiegermutter konnte nerven, aber sie war eine Seele von Mensch, fast zu gut für diese Welt. Von dieser Charaktereigenschaft hatte ihr geschiedener Mann leider nichts geerbt: Er war selbstsüchtig, egoistisch und hinterfotzig. Schnell zwang sie sich dazu, die Gedanken an ihren Exmann aus dem Kopf zu verdrängen und erinnerte sich viel lieber an den damaligen Besuch mit ihrer Schwiegermutter, die leider kurz darauf schon sterben musste. Sie hatten 1991 den weiten Weg auf sich genommen und waren früh morgens losgefahren, um pünktlich hier zu sein und in vorderster Reihe einen guten Platz zu ergattern. Damals wusste sie noch nicht, dass Altötting einmal zu ihrem beruflichen Wirkungskreis gehören würde. Wie das Leben nun mal so spielt. Sie ging langsam weiter, während sich Werner irgendwo ganz hinten aufhielt. Damals waren vor allem die rollstuhlgerechten Wege und die Grünlagen noch vollkommen neu. Viktoria staunte nicht schlecht, wie sich vor allem die Botanik verändert hatte. Sie bewunderte die sauberen Natursteinplastiken der einzelnen Stationen, wofür Werner kein Auge hatte. Er suchte systematisch nach einem Hinweis auf das gestrige Verbrechen. Als sich Viktoria gerade die 9. Station der insgesamt 15 Stationen des Kreuzweges besah, rief Werner aufgeregt. Das gibt es doch nicht! Hatte Werner tatsächlich etwas gefunden? Sofort lief sie zu ihm und sah, dass er mit einem Taschentuch triumphierend ein großes Klappmesser in der Hand hielt.
„Das muss die Tatwaffe sein,“ sagte Werner. Viktoria kramte in ihrer Handtasche und zog einen Plastikbeutel hervor, in den Werner das Messer legte. Jetzt besah sich Viktoria das Fundstück genauer: Das auf der Klinge war ganz sicher Blut. Schnell verstaute sie das Messer in ihrer Handtasche, denn eine kleine Gruppe Wallfahrer betraten den Kreuzweg.
„Was jetzt? Es könnten noch mehr Spuren auf dem Kreuzweg sein. Wenn die Gruppe hier durch ist, können wir die womöglich vergessen,“ sagte Werner und sah seine Chefin flehend an. Die wusste genau, was in Werners Kopf herumspukte.
„Du willst den Kreuzweg sperren lassen? Das ist irre, dafür bekommen wir riesigen Ärger.“ Sie überlegte und war in einer Zwickmühle. Zum einen war dieser Kreuzweg eine unverzichtbare Attraktion für Gläubige und Wallfahrer, die am heutigen Feiertag Fronleichnam ganz bestimmt wieder zu Tausenden nach Altötting pilgerten. Aber zum anderen musste sie Werner Recht geben, hier könnten tatsächlich Spuren des Täters zu finden sein. Die Gruppe näherte sich immer mehr und nun entschied sie spontan, denn eigentlich hätte sie vorher ihren Chef informieren müssen. Aber dafür war jetzt keine Zeit. Sie ging auf die Gruppe zu und hob dabei ihren Ausweis in die Höhe.
„Kriminalpolizei. Ich möchte Sie bitten, den Kreuzweg aus ermittlungstechnischen Gründen zu verlassen. In drei bis vier Stunden ist die Polizeimaßnahme vorbei, dann können Sie sich hier wieder ungehindert aufhalten. Die Kriminalpolizei bedankt sich für Ihr Verständnis.“ Sie sprach sehr laut und sehr bestimmt, während Werner an ihrer Seite stand.
Natürlich waren die Besucher nicht erfreut über den Rauswurf und auf Viktoria prasselten von allen Seiten verschiedene Fragen ein.
„Die Entscheidung ist nicht diskutierbar. Sie gehen jetzt, oder ich muss Sie dazu zwingen.“ Das klang vielleicht etwas hart, aber die Besucher gingen jetzt endlich unter großem Protest. Werner rief die Spurensicherung. Sie brauchten nicht lange warten. Friedrich Fuchs, der Leiter der Spurensicherung, sprang aus seinem Wagen und gab lautstark Anweisungen an seine Leute. Dass das Tatwerkzeug auf dem Kreuzweg hätte sein können, lag nach den Angaben der Kripobeamten nicht nahe und es hatte ihn niemand darauf hingewiesen. Trotzdem ärgerte er sich darüber, dass sie nur wenige Meter vom Tatwerkzeug entfernt völlig umsonst gesucht hatten. Aber woher sollte er das ahnen? Er arbeitete nach Anweisung der Kollegen und vermied es, eigenmächtig unnötig Kosten zu verursachen. Passanten waren erschrocken von der Aktion, denn es sah bedrohlich aus, als Männer und Frauen in weißen Schutzanzügen hinter großzügigen Absperrungen nach irgendetwas suchten.
„Hier sind bestimmt mehr Menschen als auf dem Kapellplatz,“ stöhnte Viktoria und schüttelte verständnislos den Kopf. „Wenn vermeintlich etwas passiert ist, dann kriechen die alle aus ihren Löchern. Blick dich doch mal um! Kaum ein Fenster, an dem nicht einer rausschaut!“
„Das müssen wir ausnützen. Gehen wir reihum und befragen nochmals die Anwohner. Erfahrungsgemäß sind die gesprächiger, wenn sie sich von der Polizei Informationen erhoffen.“
„Du schlauer Hund! Die Zeit zuhause hat dir nicht geschadet.“
Sie klingelten und klopften so lange an allen Türen, bis ihnen geöffnet wurde. Sie stellten Fragen zum gestrigen Verbrechen und heute waren die Anwohner tatsächlich offener und hilfsbereiter. Aber sie wurden enttäuscht, niemand wusste etwas oder hatte etwas gesehen. Eine Frau war besonders gesprächig.
„Gestern war ich nicht hier, ich muss diese schreckliche Tat nur knapp verpasst haben, denn als ich heimkam, war die Polizei noch nicht hier. Wenn ich nur fünf Minuten früher heimgegangen wäre, wäre ich eine Augenzeugin gewesen.“
„Schade, trotzdem vielen Dank.“
„Moment,“ rief ihnen die Frau hinterher. „Das habe ich ganz vergessen: Die Bofinger Rosi kam mir dort unten entgegen. Die könnte etwas gesehen haben.“
„Wer ist die Frau?“ Viktoria hatte den Namen noch nie gehört.
„Die Rosi kennen Sie nicht? Sie ist die Kastler Dorfschlampe. Ihr Künstlername ist Belladonna, aber das interessiert mich nicht. Was braucht diese Frau für ihren schändlichen Beruf auch noch einen besonderen Namen? Für mich ist und bleibt sie die Bofinger Rosi.“ Man spürte, dass die Zeugin diese Rosi oder auch Belladonna nicht mochte. Viktoria hatte noch nie von der Frau gehört. „Die Rosi schafft schon seit vielen Jahren an und hat auch in Altötting ihre Kundschaft. Mehr sag ich nicht, und mehr möchte ich auch nicht wissen. Und von mir haben Sie Ihre Information nicht.“
Die Frau schloss die Tür und ging wieder ans Fenster, um die Vorgänge auf dem Kreuzweg weiter zu beobachten. Je länger sie darüber nachdachte, was sie wegen Rosi gesagt hatte, desto mehr bereute sie ihre Aussage. Warum hatte sie ihren Mund nicht halten können? Warum musste sie der Polizei gegenüber Rosi überhaupt erwähnen? Die Frau war ihr seit vielen Jahren ein Dorn im Auge, als ihr Mann – Gott hab ihn selig – mit dieser Schlampe in Verbindung gebracht wurde. Hohn und Spott erntete sie überall, was ja noch erträglich gewesen wäre. Aber diese mitleidigen Blicke waren wie Nadelstiche und verletzten sie bis ins Mark. Ihrem Mann hatte sie den Besuch bei Rosi nie verziehen, obwohl Erwin immer wieder dementierte, jemals bei ihr gewesen zu sein. Aber sie glaubte ihm nicht – bis heute nicht. Trotzdem war es nicht richtig, die Polizei auf Rosi zu hetzten. Aber sie hatte sich hinreißen lassen, sie bei der Polizei anzuschwärzen. Vielleicht lag es daran, dass sich heute Erwins Todestag zum achten Mal jährte? Egal, gesagt war gesagt, obwohl das schlechte Gewissen an ihr nagte. Aber sie hatte sie doch gesehen! Ganz sicher sogar! War es nicht sogar ihre Pflicht, das der Polizei gegenüber zu erwähnen? Je länger sie darüber nachdachte, desto beruhigter wurde sie: Sie hatte die Schlampe nicht angeschwärzt, sondern nur die Wahrheit gesagt!
Werner fuhr zielsicher nach Kastl und parkte vor dem Haus von Rosi Bofinger. Ganz am Ende das alten Dorfkerns von Kastl, abseits gelegen und gut versteckt zwischen hohen Tannen und alten Obstbäumen stand das Haus der Frau, zu dem ein kleiner, schmaler, privater Kiesweg führte. Der Zaun war kaputt und der Garten war sehr ungepflegt. Auch dem Haus selbst hätte ein Anstrich nicht geschadet. Sie klingelten und klopften an der Haustür, an der tatsächlich der Name Belladonna stand, aber niemand öffnete.
„Wollen Sie zu Frau Bofinger? Die ist nicht da,“ rief eine ältere Frau, die ihnen auf dem schmalen Kiesweg entgegen lief. „Die ist aber nicht lange weg, sie ist mit dem Radl unterwegs.“
„Danke, dann warten wir.“
Die Frau machte keine Anstalten zu gehen und stand nun direkt vor ihnen.
„Sie sind von der Polizei, gell? Ich habe Sie schon mal gesehen,“ strahlte sie Viktoria an.
Viktoria konnte sich nicht erinnern. Die 66-jährige Frau mit der Kittelschürze und der altmodischen Kurzhaarfrisur lächelte sie mit schiefen Zähnen erwartungsvoll an. Aber sie mussten sich schon mal gesehen haben, schließlich wusste sie, dass sie von der Polizei war.
„Es tut mir leid, ich erinnere mich nicht. Sie müssen mir auf die Sprünge helfen.“
„Das verstehe ich, Sie haben bestimmt täglich mit so vielen Menschen zu tun, dass Sie sich nicht alle Gesichter merken können. Wir sind uns bei dem Fest der Ukrainer in Mühldorf begegnet.“
Jetzt dämmerte es Viktoria langsam. Der Ukrainische Verein war Teil der Ermittlungen um ein Faschingskostüm und die Kripo wurde zu einem riesigen Fest eingeladen. Sie wäre auf dieses Fest nicht scharf gewesen, aber einige Kollegen und vor allem der Chef waren davon begeistert. Viele Kastler waren ebenfalls dort und hatten sich an den Feierlichkeiten beteiligt.
„Ich erinnere mich,“ log sie und gab der Frau die Hand. „Aber an Ihren Namen kann ich mich nicht erinnern.“
„Das glaube ich gern. Bergmann Sieglinde mein Name. Ich wohne dort drüben, das große gelbe Haus mit dem Gickerl auf dem Dach. Was wollen Sie denn von der Rosi? Ist etwas passiert? Hat sie was angstellt?“
„Nur eine Befragung, reine Routine.“
Unschlüssig stand Frau Bergmann bei den Polizisten. Soll sie Auskunft geben? Eigentlich gehörte sich das nicht, aber da sie die Polizistin Frau Untermaier quasi privat kannte, war es ihre Pflicht, ihr Wissen weiterzugeben.
Werner und Viktoria spürten, was in der Frau vorging und konnten sich ein Lachen nur schwer verkneifen. Sieglinde Bergmann war eine der Frauen, die sich gerne mitteilten und jeden Tratsch weitertrugen.
„Sie wissen, was die Frau Bofinger beruflich macht?“ Viktoria ging einen Schritt näher auf Frau Bergmann zu und zeigte sich interessiert. „Sie ist eine Prostituierte.“ Diesen Satz flüsterte sie, obwohl weit und breit niemand außer ihnen war. Bei dem Wort Prostituierte brach sie sich fast die Zunge ab. „Aber was Genaues weiß ich nicht. Gerüchte gibt es viele, aber ich spreche mit Rosi nicht über ihre Arbeit. Das ist mir zu peinlich, dafür bin ich zu anständig.“ Die Polizisten mussten sich zusammenreißen, um nicht laut loszulachen. „Ich kenne die Rosi schon seit fast dreißig Jahren und nenne sie nur Rosi, wie viele hier im alten Dorfkern. Rosi möchte eigentlich Belladonna genannt werden, unter dem Namen ist sie schon fast eine Berühmtheit. Aber für mich ist und bleibt sie die Rosi.“ Als weder Viktoria, noch Werner darauf reagierten, fuhr sie fort. „Ich hab jung geheiratet und wir haben das Haus hier vor achtundzwanzig Jahren von meinem Onkel übernommen. Wenn wir gewusst hätten, dass hier ein Puff ist, hätten wir uns das vielleicht noch überlegt. Aber einem geschenkten Gaul, schaut man nicht ins Maul!“ Sie lachte und wurde wieder ernst. „Jaja, die Rosi. Über die Jahre sind sehr viele Männer hier ein- und ausgegangen, meist über die Hintertür. Aber ich habe sie trotzdem gesehen und auch viele erkannt. Einige Männer gaben sich Mühe, sich unkenntlich zu machen, andere gehen ganz ungeniert zur Rosi. Aber ich habe nie ein Wort darüber verloren, ich bin ja keine Ratschen. Es ist schon schlimm, dass es so was bei uns auf dem Land, in unserem beschaulichen Kastl gibt. Das gehört sich einfach nicht.“
Angelockt von dem Gespräch auf dem Privatweg vor Frau Bofingers Haus kam eine Frau auf sie zu, die freundlich grüßte.
„Griaß di Monika,“ rief ihr Sieglinde Bergmann entgegen. „Die Polizei ist da und wartet auf die Rosi. Weißt du was von der Rosi? Ich weiß ja nichts und hab auch nichts gsagt.“
„Monika Seligmann, ich wohne dort hinten. Das Haus mit den neuen Dachschindeln. Können Sie es sehen?“ Die 64-jährige Frau plauderte ähnlich munter darauf los. Sie war beinahe so gekleidet wie Frau Bergmann und sie hatte sogar fast die gleiche Frisur.
„Kennen Sie Frau Bofinger näher?“
„Mei, die Rosi. Des is in Kastl a ganz a schwarze Gschicht.“
„Streng dich an und red Hochdeutsch. Der hübsche junge Mann hier versteht sonst kein Wort,“ ermahnte sie Frau Bergmann, die Werner Grössert in seinem sündhaft teuren Anzug anschmachtete. Werner hatte bisher keinen Ton von sich gegeben und musste sich zwingen, ernst und interessiert zu bleiben. „Du kennst die Rosi besser, bist ja auch hier aufgewachsen und kennst die ganze Gschicht. Ich weiß ja nicht viel, leb ja noch nicht so lange hier,“ fügte sie hinzu.
„O Sieglinde, stell dich doch nicht so unwissend und dumm! Jeder weiß, was die Rosi macht, das ist doch kein Geheimnis mehr. Außerdem bist du auch eine gebürtige Kastlerin und weißt genauso wie ich schon lange, was es mit der Heidrun und dann mit ihrer Nichte Rosi auf sich hat.“ Sieglinde Bergmann war beleidigt über die direkte Art ihrer Nachbarin und verschränkte die Arme vor der Brust, wobei sie Monika Seligmann einen verächtlichen Blick zuwarf. Aber der war das egal, sie redete einfach weiter. „Wissen Sie, die Rosi ist den Kastlern seit vielen Jahren ein Dorn im Auge. Vor über dreißig Jahren hat sie das Haus von ihrer Tante Heidrun geerbt. Die Heidrun habe ich noch gekannt, des war ganz eine fesche Frau. Als Kind hab ich sie immer bewundert und ging oft heimlich zu ihr, die Eltern hatten es mir verboten. Damals habe ich das nicht verstanden, ich war ja noch klein. Die Heidrun hat immer so leckeren Kakao gemacht hat, außerdem hatte sie die süßesten und saftigsten Birnen von ganz Kastl. Der Baum steht heute noch, der dort hinten im Eck ist es. Und schöne Geschichten konnte sie erzählen, das war echt klasse.“ Frau Seligmanns Augen glänzten.
„Ja das stimmt,“ sagte Sieglinde Bergmann fast wehmütig. „Die Heidrun konnte sehr gut mit Kindern, das war eine schöne Zeit. Mein Onkel hat uns Kindern natürlich verboten, dass wir Kontakt zur Heidrun haben, wir durften nicht mit ihr sprechen, sie nicht einmal grüßen. Aber mei, wie die Monika schon gesagt hat: Damals waren wir noch jung und dumm.“
„Später haben wir mitbekommen, dass über die Heidrun gesagt wird, dass sie eine Hure sei. Dann haben wir sie natürlich nicht mehr besucht. Mit so einer darf man sich doch nicht sehen lassen, man hat ja einen Ruf zu verlieren und wollte mit so einer nicht in Verbindung gebracht werden. Die Heidrun war immer eine Einzelgängerin und gehörte nicht in die Kastler Gemeinschaft. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass ich sie auf einem Fest oder in der Kirche gesehen hätte. Ich glaube, das hätte auch niemand geduldet. Eines Tages hat sich die Heidrun in ihrem Haus aufgehängt. Warum, weiß man nicht.“
Viktoria und Werner konnten sich lebhaft vorstellen, warum sich die Frau das Leben nahm, denn das muss für sie unerträglich gewesen sein, wie sie behandelt wurde. Aber wegen dieser Heidrun waren sie nicht hier.
„Und das Haus hat dann die Nichte Rosi Bofinger geerbt?“ half Werner den Damen auf die Sprünge.
„Ja. Die Rosi war keine hiesige, sie kam aus Burghausen. Eigentlich haben wir alle damit gerechnet, dass das Haus abgerissen wird. Wer will freiwillig in einem Haus leben, in dem sich einer umgebracht hat? Ich nicht! Statt einem Abrissunternehmen stand eines Tages ein Umzugswagen genau hier, wo wir jetzt stehen. Und seitdem lebt die Rosi in diesem unheimlichen Haus, in dem es ganz bestimmt spukt. Die Rosi war anfangs nicht so wie ihre Tante Heidrun. Sie war anständig und hat auch versucht, Anschluss zu finden. Sie hat damals regelmäßig den Gottesdienst besucht und war sogar Mitglied im Kastler Sportverein; ich habe sie dort selbst einige Male gesehen. Ob sie heute noch Mitglied ist, weiß ich nicht. Was ich ganz sicher weiß ist, dass sie eine Anstellung bei der Ziegelei gefunden hat und das erste Jahr dort arbeitete. Das weiß ich genau, weil mein Bruder mit ihr zusammengearbeitet hat und beide gleichzeitig ihre Arbeit verloren haben, weil die Ziegelei zugesperrt hat. Mein Bruder hat seit damals in der Arbeitswelt nicht mehr Fuß fassen können und wurde schwermütig.“
„Schwermütig ist gut,“ lachte Frau Bergmann. „Der Bartl hat gesoffen wie ein Loch. Jeden Tag musste man ihn quasi vom Wirt heimtragen. Und er hat bis zu seinem Tod von der Stütze gelebt, auch die hat er regelmäßig versoffen. Beschönige doch nichts, du musst der Polizei schon die Wahrheit sagen.“
„Erstens soll man über Tote nichts Schlechtes sagen,“ fauchte Frau Seligmann. „Und zweitens geht es hier nicht um meinen Bruder, sondern um die Rosi.“
„Mein Mann hat damals jedenfalls sehr schnell wieder Arbeit gefunden, nachdem auch er seine Arbeit in der Ziegelei verloren hat,“ warf Frau Bergmann noch nach, die sich den kleinen Seitenhieb nicht verkneifen konnte.
„Halt doch dein Schandmaul,“ fauchte Frau Seligmann zurück. „Die Rosi hat damals die Arbeit verloren und hat mit der Hurerei angefangen. Nicht diskret wie damals ihre Tante Heidrun, sondern ganz offen. Hier, mitten in unserem Dorf, das muss man sich mal vorstellen! Sie nannte sich auf einmal Belladonna, hat in der Zeitung inseriert und immer ihre kleinen Werbezettel verteilt. In jedem Briefkasten tauchten ihre Schmuddelwerbungen auf. Ich weiß noch, wie ich damals erschrocken war, als ich den ersten Werbezettel aus dem Briefkasten geholt habe. Natürlich habe ich die alle immer sofort weggeworfen. Diese Werbeaktionen waren mehrfach Thema bei den Gemeindeversammlungen. Wir wollten dafür sorgen, dass diese Art Werbung verboten wird, aber wir konnten nichts dagegen machen. Können Sie sich das vorstellen? Ja, die Rosi war echt dreist. Früher stand sie immer an der Dorflinde, wenn sie frei war. Die Männer hielten mit ihren Autos direkt neben ihr. Das macht sie schon lange nicht mehr. Heute verabredet sie sich bestimmt übers Handy oder übers Internet, das ist wenigstens diskret. Wenn sie an der Dorflinde stand, war das für alle Kastler sehr peinlich.“
„Das stimmt, was die Monika sagt. Die Rosi stand früher fast jeden Abend an der Dorflinde, da kann ich mich noch gut daran erinnern.“
„Denkst du, ich erzähle der Polizei Unsinn? Natürlich stimmt es, was ich sage! Die Rosi macht keinen Unterschied, wie alt die Männer sind, teilweise sind das noch Kinder. Die Frau nimmt alle. Hauptsache, es bringt Geld.“
„War dein Georg nicht auch bei ihr?“ stichelte Sieglinde Bergmann.
„Jetzt ist aber mal genug. Der Georg war nie bei ihr! Das haben die Leute nur erzählt, weil sie uns schaden wollten, als wir unser Haus umgebaut haben und alle auf uns neidisch waren. Außerdem musst du gerade reden! Dein Sohn war damals einer der ersten Stammkunden bei ihr.“
Viktoria befürchtete, dass das hier gleich in einen handfesten Streit ausarten würde. Aber sie musste nicht einschreiten, das Problem erledigte sich von selbst. Auf einem Fahrrad kam eine hübsche Mittfünfzigerin auf sie zu geradelt.
„Griaß di Rosi, die Polizei ist hier und möchte dich sprechen,“ sagte Sieglinde Bergmann überfreundlich.
„Griaß di Rosi,“ rief Monika Seligmann ebenso freundlich. „Wir haben nichts erzählt. Wir sind beide nur zufällig hier.“
Die überaus adrette Rosi Bofinger stellte ihr Fahrrad ab und sagte kein Wort. Sie gab den Polizisten ein Zeichen, ihr ins Haus zu folgen. Die beiden Damen Bergmann und Seligmann machten keine Anstalten, nach Hause zu gehen, sondern standen noch lange zusammen und tauschten die neuesten Neuigkeiten aus. Außerdem mussten sie abwarten, ob die Rosi verhaftet wurde, denn damit rechneten sie fest. Erst dann konnten sie diese Neuigkeit ihrerseits weitertragen.
„Was haben die beiden Tratschtanten erzählt? Sicher haben sie sich über mich das Maul zerrissen.“ Ungefragt schaltete Rosi die Kaffeemaschine ein und Viktoria konnte sich ein Bild vom Inneren des Hauses machen. Entgegen dem äußeren Eindruck des Hauses war es im Inneren sauber, ordentlich, modern und sehr gemütlich. Außerdem roch es hier phantastisch. Rosi spürte, was in Viktorias Kopf vorging.
„Ich bin sehr stolz auf mein Haus, obwohl meine Hausfassade und der Garten echt schlimm aussehen. Das lasse ich absichtlich so, um meine Nachbarn zu ärgern. Ich brauche auch meinen Spaß.“ Sie erzählte von einigen Begebenheiten. Viktoria hing förmlich an den Lippen der Frau, die eine unglaubliche Ausstrahlung hatte. Sie war charmant, amüsant und zog einen sofort in ihren Bann. Sie fühlte sich wohl in ihrer Gesellschaft und hätte gerne noch sehr viel länger mit der Frau geplaudert.
„Was will die Polizei von mir? Das Gewerbe ist angemeldet, meine Mitarbeiterinnen und ich kommen allen Auflagen pünktlich nach. Außerdem zahle ich meine Steuern im Voraus, und das nicht zu knapp.“
„Sie haben Mitarbeiterinnen?“
„Zwei Teilzeitkräfte. Ich würde sie gerne in Vollzeit beschäftigen, Arbeit ist genug da. Aber die beiden möchten nicht, müssen sich immer noch davonstehlen und haben Angst, dass ihre Arbeit irgendwann bekannt wird. Das horizontale Gewerbe ist in all den Jahren immer noch nicht anerkannt und vor allem in ländlichen Gebieten nicht gerne gesehen. Es weiß zwar jeder, dass es Bordelle gibt, aber niemand möchte etwas damit zu tun haben. Das ist immer noch eine Sparte, die mit Ekel und Abscheu behaftet ist, was ich nicht verstehen kann. Ich habe ein Dienstleistungsunternehmen, das es schon seit tausenden von Jahren gibt. Ich möchte betonen, dass ich meinen Beruf gerne ausübe und sehr stolz auf das bin, was ich geschaffen habe. Allerdings wäre es sehr viel leichter, wenn mich die Leute endlich akzeptieren würden.“ Der Kaffee war fertig. Sie holte die Kaffeekanne und drei Becher und schenkte Kaffee ein. „Immer wieder stehe ich bei Gemeindeversammlungen auf der Tagesordnung; nicht offiziell, nur wegen anonymer Beschwerden, zu denen sich keiner bekennt, dafür sind die Leute zu feige. Jährlich gibt es X Versuche, mich hier wegzubekommen. Aber ich gehe nicht, grad extra nicht. Meine Tante Heidrun haben sie in den Tod getrieben. Sie hat nicht verkraftet, dass man sie überall nur missachtet hatte. Sie wurde öffentlich gedemütigt und beschimpft. So lange, bis Tante Heidrun nicht mehr konnte und ihrem Leben ein Ende gesetzt hat. Bei mir beißen sie auf Granit. Jedem, der mir dumm kommt, trete ich entgegen. Ich lasse mir nichts gefallen. Ich stehe zu meiner Arbeit und kann jeden Morgen ohne Probleme in den Spiegel schauen. Und ich bin stolz darauf, dass ich mein Leben selbst finanzieren kann und mir schon ein kleines Vermögen ansparen konnte, womit ich mir in einigen Jahren einen angenehmen Lebensabend erlauben kann. Die scheinheiligen Kastler, von denen viele meine Kunden sind, sind doch tatsächlich der Meinung, dass sie etwas Besseres sind. Pah, dass ich nicht lache! Ich weiß von vielen dubiosen Geschäften, für die man sich wirklich schämen müsste. Außerdem läuft mein Geschäft hervorragend und ich zahle ordentlich Steuern. Nicht wie viele Kastler, die das Finanzamt bescheißen! Ich zahle jeden Cent mit Stolz ans Finanzamt. Immer wieder steht die Steuerprüfung vor meiner Tür, aber noch nie gab es etwas zu beanstanden. Entschuldigen Sie bitte, ich schweife ab, das alles interessiert Sie bestimmt nicht. Soll ich meine Papiere holen? Sind Sie deshalb hier? Hat mich mal wieder jemand angeschwärzt oder Lügen über mich verbreitet?“
„Wir glauben Ihnen, dass mit Ihrem Gewerbe alles in Ordnung ist, deshalb sind wir nicht hier. Es geht um einen Todesfall in Altötting. Gestern ca. 17.40 Uhr wurde ein Mann in der Marienstraße erstochen. Es wurde uns zugetragen, dass Sie sich etwa um die Zeit dort aufgehalten haben.“
„Ich werde des Mordes verdächtigt?“
„Wir ermitteln in alle Richtungen. Waren Sie dort?“
„Um 17.40 Uhr sagten Sie? Das stimmt, da war ich in der Gegend. Wie jeden Mittwoch war ich Blumen kaufen.“
„Ist Ihnen irgendetwas oder noch besser irgendjemand aufgefallen?“
Rosi Bofinger wusste genau, worauf die Polizisten anspielten. Aber sie gab sich ahnungslos.
„Lassen Sie mich nachdenken. Ich kam vom Blumenladen und ging über die Marienstraße auf dem Kreuzweg Richtung Kapellplatz. In der Stiftskirche habe ich eine Kerze für meinen verstorbenen Bruder angezündet, der gestern Geburtstag hatte. Ich bin den Kreuzweg zur Marienstraße wieder zurück, weil ich dort meinen Wagen geparkt habe. Alles war wie immer.“ Sie schüttelte den Kopf. „Mir sind auf meinem Weg einige Personen begegnet. Aber leider niemand, der mir irgendwie besonders aufgefallen wäre. Es tut mir leid, ich hätte der Polizei gerne geholfen.“
„Schade, das wäre auch zu einfach gewesen,“ sagte Viktoria enttäuscht, als sie im Wagen saßen.
„Sie lügt. Die Frau weiß genau, wer an ihr vorbeilief. Und wenn das stimmt, dann ist sie in Gefahr.“
„Übertreibst du da nicht ein bisschen?“
„Bestimmt nicht. Die Rosi führt ihr Gewerbe schon seit vielen Jahren und jeder kennt sie, auch wenn das keiner zugeben möchte. Selbst ich kenne sie.“
„Du kennst diese Rosi?“ rief Viktoria.
„Überrascht? Was glaubst du, woher ich wusste, wo sie wohnt? Ich bin davon überzeugt, dass Rosi den Täter gesehen und auch erkannt hat. Und wenn der Täter sie nun auch erkannt hat? Wenn ich richtig liege, dann geht der Mann mit ihr ein großes Risiko ein.“
Rosi stand noch lange am Fenster und sah dem Wagen hinterher. Natürlich hatte sie zur fraglichen Zeit in der Marienstraße einen Mann gesehen. Sie könnte ihn nicht nur beschreiben, sondern wusste sogar, wer er war. Dieser Mann war außergewöhnlich. Er hatte etwas unnahbares, fast geheimnisvolles an sich. Beruflich hatte sie vor einigen Jahren mit ihm zu tun. Damals besuchte er einen Freund in der Maria-Ward-Straße. Sie wusste, dass dieser Freund nicht mehr hier wohnte. Was wollte der Mann jetzt hier? Rosi schüttelte den Kopf, das alles ging sie nichts an. Warum sollte sie ihn an die Polizei verraten? Das war nicht ihre Art, denn sie wusste nicht, was wirklich passiert war. Schon immer hatte sie sich nur um ihre eigenen Angelegenheiten gekümmert und damit war sie in der Vergangenheit immer sehr gut gefahren. Vor allem wollte sie nicht als Verräterin und Plaudertasche dastehen, denn Diskretion war auch ein wichtiger Teil ihres beruflichen Erfolges. Viel mehr als dieser Mann und der Tote in der Marienstraße beschäftigte sie eine Frage: Hatte er sie auch gesehen? Hatte er sie erkannt? Sie fühlte sich nicht wohl bei der ganzen Sache. Wenn er wirklich einen Menschen getötet hatte, wie die Polizei behauptete, war sie dann mit ihrem Wissen in Gefahr? Sie wollte es nicht darauf ankommen lassen! Sie entschied, dem allen aus dem Weg zu gehen. Schon allein die Tatsache, dass die Kriminalpolizei bei ihr war, würde in Kastl wie ein Lauffeuer herumgehen. Dafür sorgten schon die beiden Tratschweiber, die gleich nach der Polizei endlich auch verschwunden waren. Sie ging auf den Dachboden, holte ihren großen Koffer und begann zu packen. Schon seit Wochen spielte sie mit dem Gedanken, einige Tage Urlaub zu machen; und der richtige Zeitpunkt war jetzt gekommen. Eine Woche Wärme und Sonne würde ihr guttun. Danach war der ganze Spuk sicher vorbei und sie wurde damit nicht in Verbindung gebracht. Nachdem sie gepackt hatte, sagte sie alle Termine der kommenden Woche ab, worüber ihre Kunden nicht gerade begeistert waren. Aber sie konnte alle besänftigen und war sich fast sicher, dass sie nicht einen Kunden durch ihren spontanen Urlaub verlieren würde…
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