Der 2. Fall aus der Leo-Schwartz-Krimireihe
1.
„Nein, die Sache bleibt streng geheim. Zu niemandem ein Wort, auch nicht zu Ihren Ulmer Kollegen. Ich möchte mir nicht ausmalen, wie sich die Medien in ihren Berichten überschlagen. Nichts soll an die Öffentlichkeit gelangen! Es hat keinen Sinn, länger darüber zu diskutieren. Meine Entscheidung steht.“ Die Worte des Stuttgarter Polizeichefs Bösel waren deutlich. Schon seit Stunden wurde heftig diskutiert.
Leo Schwartz war nicht seiner Meinung. Ermittlungen in diesem Umfang waren für einen einzelnen kaum zu stemmen. Aber Bösel bestand darauf und ließ nicht mit sich reden. Ob er vom anwesenden Dr. Biedermann, dem Vorsitzenden der ZB-Bank Stuttgart und der Versicherung, unter Druck gesetzt wurde? Leo versuchte es trotzdem noch einmal.
„Die Sache ist für einen Ermittler viel zu groß und umfangreich.“
„Sie machen das schon, Kollege Schwartz. Sie kennen Knoblich sehr gut. Nur Sie können sich in den Mann hineinversetzen. Wir sind sicher, dass Sie ihn finden werden. Sie haben unser größtes Vertrauen.“
Leo Schwartz war von Bösel für diesen Fall nach Stuttgart angefordert worden und dummerweise hatte er voreilig zugesagt. Als er hörte, dass es um Jürgen Knoblich ging, konnte er nicht anders. Er kannte Knoblich tatsächlich sehr gut. Als er erfuhr, was ihm nach der Haftstrafe zur Last gelegt wurde, war Leo erschrocken. Knoblich war noch tiefer gerutscht, als er es sich das hätte jemals vorstellen können.
Leo ging und hatte Bauchschmerzen. Welchen Anhaltspunkt hatte er? Knoblich war seit dem Überfall auf den Geldtransporter, bei dem ein Mann getötet und einer schwer verletzt wurde, nicht mehr gesehen worden. Wo sollte er anfangen? Es blieb ihm nichts Anderes übrig, als alle Freunde, ehemaligen Komplizen, Haftkumpanen und einschlägigen Kneipen aufzusuchen. Das war die Suche nach der berühmten Nadel im Heuhaufen.
Trotz Bösels Anweisungen informierte er seinen Ulmer Chef Michael Zeitler. Der hörte sich an, was Leo Schwartz zu sagen hatte und war sauer. Wie konnten diese Ermittlungen einem einzigen Beamten übertragen werden?
„Wenn Bösel das so entschieden hat, müssen wir uns daranhalten. Sie können sich auf mich verlassen. Wenn ich Ihnen irgendwie helfen kann, melden Sie sich. Viel Glück.“
Zeitler sah seinem Mitarbeiter hinterher. Abgesehen davon, dass er jetzt ohne ihn auskommen musste, machte er sich Sorgen. Mit Knoblich war nicht zu spaßen. Wenn er wirklich für den schrecklichen Überfall verantwortlich war, war er zu allem fähig. Und Leo Schwartz stand völlig alleine da.
2.
„Käse oder Schinken?“
Mario Pini erschrak und starrte die Stewardess verwirrt an. Er war mit den Gedanken sehr weit weg und dies waren nach fast drei Jahren die ersten deutschen Worte, die persönlich an ihn gerichtet wurden. Mit einem aufgesetzten Lächeln wiederholte sie gelangweilt ihre Frage. Sie hielt ihm das pappige Brötchen direkt vor die Nase und er lehnte dankend ab. Er hatte panische Angst vorm Fliegen und auf dem Flug von Caracas in Venezuela nach Frankfurt hätte er sich unter keinen Umständen abgeschnallt oder sich auch nur einen Millimeter von seinem Sitz entfernt. Auch nicht zum Pinkeln, was ihm nun mehr und mehr Sorge bereitete, denn das wurde langsam zum Problem. Sofort nach der Landung in Frankfurt, bei der er Todesängste ausgestanden hatte, schnallte er sich bereits ab, obwohl das noch nicht erlaubt war. Er nahm seine wenigen Habseligkeiten und drängelte an allen Passagieren vorbei, die ihm im Weg standen. Er hatte es jetzt sehr eilig, zu einer Toilette zu kommen. Der Aufenthalt in Frankfurt am Main war sehr kurz und bei dem Start mit der nächsten Maschine nach Stuttgart hätte er am liebsten vor Angst in den Vordersitz gebissen, denn er war nun völlig übermüdet, hungrig, leicht reizbar und mit den Nerven am Ende. Zum Glück saß neben ihm nur ein Fluggast, der in eine Zeitung vertieft war und ihn nicht beachtete.
„Wie lange haben wir noch bis Stuttgart?“ fragte er die Stewardess, die deutlich jünger und auch freundlicher war als die auf dem letzten Flug.
„Noch eine knappe halbe Stunde.“
Nicht mehr lange, und er hatte endlich wieder festen Boden unter den Füßen. Dann war er wieder in Deutschland. Vor drei Jahren hatte er die Schnauze voll gehabt von seinem Beruf als Bankkaufmann und erfüllte sich mit 37 Jahren den schon lange gehegten Wunsch, einmal den Jakobsweg zu gehen. Bis dahin hatte er alles, was er an Infos darüber bekommen konnte, verschlungen und sich nicht nur mental, sondern auch konditionell auf sein großes Ziel vorbereitet. Er hatte sich mit einer großen Party von Familie und Freunden verabschiedet und wollte eigentlich nach drei Monaten wieder zu Hause sein – eigentlich. Wie das Leben so spielte, hatte er auf dem Jakobsweg nette Menschen kennengelernt, die ihn nach Venezuela eingeladen hatten. Er hatte spontan zugesagt. Warum auch nicht? Er war ungebunden und frei in seinen Entscheidungen. In Venezuela blieb er hängen. Er und seine neuen Freunde lebten gemeinsam als Selbstversorger auf einem Bauernhof und je länger er dort war, desto klarer wurde ihm, dass das genau sein Ding war. Zwar musste er körperlich hart arbeiten, aber eigentlich lebten er und seine Freunde in den Tag hinein, feierten, tranken, aßen und genossen ihr Leben in vollen Zügen. Ja, er liebte dieses Lotterleben, kam aber in letzter Zeit ins Grübeln. In drei Monaten hatte er Geburtstag. Die magische vierzig! Sollte das schon alles gewesen sein? Verlangte er nicht viel mehr vom Leben als in den Tag zu leben und nur so viel zu arbeiten, dass man gerade so über die Runden kam? Nachdem er nicht der einzige in der Gruppe war, der so dachte, beschloss er, dass es nun wieder an der Zeit war, in die alte Heimat zurückzukehren. Hier wollte er wieder ein normales Leben führen und freute sich darauf. Vor allem aber freute er sich auf seinen Onkel Giuseppe, Tante Melanie und seine beiden Cousinen Laura und Maria, die er alle schrecklich vermisst hatte. Endlich konnte er sie nach so langer Zeit wieder in die Arme nehmen, schließlich waren sie seine einzige Familie. Auf die Gesichter war er schon gespannt, denn er hatte seinen Besuch nicht angekündigt und wollte sie überraschen. Er war sich sicher, dass sein Platz in Zukunft in Deutschland war und das wollte er natürlich zuerst seiner Familie mitteilen. Von Venezuela aus hatte er sich im Internet über den Kauf eines Bio-Bauernhofes in der Nähe der Familie informiert und die interessantesten Objekte rausgesucht. Er wollte sesshaft werden und eine eigene Familie gründen, die richtige Frau würde er ganz bestimmt noch finden. Bei dem Gedanken dachte er an Conzuela, die er immer Conny genannt hatte und die das aber nicht mochte. Conny brachte ein Mal pro Woche Brot, das in dem vier Kilometer entfernten kleinen Dorf gebacken wurde und wunderbar schmeckte. Als er jetzt an sie dachte spürte er den Geschmack des Brotes in seinem Mund. Conny! Die Verabschiedung von ihr war sehr schmerzhaft gewesen. Sie hatten sich ein paar Mal getroffen, gingen spazieren, tanzten und lachten. Mit ihr konnte er sich stundenlang unterhalten. Sie hatte einen köstlichen Humor, den er sehr mochte. Es war nichts Tieferes daraus entstanden, was er auch nicht zulassen wollte. Conny war in ihrer Heimat mit ihrer riesigen Verwandtschaft tief verwurzelt und er beneidete sie darum. Und seine Wurzeln lagen nun mal hier in Deutschland bei seiner Familie, davon war er überzeugt.
Die Landung am Stuttgarter Flughafen riss Mario jäh aus seinen Erinnerungen und verlangte ihm wieder sehr viel ab. Er war überglücklich, als er das Flugzeug endlich verlassen konnte. Das würde auf jeden Fall für ihn für lange Zeit der letzte Flug gewesen sein. Mario trat aus dem Flughafengebäude, atmete tief die frische Luft ein, die nach nasser Erde und auch nach Abgasen roch. Er nahm den riesigen Geräuschpegel um sich herum wahr, der ihn zu Anfang in Frankfurt erschreckte. Die ersten schwäbischen Brocken drangen zu ihm durch und er musste schmunzeln. Obwohl er so lange weg war, fühlte er sich nicht fremd. Er bestieg den Bus nach Reutlingen, der nächsten Etappe seiner Reise. Er sah aus dem Fenster und vieles kam ihm vertraut vor. Die saftigen Wiesen, die grünen Hügel und auch an dem Straßenverkehr konnte er sich kaum sattsehen. Schließlich entdeckte er die Achalm, die Burgruine hoch über Reutlingen, auf der er als Schulkind zu den Wandertagen und auch mit seinen Freunden zum Indianerspielen unzählige Male gewesen war. Erst jetzt spürte er, wie sehr er seine Heimat vermisst hatte und langsam verblassten die Gedanken an Venezuela und an Conny. Damals vor drei Jahren war er innerlich völlig ausgelaugt und an einem Punkt angelangt, an dem er einfach nicht mehr konnte. Dafür gab es ein Wort, mit dem man mittlerweile sehr viel offener umging: Burnout. Sein Arzt hatte ihm diese Diagnose gestellt, die sein Umfeld nicht wahrhaben wollte. Für sie war er einfach nur ausgelaugt. Manche meinten auch, er bilde sich nur etwas ein. Er spürte, wie hinter seinem Rücken getuschelt wurde. Anfangs ärgerte er sich darüber, irgendwann war ihm das gleichgültig. Er haderte mit seinem Leben. Er war sich nicht mehr sicher, ob das, was er bis dato tat, alles so richtig war oder ob er irgendetwas versäumt hatte. Eines Tages schmiss er alles hin. Er kündigte seinen guten Job. Seine Freunde hielten ihn für völlig verrückt. Aber was andere von ihm dachten, war ihm gleichgültig. Ja, er hatte es beruflich weit gebracht und hatte hart dafür gearbeitet, aber das war ihm nicht mehr wichtig. Waren seine Freunde überhaupt seine Freunde? Er kündigte den Mietvertrag für die riesige, moderne Wohnung mitten in Reutlingen mit dem herrlichen Blick über die Innenstadt. Viele hatten ihn beneidet. Als er dann auch noch seinen Porsche verkaufte, den er heiß und innig liebte, wendeten sich viele von ihm ab. Aber er selbst war sich so sicher, dass er das richtige tat und war heute sehr dankbar dafür, dass er damals den Mut aufbrachte und sich so entschieden hatte. In den letzten Jahren hatte er erkannt, was er falsch gemacht hatte und warum er so unzufrieden war. Natürlich hatte er sich einen gewissen Wohlstand erarbeitet, war Mitglied in mehreren Vereinen und hatte einen sehr großen Freundeskreis, aber das erfüllte ihn nicht. Er wollte ein anderes Leben führen und ihm war es egal, was andere von ihm dachten und von ihm erwarteten. Er wollte sich nicht mehr dem Diktat anderer fügen, sondern nur noch seinem Instinkt folgen. Nur Onkel Giuseppe, Tante Melanie und die beiden Cousinen Laura und Maria hielten zu ihm und verstanden ihn. Sie standen hinter ihm und machten ihm keine Vorwürfe oder gar Vorschriften. In den letzten drei Jahren hielt er immer Kontakt mit seiner Familie, was nicht immer einfach war. Vor einigen Monaten hatte er das letzte Mal mit ihnen telefoniert, danach gab es Probleme mit den Telefonverbindungen. Jeder Versuch, seine Familie anzurufen, scheiterte. Aber jetzt war er hier und konnte persönlich mit ihnen sprechen.
Der Bus stoppte in Reutlingen, er war fast an seinem Ziel angekommen. Trotz der langen Reise und dem Schlafmangel stieg er beschwingt aus, atmete tief die Luft der Stadt mitsamt dem Dreck ein, nahm die betriebsame Hektik um sich herum wahr und fühlte sich sofort zuhause. Er ging auf direktem Weg zum Busbahnhof und stieg nach wenigen Warteminuten in den Bus nach Pfullingen, dem Ziel seiner Reise. Dort lebte seine Familie in einem schönen, alten Einfamilienhaus.
Pfullingen! Endlich! Nur noch wenige Meter und er musste aussteigen. Mario lief durch die vertrauten Straßen und Gassen bis in die Münsinger Straße und hatte nur noch wenige Schritte vor sich. Er rannte beinahe, die Vorfreude auf seine Familie nahm ihm fast die Luft. Dann stand er mit klopfendem Herzen vor der Tür. Er klingelte und wartete – nichts. Er klingelte mehrmals, aber wieder rührte sich nichts. Seltsam. Es war fast achtzehn Uhr und eigentlich war um die Zeit immer jemand zuhause. Seine Familie konnte nicht im Urlaub sein, es war Mai, dazu noch ein Montag. Beide Mädchen waren noch schulpflichtig. War heute ein Feiertag? Nein, ganz sicher nicht. Erst jetzt bemerkte Mario, dass kein Klingelschild angebracht war und sah jetzt erst den verwilderten Vorgarten. Ein Zustand, den es bei seinem Onkel Giuseppe niemals gab. Hier stimmte etwas nicht. Aufgewühlt ging er in den Garten. Auch hier das gleiche Bild: Der Rasen war nicht gemäht worden und alles schien sehr ungepflegt. Er blickte durch das Fenster der Garage – die war völlig leer. Auch ein Zustand, den es niemals gab, denn die Garage war immer voll mit Fahrrädern, Mülltonnen und Gartengeräten, sodass Tante Melanie Mühe hatte, mit ihrem Kleinwagen Platz zu finden. Die Fenster des Hauses waren mit Gardinen zugehängt und obwohl er in jedes einzelne Fenster spähte, konnte er nichts erkennen. Wohnte seine Familie nicht mehr hier? Das konnte nicht sein, Giuseppe hätte ihm davon in Kenntnis gesetzt. Ja, die Telefonverbindung war schwierig, aber die Post funktionierte.
Mario war völlig durcheinander. Was war hier los? Er stellte seinen großen Rucksack auf der Terrasse ab und beschloss, sich in der Nachbarschaft durchzufragen. Er klingelte in den Häusern reihum, aber niemand wollte dem Fremden Auskunft geben. Erst im fünften Haus hatte er Glück, im ersten Stock öffnete sich ein Fenster.
„Grüß Gott, mein Name ist Mario Pini. Ich bin auf der Suche nach der Familie Pini in der Nummer 12, wir sind verwandt.“
„Die Familie kannte ich gut, die wohnen hier nicht mehr.“ Die alte Frau war sehr freundlich. Sie bemerkte Marios Gesicht und die Enttäuschung darin.
„Warten Sie junger Mann, ich komme runter.“
Sie öffnete die Tür, sah ihn lange an und lächelte.
„Ja, Sie sind mit Giuseppe verwandt, das sehe ich deutlich, die Ähnlichkeit ist verblüffend. Außerdem habe ich Sie früher ab und zu mit einem Sportwagen hier gesehen. Habe ich Recht?“
„Ja, das stimmt, der mit dem Sportwagen war ich. Giuseppe Pini ist mein Onkel. Habe ich Sie eben richtig verstanden? Die Familie Pini wohnt nicht mehr hier? Seit wann? Das kann nicht sein, das hätten sie mir doch gesagt.“
„Mein Name ist Frieda Votteler. Kommen Sie erst mal rein, Sie sind ja vollkommen außer sich.“
Verstört folgte Mario der freundlichen Frau Votteler und setzte sich an den gemütlichen Küchentisch in der altmodischen Küche. Er sah ihr zu, wie sie Wasser auf den Gasherd stellte und Tee zubereitete.
„So Mario, ich darf doch Mario sagen? Jetzt trinken Sie erst mal einen Schluck Tee. Ich weiß von Melanie und Giuseppe, dass Sie vor drei Jahren ausgewandert sind. Ich habe versucht, Sie über eine Handynummer zu erreichen, die mir Melanie einmal für Notfälle gegeben hatte. Leider habe ich Sie nicht erreicht. Das mit der Familie Pini versteht hier in der Nachbarschaft niemand, ich am allerwenigsten. Überaus liebe und hilfsbereite Menschen. Auch die Mädchen, so hübsch und gescheit, waren überall beliebt. Vor rund vier Monaten sind sie einfach so über Nacht weggezogen, ohne sich zu verabschieden oder irgendjemandem etwas davon zu erzählen. Und wenn ich sage über Nacht, dann meine ich das auch so. Am Abend waren sie noch da und alles war in Ordnung. Am nächsten Morgen waren sie weg, und zwar mit Sack und Pack. Ich habe in der Nacht einen Lkw gehört, habe mir aber nichts dabei gedacht. Keiner weiß, wohin sie sind und vor allem, warum sie weg sind. Wissen Sie, gewisse Nachbarn wachsen einem ja ans Herz und ich vermisse sie sehr. Giuseppe und Melanie gingen mir immer gerne zur Hand und halfen, wo es nur ging, auch bei anderen Nachbarn. Im Gegenzug habe ich auf die Mädchen aufgepasst, als sie noch klein waren oder habe nach dem Rechten gesehen, wenn sie in Urlaub fuhren. In den letzten eineinhalb Jahren hat Melanie hier im neuen Supermarkt gearbeitet und ich habe das eine oder andere Mal für sie gekocht und gebacken, was mir sehr viel Freude bereitet hat. Wir haben oft zusammen gegessen, hier oder drüben. Ich kann behaupten, dass wir befreundet waren, und zwar gut befreundet. Und jetzt sind sie einfach weg und wer weiß, wo sie jetzt sind und wie es ihnen geht.“
Mario hörte fassungslos zu und begriff nur langsam, denn die Informationen sprudelten nur so aus Frau Votteler heraus. Er spürte, dass sie sich große Sorgen machte und die Pinis sehr mochte.
„Sie meinen, meine Familie ist einfach so Hals über Kopf weg? Das kann doch nicht sein, das passt überhaupt nicht. Lassen Sie mich überlegen. Ich habe das letzte Mal Anfang Januar mit ihnen telefoniert, das genaue Datum weiß ich nicht mehr, aber es muss kurz nach Silvester gewesen sein. Wir haben uns gegenseitig alles Gute für das neue Jahr gewünscht, das weiß ich genau, also muss es Anfang Januar gewesen sein. Wann sind sie weggezogen?“
Frau Votteler war aufgestanden und holte aus der Schublade einen dicken Kalender, dessen Seiten mit handschriftlichen Vermerken übersät waren. Sie blätterte zurück bis Januar.
„Hier steht es, es war der 14. Januar, sehen Sie selbst.“
„Wie bitte? Wenn sie vorgehabt hätten, umzuziehen, hätten sie mir doch etwas gesagt. Nein, das kann nicht sein, da stimmt etwas nicht.“
„Das ist genau meine Rede. Ich war sogar schon bei der Polizei. Aber dort sind, entschuldigen Sie den Ausdruck, nur überhebliche Trottel. Die hat das überhaupt nicht interessiert, was ich zu sagen hatte. Sie haben mich ausgelacht und mich als senile Alte hingestellt, die sich in fremde Angelegenheiten einmischt. Ich war von Anfang an der Meinung, dass da irgendetwas nicht stimmt, denn mir hätten sie doch bestimmt etwas erzählt, da können Sie Gift darauf nehmen. Und nachdem Sie nur wenige Tage vorher miteinander telefoniert haben und sie Ihnen ebenfalls nichts erzählt haben, bestärkt mich das in meiner Annahme.“
Mario tat diese Frau sehr gut und er fand sofort eine Verbündete in ihr. Sie hatte vollkommen Recht, das stank zum Himmel. Seine Familie würde niemals so ohne weiteres aus Pfullingen verschwinden. Er wusste, dass sie sich hier sehr wohl fühlten und auch die Mädchen niemals aus dem gewohnten Umfeld herausreißen würden. Und wer um alles in der Welt zieht mit Sack und Pack bei Nacht und Nebel aus? Ihn beschlich ein sehr mulmiges Gefühl und sein Magen krampfte sich zusammen. Die Familie Pini hatte ganz offensichtlich seine Hilfe gebraucht und er war nicht hier gewesen, er war nicht mal erreichbar. Großspurig hatte er vor drei Jahren sein Handy am Flughafen vor seinem Abflug nach Spanien zum Abenteuer Jakobsweg in den Müll geworfen. Hätte er sein Handy behalten, dann wäre er erreichbar gewesen. Er hasste sich für sein großspuriges Verhalten und seinen Egoismus.
Frau Votteler spürte Marios Gemütszustand.
„Jetzt machen Sie sich keine Sorgen und vor allem keine Vorwürfe, das ist jetzt die reinste Zeitverschwendung. So wie es ist, ist es nun mal. Was wollen wir nun unternehmen?“
Mario musste fast lachen, als er in das gutmütige, runde und entschlossene Gesicht der kleinen, stämmigen 68-jährigen Frau blickte, die ihm hier in einem geblümten, weiten Kleid mit dicker Strumpfhose und bequemen Schlappen gegenübersaß. Die Frisur, die Pausbacken und die wachen Augen erinnerten ihn irgendwie an die alten Filme von Miss Marple.
„Waren Sie schon im Haus drin und haben sich umgesehen?“
„Nein, das ging nicht. Natürlich habe ich es versucht, ich habe einen Hausschlüssel. Aber die Schlösser wurden ausgetauscht.“
„Haben Sie ein Brecheisen?“
„Im Keller bestimmt, kommen Sie mit.“
Er folgte ihr in den völlig vollgestopften Keller, fand aber das Werkzeug auf Anhieb.
„Brechen wir jetzt ein?“ Frau Votteler war aufgeregt und zitterte am ganzen Leib.
„Ich breche dort ein und Sie bleiben hier, haben wir uns verstanden?“
Mario versuchte, so etwas wie Autorität auszustrahlen, was ihm aber misslang. Bei seiner Körpergröße von 1,67 Meter, der hageren Statur, den schulterlangen, ungepflegten Haaren und dem Hippy-Outfit nahm ihn nicht einmal die gute Frau Votteler für voll.
„Noi Mario, das kommt ja überhaupt nicht in Frage. Entweder wir gehen gemeinsam in das Haus, oder ich rufe die Polizei.“ Das hatte gesessen. Mario verschlug es fast die Sprache.
„Das ist Erpressung.“
„So sieht es aus. Sie werden meine Hilfe schon noch zu schätzen wissen.“
Sie zog Straßenschuhe an, nahm eine Strickjacke von der Garderobe und ging ihm voraus. Mario hatte keine andere Wahl, er musste das mit ihr gemeinsam durchziehen. Es war inzwischen halb acht geworden, aber noch viel zu hell.
„Wir sollten warten, bis es dunkel ist,“ schlug Mario flüsternd vor, als sie auf der Terrasse standen.
„Von hier aus kann uns nur Frau Reinhardt sehen. Die sitzt gerade vorm Fernseher, weil ihre Lieblingsserie läuft. Und dort wohnt Herr Scherer, der nicht nur schwer hört, sondern fast blind ist. Auf uns achtet niemand, glauben Sie mir. Fangen Sie endlich an.“
Mario war handwerklich sehr ungeschickt. Mit zitternden Händen setzte er das Brecheisen an. Machte er das überhaupt richtig? Woher hätte er das wissen sollen, niemals zuvor war er irgendwo eingebrochen. Er brauchte eine Ewigkeit, bis die Terrassentür endlich nachgab, wobei er sie erheblich demolierte. Frau Votteler war sehr ungeduldig und trieb ihn immer wieder mit unangebrachten Kommentaren an. Sie traten über Glassplitter durch die Terrassentür ins Hausinnere und sahen sich in dem völlig leeren Wohnzimmer um. Schweigend und fassungslos gingen die beiden von einem Zimmer ins nächste. Bis auf die Vorhänge an den Fenstern war nichts, auch nicht das Geringste, im Haus verblieben.
„Das kann doch alles nicht wahr sein,“ rief Frau Votteler aufgebracht, „sie haben alles mitgenommen? Sogar die Küche ist abgebaut worden. Das müssen ja mitten in der Nacht Massen von Helfern gewesen sein. Das glaube ich alles nicht.“
„Lassen Sie uns gehen,“ entschied Mario, der diese Leere nicht mehr ertragen konnte. Schweigend saßen die beiden noch lange an Frau Vottelers Küchentisch und tranken einen Beruhigungsschnaps nach dem anderen.
„Und jetzt?“ durchbrach Frau Votteler die Stille.
„Wir suchen natürlich weiter, das ist klar. Arbeitsstelle, Kollegen, Schule, und so weiter. Es gibt viele Stellen, die man abklappern kann. Wir fangen aber erst morgen damit an. Sie gehen jetzt erst mal ins Bett und schlafen sich aus. Ich muss mir noch ein Hotelzimmer suchen.“
„Das kommt ja gar nicht in Frage, Sie bleiben hier, ich habe ein Gästezimmer für Sie. Ich ahne schon, was Sie vorhaben. Sie wollen das alles ohne mich machen. Aber das können Sie vergessen. Versprechen Sie mir sofort, dass wir gemeinsam auf die Suche gehen!“ Frau Votteler sah ihn flehend an und Mario konnte nicht anders.
„Wie könnte ich ohne meine Miss Marple auf die Suche gehen? Ich verspreche Ihnen hoch und heilig, dass wir gemeinsam nach meiner Familie suchen.“
Die leicht angeschwipste Frau Votteler lächelte zufrieden. Sie schlurfte ihm voraus und öffnete eine Tür am Ende des Flures.
„Hier ist Ihr Reich junger Mann, Bettwäsche ist im Schrank, nebenan ist das Bad. Sie finden schon, was Sie brauchen. Ich muss jetzt ins Bett. Gute Nacht.“
Mario schmunzelte. Ihm gefiel die alte Dame und die Tatsache, dass sie so ein Gottvertrauen zu ihm hatte. Er hatte keine Lust, das Bett zu beziehen und zog seinen Schlafsack aus dem Rucksack. Nach einer ausgiebigen Dusche in dem ebenfalls altmodischen Badezimmer fiel er in einen unruhigen Schlaf.
„Es wurden Aktionen im Haus Pini gemeldet. Kümmern Sie sich darum.“
Die wenigen Worte schreckten Leo Schwartz auf. Bei der Suche nach Jürgen Knoblich hatte er herausgefunden, dass dieser eine Schwester hatte: Melanie Pini. Seitdem ließ er das Haus überwachen. Leo war nur selten in seinem Büro in Stuttgart, das ihm zur Verfügung gestellt wurde. Er arbeitete lieber von zuhause aus, was ihm sehr viel angenehmer war. Er war in Stuttgart bei den dortigen Kollegen nicht gerne gesehen. Niemand wusste, warum er hier war und Gerüchte machten die Runde. Was lief hinter ihrem Rücken ab? Und warum wurde ein Kollege aus Ulm geholt? Waren sie selbst nicht in der Lage, dessen Arbeit zu machen? Misstraute ihnen der Chef? Leo spürte die Ablehnung. Außerdem machten sich viele hinter seinem Rücken über ihn lustig, was seinen Kleidungsstil betraf: Mit seiner Körpergröße von 1,90 Meter trug er stets Jeans, Cowboystiefel, eine alte Lederjacke und T-Shirts mit dem Aufdruck von längst
vergessenen Rockstars. Leo liebte diese T-Shirts, für die er ein Heidengeld bezahlte.
Leo arbeitete seit zwei Wochen an dem Fall Knoblich. Die einzige Spur, die er bislang hatte, war Melanie Pini. Längst hatte er nicht mehr an diese Spur geglaubt, bis er diese Nachricht bekam.
Endlich kam wieder Bewegung in die Sache. Er musste so schnell wie möglich mit Zeitler sprechen. Der reagierte sofort.
„Finden Sie heraus, was es damit auf sich hat. Wir müssen Knoblich endlich aus dem Verkehr ziehen.“
3.
„Guten Morgen, Mario. Ich dachte schon, Sie stehen überhaupt nicht mehr auf. Setzen Sie sich und langen Sie kräftig zu, wir haben heute viel vor.“
Fröhlich begrüßte ihn Frau Votteler an einem reich gedeckten Frühstückstisch und schenkte dampfenden Tee ein. Es war erst kurz nach sechs, Frau Votteler war offensichtlich eine Frühaufsteherin. Ganz im Gegensatz zu Mario, der üblicherweise vor zehn Uhr niemals aufstand. Aber Frau Votteler hantierte so laut in der Küche, dass er dadurch aufwachte und sich genötigt fühlte, aufzustehen. Er war sich sicher, dass sie das mit Absicht gemacht hatte, um ihn zu wecken.
„Guten Morgen, Frau Votteler, Sie sind echt früh auf. Und Sie waren schon sehr fleißig, das Frühstück sieht himmlisch aus.“ Mario hatte großen Appetit und sein Ärger über das frühe Aufstehen verflog im Nu.
„Jetzt lassen wir mal die Frau Votteler weg. Ich bin die Frieda und du bist der Mario, das ist einfacher. Schließlich sind wir beide nun Komplizen und haben eine gemeinsame Mission zu erfüllen. Iss, Junge, damit du mir nicht verhungerst. Für einen Mann deines Alters und deiner Größe bist du viel zu mager. Ich mache mich fertig und dann können wir los.“
Mario ließ es sich schmecken und war pappsatt. Es war lange her, dass er ein deutsches Frühstück genoss. Vor allem die Brezeln hatten es ihm angetan und er konnte nicht genug davon bekommen. Er hatte nicht nur den gestrigen Tag über, sondern auch am Abend nichts mehr gegessen und war völlig ausgehungert. Durch die ganze Aufregung hatte er nicht mehr an Essen gedacht. Frieda kam fertig angezogen mit Schuhen, Jacke und Tasche in die Küche und die beiden räumten den Tisch ab.
„Ich würde vorschlagen, wir fangen mit den Arbeitsstellen von Melanie und Giuseppe an. Zuerst gehen wir zum Supermarkt, der öffnet um sieben Uhr. Danach gehen wir zu den Stadtwerken.“
„Darf ich vorher noch kurz ins Bad?“
Frieda nickte enttäuscht, sie wollte unbedingt sofort los. Mario versprach, sich zu beeilen. Er amüsierte sich über den wachen Geist und das Temperament seiner neuen Freundin und hatte Mühe, mit ihr Schritt zu halten. Das war gut so, denn das lenkte ihn von seinen Sorgen ab.
Der Supermarkt befand sich nur zwei Straßen entfernt und Frieda Votteler war hier offensichtlich bekannt wie ein bunter Hund. Es gab kaum eine Person, die sie nicht begrüßte. Auf Nachfragen bezüglich ihrer Begleitung gab sie freimütig Auskunft darüber, dass es sich um einen Verwandten der Familie Pini handelte.
Im Supermarkt trommelte Frieda Melanies ehemalige Arbeitskolleginnen zusammen und stellte Mario vor.
„Von einem Tag auf den anderen war Melanie nicht mehr hier und wir bekamen von der Geschäftsleitung die Information, dass sie das Arbeitsverhältnis ohne Angabe von Gründen gekündigt hat.“ Diese und ähnliche Informationen bekamen sie von jeder Kollegin zu hören. Mario war schnell klar, dass Frieda alle bereits diesbezüglich befragt hatte, denn die ehemaligen Kolleginnen seiner Tante waren von den erneuten Fragen genervt.
Niedergeschlagen verließen die beiden den Supermarkt, vor allem Mario hatte sich mehr von der Befragung versprochen. Er hatte deutlich gespürt, dass seine Tante Melanie und die übrige Familie Pini hier sehr beliebt waren und keiner verstehen konnte, dass sie so Hals über Kopf gekündigt hatte. Das streute erneut Salz in seine Wunde und bestärkte ihn in seiner Annahme: Das Verschwinden seiner Familie war nicht normal.
Bei den Stadtwerken war man weniger kooperativ, sie wurden bereits am Empfang abgewiesen. „Über ehemalige Mitarbeiter geben wir keine Auskunft,“ war die knappe Antwort des Pförtners.
„Das hätte ich mir ja denken können, dass Sie uns keine große Hilfe sind. Aber unser Geld nehmen Sie natürlich. Wenn man aber mal eine kleine Frage hat, wird man abgewimmelt.“ Frieda war außer sich von der rohen Art des Mannes, der sich aber durch Friedas Schimpftirade nicht aus der Ruhe bringen ließ. Er bat sie, das Gelände zu verlassen und bezüglich dieses Anliegens nicht mehr vorstellig zu werden.
Natürlich wusste Frieda, welche Schule die beiden Mädchen besuchten, denn stolz sagte sie: „Die beiden gehen auf das Albert-Einstein-Gymnasium in Reutlingen.“
Mario musste schmunzeln, da er früher die gleiche Schule besuchte.
Sie nahmen den Bus nach Reutlingen und Mario beschloss, dass er sich dringend einen Wagen besorgen musste, um flexibler und mobiler zu sein.
Im Gebäude des Gymnasiums, das sie kurz vor halb zehn betraten, nahm Mario sofort diesen typischen Geruch der Schule wahr. Er wurde fast etwas wehmütig, denn er hatte seine Schulzeit in sehr guter Erinnerung. Er war beileibe nicht der beste Schüler, aber bis auf wenige Ausnahmen hatte er riesiges Glück mit den Lehrern und Klassenkameraden. Vor allem Mathematik, Geschichte und Deutsch waren seine Lieblingsfächer, während er auf Englisch, Physik, Chemie und vor allem auf Sport gerne verzichten konnte. Mario sah sich um. Es hatte sich in den Jahren sehr viel verändert, trotzdem erkannte er das eine oder andere Detail.
Frieda war fasziniert von dem hellen, sauberen Gebäude und kam aus dem Schwärmen nicht mehr raus. Sie erzählte Mario in allen Einzelheiten, bei welchen Gelegenheiten sie bereits hier gewesen war. Sie wurde von der Familie Pini zu Schulfesten, Theateraufführungen und auch zu Konzerten eingeladen, was sie immer gerne annahm. Sie hatte keine Familie und somit keine Enkel. Die Mädchen waren ihr sehr ans Herz gewachsen und sie fühlte sich in den letzten Jahren wie deren Großmutter.
Das Sekretariat fanden sie ohne Probleme, denn das kannte Mario noch von früher. Mittlerweile war es viel größer und natürlich moderner. Auch die Sekretärinnen waren hübscher.
„Mein Name ist Mario Pini und ich bin auf der Suche nach meinen Cousinen Laura und Maria Pini, die bis vor Kurzem hier zur Schule gingen. Ich war viele Jahre im Ausland und bin auf der Suche nach meiner Familie. Wäre es möglich, in Ihren Schulakten nachzusehen, ob irgendetwas über den neuen Wohnort zu erfahren ist?“ Mario setzte sein charmantestes Lächeln auf und die Sekretärin war seinem Charme nicht abgeneigt. Sie lächelte ebenfalls und setzte sich sofort an ihren Computer. Ihre Miene versteinerte sich, sie sah verstohlen zu Mario, murmelte ein kurzes Moment bitte und kam dann mit dem Rektor zurück. Der warf einen Blick auf ihren Bildschirm und wandte sich dann an Mario.
„Leider können wir zu den beiden Schülerinnen nichts sagen. Tut mir leid, wir haben keinen Vermerk darüber, dass wir Ihnen gegenüber Auskunft geben dürfen.“
Mario und Frieda starrten den Mann an.
„Wie sollen wir das verstehen? Heißt das, Sie wissen etwas und können uns nichts sagen? Oder dürfen Sie nichts sagen?“ Mario verstand die Welt nicht mehr. Was war hier los?
„Wie gesagt, von uns bekommen Sie keine Auskunft, es tut mir leid. Bitte verlassen Sie das Schulgelände.“
„Sie werfen uns raus?“
„Bitte verlassen Sie das Schulgelände,“ wiederholte der Rektor, dem das alles hier sichtlich unangenehm war, zumal fünf weitere Personen anwesend waren, die jetzt mucksmäuschenstill dem Geschehen lauschten. Frieda startete abermals eine Schimpftirade, die aber nichts brachte.
„Wenn Sie sich weigern, das Schulgelände zu verlassen, müssen wir die Polizei rufen.“ Das war deutlich. Mario nahm Frieda an die Hand und zog sie, immer noch schimpfend, aus dem Gebäude. Sie gingen drei Straßen weiter Richtung Marktplatz und setzten sich auf eine Bank, Frieda hatte sich etwas beruhigt.
„Was nun?“ Frieda hatte einen hochroten Kopf und war sehr erschöpft.
„Wie sieht es aus mit Freunden oder Melanies Familie?“
„Die habe ich alle schon angerufen oder angesprochen. Die wissen genauso viel wie wir, glaub mir.“
„Dann gehen wir jetzt zur Polizei.“
„Zu diesen Pfeifen?“ Frieda schrie so laut, dass einige Passanten verstohlen zu den beiden rüber sahen. „Das hab ich doch versucht, die machen doch nichts, denen ist das ziemlich egal.“
„Vielleicht nicht, wenn ich als Verwandter nachfrage. Einen Versuch ist es wert. Kommst du trotzdem mit?“
„Darauf kannst du Gift nehmen.“
Schweigend gingen die beiden zur Polizei, die nur wenige Straßen entfernt war. Man konnte Frieda Votteler die Anspannung ansehen, denn ihr Atem wurde schneller und ihr Gesicht war immer noch knallrot. Sie hatte die Polizei noch nie gemocht und hatte, seit sie denken konnte, nur schlechte Erfahrungen gemacht. Einige Male hätte sie deren Hilfe brauchen können, aber die hatte man ihr verweigert. Damals war sie noch jung gewesen und wurde von ihrem damaligen Freund mehrmals misshandelt. Als sie Hilfe bei der Polizei suchte, wimmelte man sie ab. Man wollte sich nicht in Privatangelegenheiten einmischen. Seit damals hatte sie die Polizei gemieden. Erst vor wenigen Wochen nahm sie all ihren Mut zusammen und ging zur Polizei. Aber wieder wurde sie abgewimmelt. Man spürte Friedas Anspannung, als sie das Gebäude betraten. Sie war jetzt nicht mehr so vorlaut und forsch, sondern hielt sich zurück.
Wider Erwarten wurden sie freundlich begrüßt, doch Frieda blieb angespannt.
„Mein Name ist Mario Pini,“ sagte er und legte seinen Personalausweis auf den Tresen. „Ich bin auf der Suche nach meinen Verwandten Giuseppe und Melanie Pini, sowie deren Kinder Laura und Maria. Sie haben bis vor Kurzem in Pfullingen gewohnt.“ Mario beschloss, keine weiteren Details zu nennen und erst einmal abzuwarten, wie der Polizist reagieren würde.
„Und was können wir da tun? Wir sind die Polizei und nicht das Einwohnermeldeamt. Wenden Sie sich bitte an die Stadt Pfullingen, denn solange gegen Ihre Familie nichts vorliegt, sind wir nicht zuständig.“
„Das Problem ist, dass meine Familie offensichtlich über Nacht weggezogen ist, ohne eine Nachricht zu hinterlassen. Ich bin davon überzeugt, dass hier etwas nicht stimmt.“
„Setzten Sie sich an Ihren Computer und sehen Sie nach.“ Frieda war sehr ungehalten und konnte sich nicht mehr beherrschen. „Ich war wegen der Familie Pini bereits hier und Sie haben mich weggeschickt, ja das waren genau Sie, junger Mann. Hier ist ein Familienmitglied, das nach seiner Familie sucht und jetzt unternehmen Sie sofort etwas.“
Mario konnte Frieda kaum bremsen und ihm wurde flau im Magen. Wenn man so pampig der Polizei gegenüber war, zog das meist nichts Gutes nach sich. Zu seiner Überraschung ging der Polizist tatsächlich zu seinem Bildschirm, tippte in die Tastatur. Offensichtlich hatte er etwas entdeckt, denn er las interessiert. Er sah zu den beiden hinüber und ging dann auf sie zu.
„Tut mir leid, da können wir nicht helfen, gegen Ihre Familie liegt nichts vor. Auf Wiedersehen.“
„Aber Sie haben doch gerade etwas gefunden und wissen etwas. Was haben Sie auf Ihrem Bildschirm gelesen?“ Frieda hatte den Polizeibeamten genau beobachtet und war sich sicher, dass er Informationen über die Familie Pini hatte, die er nicht weitergeben wollte.
„Nichts, was Sie interessieren dürfte. Und jetzt möchte ich Sie bitten zu gehen, wir können nichts für Sie tun. Ich wiederhole mich zwar, aber gegen die Familie Pini liegt nichts vor und es ist kein Verbrechen, umzuziehen, das steht jedem Bürger frei. Hier ist Ihr Personalausweis. Einen schönen Tag noch, auf Wiedersehen.“
Mario und Frieda standen verstört auf der Straße.
„Ich habe gewusst, dass man uns nicht helfen möchte. Es ist immer dasselbe!“ machte sich Frieda Luft.
„Was machen wir jetzt?“ Mario sah die Verzweiflung in Friedas Augen, die sich nun noch mehr Sorgen machte.
„Ich habe keine Ahnung.“
Leo Schwartz war seit den frühen Morgenstunden in Pfullingen. Er hatte vor dem Haus der Familie Pini Stellung bezogen und wartete. Wer war in dem Haus der Familie gewesen? Er hatte drei unscharfe Aufnahmen übermittelt bekommen, die einen Mann und eine alte Frau zeigten. Wer waren die beiden? Als Frieda und Mario aus dem Nachbarhaus kamen, erkannte er die beiden sofort. Wer waren sie und was wollten die beiden gestern Abend im Pini-Haus? Er folgte ihnen. Als die beiden den Supermarkt verließen, dachte er sich noch nichts dabei. Aber bei den Stadtwerken wurde er hellhörig. Er wusste aus den Unterlagen, dass Giuseppe Pini hier gearbeitet hatte. Als die beiden dann auch noch das Albert-Einstein-Gymnasium betraten, war er überzeugt: Die beiden waren auf der Suche nach der Familie Pini. Aber warum? Er hatte schnell herausgefunden, dass es sich bei der alten Frau um Frieda Votteler handelte, die Nachbarin der Pinis. Sie hatte bereits ohne Erfolg nach der Familie gesucht und hatte aufgegeben, als sie keine Informationen bekam. Wer war der Mann? Leo war für einen Moment versucht, im Gymnasium nachzufragen, was die beiden hier suchten, verwarf das dann aber schnell wieder, denn die beiden gingen weiter. Wohin wollten sie jetzt? Zur Polizei! Die beiden gingen zielgerichtet zur Polizei, er konnte sein Glück kaum fassen. Er wartete wenige Minuten, bis die beiden das Polizeigebäude verließen und ging dann selbst hinein. Er zeigte seinen Ausweis vor.
„Eine Frieda Votteler war eben in Begleitung hier. Ich habe zwei Fragen: Wer war der Mann und was wollten die beiden?“
„Der Mann ist ein gewisser Mario Pini. Er gab an, ein Verwandter der Familie Pini zu sein, die kürzlich umgezogen ist. Ich konnte den beiden keine Auskunft geben, da ein entsprechender Vermerk im Computer hinterlegt ist.“
„Ich weiß, den habe ich selbst veranlasst. Kann ich Ihren Computer benutzen?“
„Bitte.“
Leo brauchte eine knappe Stunde, um alle Informationen über Mario Pini herauszufinden. Mario war der Neffe von Giuseppe und Melanie Pini und befand sich noch bis vor drei Tagen in Venezuela. Warum war er hier? Was wollte er hier? Leo hoffte, dass der Mann keine Schwierigkeiten machte.
Leo stieg in seinen Wagen. War er hier auf der richtigen Spur nach Jürgen Knoblich? Der Entflohene hatte einen persönlichen Bezug zur Familie Pini, den er noch vor wenigen Wochen als sehr weit hergeholt einstufte. Aber er hatte außer einigen zwielichtigen Kumpanen Knoblichs keine andere Spur. Er war vor drei Monaten selbst überrascht darüber, dass die Familie Pini bei Nacht und Nebel einfach umgezogen war. Natürlich hatte er versucht herauszufinden, wo die Familie abgeblieben war. Leider erfolglos. War er hier auf der richtigen Spur oder lag er völlig falsch?
Leo beschloss, Mario Pini und Frieda Votteler auf den Fersen zu bleiben. Mal sehen, was die beiden über die Familie Pini herausfanden.
4.
Mario wachte mitten in der Nacht schweißgebadet auf, er hatte einen schrecklichen Alptraum. Es war erst halb zwei und er versuchte lange erfolglos, wieder einzuschlafen. Er warf sich von einer Seite auf die andere, zupfte an der Decke, schüttelte mehrmals sein Kissen auf. Es half nichts, er fand keinen Schlaf mehr. Er stand auf und ging in die Küche, um einen Schluck Wasser zu trinken. Zu seinem Erstaunen saß Frieda in Nachthemd und Strickjacke am Tisch und strahlte ihn an.
„Raus damit, was willst du mir sagen?“
„Das Haus, Mario. Es gehört doch bestimmt immer noch den Pinis.“
Mario verstand sofort. Natürlich! Das Haus! Es musste doch einen Grundbucheintrag geben, und somit vielleicht auch eine neue Anschrift.
„Frieda, du bist ein Schatz. Gleich morgen gehen wir aufs Grundbuchamt. Und nun sieh zu, dass du ins Bett kommst.“
Ihre Lage schien nun nicht mehr ganz so verzweifelt.
Natürlich wusste Frieda, dass das Grundbuchamt in Pfullingen vom Notariat verwaltet wurde und das öffnete um acht Uhr.
„Meinst du, dass wir so ohne weiteres Auskunft bekommen?“ Mario war sich nun nicht mehr so sicher, dass das so eine gute Idee war. Er hatte nicht die leiseste Ahnung, wie sie an die erforderliche Information kommen könnten.
„Natürlich bekommen wir die Information nicht einfach so, du Dummerle. Es könnte ja Hinz und Kunz kommen und mir nichts, dir nichts Einblick ins Grundbuch nehmen. Du musst schon einen triftigen Grund dafür haben. Als Eigentümer hast du natürlich allen Grund dazu, und natürlich als Gläubiger. Ich hatte heute Nacht so eine Idee. Wenn du dich als Eigentümer ausgibst, haben wir wahrscheinlich keine Chance. In dem Fall müsstest du deinen Ausweis vorlegen und weder dein Vorname, noch dein Geburtsdatum stimmen mit den Angaben deines Onkels im Grundbuch überein. Nein, das können wir vergessen, das würde überhaupt nichts bringen. Ich habe deshalb überlegt, ob ich nicht einen fingierten Schuldschein vorlege und behaupte, dass ich von den Pinis noch Geld bekomme und deshalb auf der Suche nach ihnen bin. Heute Nacht habe ich einen Schuldschein handschriftlich verfasst, es fehlt nur noch eine glaubhafte Unterschrift. Die kann ich nicht nachmachen, das würde man sofort sehen, darin bin ich völlig unbegabt.“
Mario war platt. Frieda war ein ausgebuffter, schlauer Fuchs und mit allen Wassern gewaschen. Er las den fingierten Schuldschein über 25.000 Euro, nahm den ihm gereichten Stift und unterzeichnete mit Giuseppe Pini. Diese Unterschrift müsste der seines Onkels ähnlich sein. Er hatte sie früher sehr oft gesehen und sich darüber lustig gemacht, denn Giuseppe vertrat die Meinung, dass man eine Unterschrift auch lesen können sollte und unterschrieb daher fast in Schreibschrift, ähnlich wie ein Viertklässler.
Frieda nahm das Schriftstück entgegen, sah sich die Unterschrift an und schien zufrieden.
„Woher weißt du das alles?“ Mario war erstaunt über Friedas Kenntnisse, was das Prozedere von Grundbucheinträgen betrifft.
„Ich lebe schon lange genug, um mir ein bisschen Wissen angeeignet zu haben und ganz doof bin ich auch nicht.“
„Die Idee ist super. Aber hast du nicht nur Anspruch auf Einsicht, wenn du auch im Grundbuch eingetragen bist?“
„Wahrscheinlich schon. Aber es wäre eine Möglichkeit, zumindest in die Nähe der Unterlagen zu kommen. Vielleicht haben wir Glück, wir werden sehen. Auf jeden Fall haben wir einen Grund, warum wir die Familie Pini suchen. Du hältst besser den Mund und lässt mich reden. Und kein Wort darüber, dass du mit den Pinis verwandt bist. Du bist mein Sohn und damit basta. Und jetzt hopp-hopp, wir haben keine Zeit.“
Frieda und Mario wurden freundlich begrüßt und die beiden brachten ihr Anliegen vor. Die Empfangsdame verstand, bat um Friedas Personalausweis.
„Bitte nehmen Sie im Wartezimmer Platz.“
Schweigend und sehr nervös mussten sie warten. Nach knapp zwanzig Minuten kam der Notarangestellte, begrüßte die beiden höflich und gab Frieda ihren Personalausweis zurück. Marios wollten sie nicht sehen, da es Friedas Anliegen war. Er bat die beiden in sein Büro.
„Zum Glück hat der Notar selbst keine Zeit. Ich kenne den Mann, er ist korrekt und ein harter Brocken. Mit dem jungen Mann könnten wir Glück haben,“ sagte Frieda zu Mario, als sie dem Mann folgten. Sie hatte darauf gehofft, dem Notar selbst nicht über den Weg zu laufen, denn die beiden kannten sich seit vielen Jahren. Der Notar hatte die Angewohnheit, nicht vor halb neun im Büro zu sein und deshalb wollte Frieda vor ihm eintreffen. Nur so hatte sie eine Chance, nicht ihn sondern seinen Mitarbeiter sprechen zu können. Sie setzten sich in dem schlichten, sauberen Büro.
„Meine Kollegin hat Ihr Anliegen geschildert und ich kann Sie verstehen. Ich vermute, dass Sie die Familie Pini privat finanziell unterstützt haben?“
„Sie hatten einen Engpass und ich half gerne. Ich brauchte das Geld nicht und habe es der Familie Pini gerne geliehen. Warum auch nicht? Ich kenne die Familie schon lange und habe ihnen vertraut. Aber jetzt ist die Familie Hals über Kopf weggezogen und ich habe bis heute kein Geld zurückbekommen. Das geht doch nicht, dass man einfach abhaut und seine Schulden nicht bezahlt. Ich suche seit Wochen nach einer Möglichkeit, die neue Adresse der Pinis herauszubekommen. Niemand kann mir sagen, wo die Familie Pini jetzt lebt. Mein Sohn hat mich auf die Idee gebracht, eventuell beim Grundbuchamt nachzufragen. Können Sie mir sagen, wo die Familie Pini aufzufinden ist? Ich habe nur eine schmale Rente und kann natürlich nicht auf dieses Geld verzichten, denn 25.000 Euro sind schließlich 50.000 Mark. Das ist für mich sehr viel Geld. Ich wollte nur helfen und wurde nur ausgenutzt.“ Frieda log, dass sich die Balken bogen und sprach mit jämmerlicher Stimme. Weinte sie sogar? Mario saß daneben und konnte nicht glauben, wie gut Frieda war.
„Leider ist im Grundbuch kein Eintrag über dieses private Darlehen vermerkt worden. Ihr Schuldschein besagt nicht, dass das Haus als Pfand zur Verfügung steht. Sie haben einfach zu gutmütig gehandelt und ich hoffe, dass das für die Zukunft eine Lehre für Sie ist.“
Der Notarangestellte ärgerte sich über den Vorfall. Offensichtlich hatte er Mitleid mit Frieda. Er blätterte in den Unterlagen und rang sehr mit sich.
„Sie verstehen sicher, dass ich Ihnen keine genaueren Informationen geben darf.“ Er lehnte sich zurück und überlegte. Frieda und Mario konnten sehen, dass der Mann eine Information hatte und tatsächlich daran dachte, sie weiterzugeben. „Die Familie Pini hat die Anschrift eines Maklerbüros in Reutlingen hinterlassen, über die sie zu erreichen ist. Mehr darf ich Ihnen aber wirklich nicht sagen, eigentlich war das schon zu viel.“
Frieda bedankte sich überschwänglich und versicherte dem freundlichen Mann, dass sie in Zukunft vorsichtiger mit ihrem Geld sein würde. Gerade noch rechtzeitig ging sie durch die Tür, bevor sie dem Notar in die Arme lief. Er würde nur dumme Fragen stellen und darauf konnte sie gerne verzichten. Der Notar Diegel hatte Frieda bemerkt. Was wollte sie hier? Eine Angestellte lenkte ihn ab. Danach hatte er die Begegnung vergessen.
„Du bist ein raffiniertes Luder. Die Lügen kommen dir so leicht über die Lippen, dass ich nur staunen kann. Ich an deiner Stelle hätte vor Aufregung nicht einen vollständigen Satz rausbekommen.“
Mario bewunderte Frieda für ihr Temperament, ihren Mut und ihre Schlagfertigkeit, nahm sie in den Arm, und bemerkte, dass sie am ganzen Körper zitterte. Nur langsam beruhigte sie sich wieder, die ganze Sache ging ihr ziemlich nahe. Zum Glück war sie äußerlich ruhig geblieben.
„Wir wollen ja schließlich was erreichen, oder? Und da kommen wir mit zögerlichem Verhalten und falscher Scham nicht weiter. Und jetzt heißt es: Makler abklappern und versuchen, den richtigen zu finden und an die Adresse der Pinis zu kommen.“
Von zu Hause aus telefonierte Mario mit mehreren Maklern, was ihm leichter fiel als von Angesicht zu Angesicht. Am Telefon war er so selbstsicher und geschickt, dass Frieda nur staunen konnte. Er gab sich als Interessent für ein Haus in der Münsinger Straße in Pfullingen aus, natürlich unter dem Namen Votteler, denn den Namen Pini wollte er in diesem Zusammenhang nicht ins Spiel bringen. Schlussendlich hatte er nach endlosen Anläufen endlich den richtigen Makler gefunden.
„Herr Baumüller, Sie sind mein Mann. Ich suche dringend eine Immobilie in der Nähe meiner Mutter und habe erfahren, dass hier in Pfullingen in der Münsinger Straße ein Haus verkauft wird.“
Der Makler war begeistert und witterte ein schnelles Geschäft. Glücklicherweise hatte er am Nachmittag um halb drei noch einen Termin frei, den Mario selbstverständlich sofort annahm. Sie trafen sich vor dem Haus seiner Familie. Sie besichtigten das ganze Haus, das für Mario voller schmerzlicher Erinnerungen war. Er zeigte großes Interesse daran, als der Makler Zimmer für Zimmer das Haus in den schönsten Farben anpries. Als dann noch Frieda als seine Mutter auftauchte und das ganze Spiel sehr glaubhaft machte, sah der Makler einen sehr leichten Abschluss vor sich und ließ sich von Frieda zum Kaffee bei ihr überreden. Mario musste dabei unbedingt an die Unterlagen des Maklers kommen, denn über den Eigentümer verlor der kein Wort, obwohl Mario sich alle Mühe gab, diesen aus ihm herauszulocken. Es lag nun an Frieda, den Makler abzulenken. Sie weckte dessen Interesse, als sie ihm in Aussicht stellte, eines ihrer Häuser mitten in Reutlingen zu verkaufen und sie mit ihm die Unterlagen in ihrem Wohnzimmer einsah. Frieda hatte noch ein Haus?
Jetzt saß der Makler mit Frieda im Wohnzimmer und sie waren in die Unterlagen vertieft, sodass Mario mit zitternden Händen die Mappe des Maklers in die Hand nahm, die er am Esstisch liegen gelassen hatte. Er schwitzte und zitterte wie verrückt, denn jeden Moment konnte der Makler Baumüller wieder zurückkommen. Völlig planlos blätterte er in den umfangreichen Unterlagen und suchte hektisch nach dem Namen Pini, fand ihn aber nicht. Frieda sprach zum Glück sehr laut und so konnte er vernehmen, dass die beiden fertig waren und nun wieder zurückkamen.
Wo war nur diese verdammte Adresse? Er durchsuchte nun immer hektischer die Unterlagen, irgendwo musste doch der Name des Verkäufers oder des Eigentümers notiert sein. Endlich fand er in dem Maklervertrag einen Namen: Peter Friedrich in Altötting. Frieda und Baumüller waren auf dem Weg in die Küche, er musste sich beeilen. In der Eile konnte er die Straße nicht lesen. War dieser Peter Friedrich der Eigentümer beziehungsweise der Verkäufer? Das konnte nicht sein. Schnell legte Mario die Mappe wieder zurück an den Platz, setzte sich und hoffte innständig, dass Baumüller nichts bemerken würde. Der Makler setzte sich, wobei er immer noch im Gespräch mit Frieda vertieft war und seinen Unterlagen keine Beachtung schenkte. Zum Glück. Trotzdem war Mario sehr erleichtert, als der Makler endlich das Haus verließ und die beiden aufatmen konnten. Ihm war kotzübel, er hatte noch nie in seinem Leben in fremden Unterlagen gewühlt. Dazu kam noch die Tatsache, dass er in dem Haus seiner Familie war, was ihm sehr an die Nieren ging. Er musste sich zusammenreißen, sich nicht zu übergeben.
„Und?“ wollte Frieda neugierig wissen, als sie wieder zurück war. Sie hatte den Makler bis zur Tür begleitet. „Was hast du herausgefunden? Wo ist die Familie Pini?“ Sie hatte zwar bemerkt, dass Mario sehr blass um die Nase war, aber darauf konnte sie jetzt keine Rücksicht nehmen. Sie war kurz davor, endlich zu erfahren, wo die Familie Pini jetzt lebte. Dieser Weichling Mario musste sich einfach mehr zutrauen, für solche Befindlichkeiten und Rücksichtnahmen war jetzt nun mal nicht der richtige Zeitpunkt. Die letzten Monate hatte sie inständig gehofft, endlich jemand zu finden, der mit ihr nach der Familie Pini suchen würde und dann tauchte wie aus Nichts Mario auf. Er war zwar sehr zart besaitet, aber durchaus eine große Hilfe.
„Den Namen Pini konnte ich in den Unterlagen nirgends finden.“ Mario war enttäuscht, er hatte sich mehr versprochen. „Lediglich den Namen Peter Friedrich in Altötting konnte ich in dem Maklervertrag lesen. Keine Straße und keine Telefonnummer. Es tut mir leid, ich hatte einfach zu wenig Zeit. Ich verstehe nicht, warum dieser Peter Friedrich drinsteht und nicht Giuseppe.“
Frieda schien keineswegs enttäuscht.
„Das ist doch besser als nichts. Wir müssen auf jeden Fall nach Altötting und dort diesen Peter Friedrich aufsuchen. Vielleicht weiß dieser Mann, wo deine Familie abgeblieben ist. Diese Spur ist besser als nichts. Sollen wir mit der Bahn fahren? Was meinst du? Ich würde so gerne einmal mit einem dieser ICE-Züge reisen, bislang hatte ich keine Gelegenheit dazu.“
„Du willst allen Ernstes nach Altötting? Wie sollen wir den Mann dort finden? Friedrich ist meines Erachtens nach ein Allerweltsname.“
„Den finden wir schon, so groß ist Altötting nicht. Zur Not klappern wir alle Männer mit dem Namen Friedrich ab. Gib dir einen Ruck, lass uns nach Altötting fahren.“
Für Frieda war es selbstverständlich, dass sie auch in Altötting dabei sein würde. Mario zweifelte. Wenn er tatsächlich diese Spur verfolgen sollte, dann ohne Frieda. Er konnte und wollte sie in ihrem Alter nicht noch mehr belasten. Vor allem hasste er Bahnfahren, deshalb war er auch gestern vom Stuttgarter Flughafen mit dem Expresso-Bus nach Reutlingen gefahren. Aber Frieda strahlte ihn so herzzerreißend an, dass er sie weder hier zurücklassen, noch den Wunsch mit der ICE-Fahrt abschlagen konnte.
„Also gut, du hast gewonnen.“ Er telefonierte mit dem Reisezentrum der Bahn und reservierte gleich für morgen früh die Fahrkarten, natürlich inklusive dem gewünschten ICE von Stuttgart nach München. Für ihn war diese Fahrt nach Altötting totaler Schwachsinn und er versprach sich davon überhaupt nichts. Was sollte in Altötting groß herauskommen? Noch nie hatte er den Namen Peter Friedrich vorher gehört und sie hatten auch keine Anschrift und keine Telefonnummer. Wie sie diesen Mann finden sollten, war ihm ein Rätsel. Was ihn auch stutzig machte, war Altötting. Noch nie vorher hatte er den Ort im Zusammenhang mit seiner Familie gehört. Aber sie hatten sonst keinerlei Anhaltspunkte und deshalb gab er nach. Vorab aber hatte er in der Stadt noch einige Besorgungen zu machen, rief ein Taxi und kam erst am Abend mit einigen vollen Tüten wieder zurück. Er hatte neue Kleidung und Schuhe gekauft, einen Koffer, den er für die morgige Fahrt benutzen wollte, und war sogar beim Friseur gewesen.
„Du siehst ja richtig gut aus,“ rief Frieda erfreut aus, als sie ihn erblickte. Stolz präsentierte er seine neue Kleidung, die bei ihr ebenfalls großen Anklang fand.
„Wie hast du das bezahlt?“
Frieda war zu süß. Sie machte sich tatsächlich Gedanken um seine Finanzen und griff zu ihrem Geldbeutel.
„Keine Sorge, Frieda, ich habe genug Geld auf meinem Konto. Bis zu meiner Abreise vor drei Jahren hatte ich ein hübsches Sümmchen gespart und die letzten Jahre habe ich fast nichts gebraucht.“
„Dann ist‘s ja gut. Bitte versprich mir, dass du es mir sagst, wenn du Geld brauchst, daran soll es nicht scheitern.“
Leo Schwartz war Mario gefolgt. Natürlich hatte er den Makler unter die Lupe genommen und auch Einsicht in den Maklervertrag beantragt, nachdem er erfahren hatte, dass dieser Makler mit dem Verkauf des Hauses Pini beauftragt wurde. Wie zum Teufel hatten Frau Votteler und Mario diesen Makler ausfindig gemacht? Und was wollten sie von ihm? Es hatte den Anschein, als würde sich Mario Pini für den Kauf des Hauses interessieren, was ihm nicht abwegig erschien.
Mario war in mehreren Geschäften gewesen. Er kaufte Kleidung, Schuhe und einen Koffer. Nach dem Friseur ging er in einen Handy-Laden. Als er nach einer knappen Stunde wieder rauskam, ging Leo sofort zu dem Verkäufer. Er wies sich als Polizist aus.
„Was wollte der Kunde von Ihnen?“
„Was wird er wohl hier gewollt haben?“ Der Verkäufer mochte keine Polizisten. Vor allem war er kein Denunziant.
„Er hat ein Handy gekauft?“ Der Verkäufer nickte und Leo verlangte die Nummer des Handys, die er umgehend genannt bekam. Der Verkäufer kam überhaupt nicht auf die Idee, nach einem Beschluss zu fragen. Was würde das bringen? Dann musste er die Nummer später rausrücken, was auch nichts änderte. Die Polizei bekam ihre Information so oder so.
Leo fuhr umgehend nach Pfullingen, wo er zum Glück Mario am Fenster im Haus von Frau Votteler sah. Zum Glück hatte er ihn nicht verloren.
Was zum Teufel hatte Mario Pini vor?
5.
Sofort nach dem Frühstück holte sie das am Vortag bestellte Taxi ab und Frieda war aufgeregt wie ein kleines Kind, was Mario sehr amüsierte. Beide hatten vorsorglich für mehrere Tage Gepäck dabei, da sie nicht wussten, was auf sie zukam. Auch Bargeld hatten sie in ausreichender Menge dabei. In der Bahn bis Stuttgart sprachen sie nicht viel, da sich Frieda an der Umgebung nicht sattsehen konnte. Offensichtlich war sie schon lange nicht mehr aus Pfullingen rausgekommen. Mario nutzte die Gelegenheit, sich mit mehreren Tageszeitungen über das aktuelle Geschehen zu informieren und war erstaunt darüber, was sich während seiner Abwesenheit so alles getan hatte. Die Namen der großen Politiker sagten ihm nicht viel, auch Sportler und Promis, die riesige Schlagzeilen hatten, waren ihm fast alle unbekannt. Er war erschrocken, denn er war nur drei Jahre weggewesen. Als er das Fernsehprogramm studierte, musste er zufrieden feststellen, dass er fast alle Sendungen kannte. Auch die Spielfilme und Krimis waren ihm bekannt, denn die wurden schon seit Jahren zig-Male wiederholt. Zumindest auf das Fernsehen konnte er sich verlassen, hier hatte sich in den drei Jahren fast nichts verändert.
Am Hauptbahnhof Stuttgart mussten sie über eine Stunde warten und genehmigten sich daher ein zweites Frühstück.
Der ICE fuhr in den Bahnhof ein, was Frieda mit lauten Freudenschreien kommentierte. Zu seiner Belustigung drängelte sie sich an den anderen Fahrgästen vorbei in den Waggon, sodass Mario sie für einige Zeit aus den Augen verlor. Sie hatten schließlich reservierte Sitzplätze und er sah keinen Sinn darin, zu drängeln. Aber Frieda hatte es nun mal eilig. Als er seinen Platz einnahm, saß sie bereits, hatte auch schon den Mantel ausgezogen und sah aus dem Fenster. Endlich ging es los. Nach Ulm verlor Frieda langsam das Interesse daran, aus dem Fenster zu sehen, zog eine Klatschzeitschrift aus ihrer Handtasche und blätterte lustlos darin.
„Was ist das eigentlich mit deinem anderen Haus in Reutlingen, dessen Unterlagen du gestern mit Baumann durchgegangen bist? Hast du etwa außer deinem Pfullinger Haus wirklich noch ein anderes?“
Sie verstand sofort, worauf Mario hinauswollte und grinste, während sie weiter in ihrer Klatschzeitung blickte.
„Geerbt, gekauft, wie das eben so geht.“
„Du meinst, du hast mehrere Häuser?“
„Kann sein.“ Frieda lächelte nur und wollte nicht darüber sprechen, auch sie hatte ihre Geheimnisse.
„Daher also deine Kenntnisse über das Grundbuchamt. Du bist ein richtiges Luder, das hätte ich dir nicht zugetraut.“
Diese Frieda! So eine durchtriebene Person! Nach außen hin tat sie so harmlos und in Wirklichkeit hatte sie es faustdick hinter den Ohren. Sie war also vermögend, das war ihm nun klar. Er freute sich für sie, denn zu viele alte Menschen hatten nicht viel oder gerade genug zum Leben. Das hatte er nicht nur auf dem Jakobsweg hautnah mitbekommen, sondern vor allem in Venezuela. Die große Armut in manchen Gegenden ging ihm an die Nieren.
Mittags nahmen sie das Essen im Bordrestaurant ein. Trotz der angenehmen Unterbrechung war Mario von der Zugfahrt genervt. Endlich waren sie in München angekommen, wo sie in den Zug nach Mühldorf umsteigen mussten. Während sich Marios Laune wegen der riesigen Menschenmassen auf dem Münchner Bahnhof immer mehr verschlechterte, war Frieda von den Eindrücken überwältigt. Sie plapperte ständig und zeigte in alle Richtungen. Dann stiegen sie in den Zug nach Mühldorf ein. Der war zwar leer, aber sehr dreckig. Sie mussten lange suchen, um einen einigermaßen sauberen Sitzplatz zu finden. Sie schwiegen die meiste Zeit und Frieda war kurz eingenickt. Mario war genervt und hatte genug von Zügen. Endlos zog sich die Strecke hin und er schwor sich, dass sie auf keinen Fall die Rückfahrt mit der Bahn vornehmen würden. Er musste Frieda davon überzeugen, dass ein Leihwagen die bessere Lösung war. Frieda schlief und er lehnte sich zurück. Er dachte an Conny. Wie es ihr wohl ging? Was sie jetzt gerade machte? Er vermisste sie und verdrängte die Erinnerungen an sie.
Endlich kamen sie in Mühldorf an und mussten abermals umsteigen; dieser Zug fuhr nun nach Altötting, dem Ziel ihrer Reise. Dieser Zug gab Mario echt den Rest, denn einen langsameren Bummelzug hatte er noch nicht erlebt. Zeitweise hatte er das Gefühl, dass die Fußgänger schneller waren als sie. Frieda war inzwischen auch genervt, denn sie nörgelte über die mangelnde Sauberkeit, zumal die Toilette nicht zu benutzen war, sie war defekt. Nach zwanzig Minuten Fahrt erreichten sie endlich kurz vor fünfzehn Uhr den Wallfahrtsort Altötting. Es war stark bewölkt und für die Zeit im Mai eigentlich viel zu kalt. Zum Glück kannte sich Frieda in Altötting gut aus, da sie bereits früher schon mehrere Male in Altötting war und daher wusste, dass es direkt am Kapellplatz ein schönes Hotel gab. Sie nahmen ein Taxi und fuhren die kurze Strecke direkt dorthin, denn Frieda wollte auf keinen Fall ihren schweren Koffer bis zum Hotel hinter sich herziehen. Er könnte beschmutzt oder gar ruiniert werden. Der Koffer war zwar alt, aber wenig benutzt. Außerdem hingen sehr viele Erinnerungen daran. Der Taxifahrer unterhielt sich während der nur fünfminütigen Fahrt angeregt mit den beiden. Frieda war überglücklich, dass ihr Zimmer einen direkten Blick auf den Kapellplatz und somit auf die Gnadenkapelle hatte. Mario interessierte der Blick aus seinem Zimmer herzlich wenig, er sah nicht einmal hinaus. Nachdem sie ihr Gepäck verstaut und sie sich etwas frisch gemacht hatten, gingen sie in einen gemütlichen Gasthof, der ihnen von dem Taxifahrer empfohlen wurde. Dort beratschlagten sie bei einem kühlen Weißbier und einer kleinen Brotzeit, wie sie nun vorgehen würden.
„Das Einfachste wäre das Telefonbuch, aber damit kommt man heute nicht mehr weit.“
„Auf die Idee bin ich auch schon gekommen. Vorhin im Foyer des Hotels habe ich im Internet nachgesehen. Nichts, kein Peter Friedrich in Altötting.“
„Schade. Einwohnermeldeamt?“
„Können wir versuchen, ist aber fraglich, ob wir da einfach so Auskunft bekommen.“
„Denke ich auch, aber wir haben noch die Schulen, die Mädchen müssen ja schließlich zur Schule.“
„Du glaubst, dass sie sich hier in Altötting aufhalten könnten?“
Frieda nickte nur. Über diese Möglichkeit hatten sie bisher nicht gesprochen, da sie dafür nicht den leisesten Hinweis hatten.
„Also gut, dann suchen wir nach diesem Peter Friedrich und auch nach der Familie Pini.“ Mario verschwieg, dass er nicht im Geringsten daran glaubte, dass sich seine Familie hier aufhielt. Warum auch? Sie hatten keinen Bezug zu Altötting, warum sollten sie hierherziehen? Er war davon überzeugt, dass sie weder diesen Friedrich, noch die Pinis hier finden würden. Er war sich mittlerweile nicht einmal mehr sicher, ob er in den Unterlagen des Maklers richtig gelesen hatte. Aber das alles verschwieg er seiner neuen Freundin, die im Gegensatz zu ihm fest daran glaubte.
Frieda strahlte ihn an. Sie hatte sich eine Theorie zurechtgelegt und dachte nun, dass Mario ebenso wie sie daran glaubte. Oder war es Wunschdenken?
„Gut, wir gehen zunächst zum Einwohnermeldeamt, das ist hier gleich am Kapellplatz im Rathaus. Ich war hier früher einige Male auf der Toilette.“ Frieda kannte sich wirklich gut aus. Aber sie hatten Pech, das Amt hatte seit sechzehn Uhr geschlossen. Beide ärgerten sich darüber, denn wenn sie gleich nach dem Einchecken ins Hotel hierhergegangen wären, hätten sie es noch schaffen können. Stattdessen hatten sie wertvolle Zeit in dem Gasthof vertrödelt. Aber es half nichts, gleich morgen früh um acht öffnet das Amt wieder und dann konnten sie ihr Anliegen vorbringen. Er sah an Friedas Gesicht, dass sie erschöpft war und lud sie daher zu einem feudalen Abendessen im Hotelrestaurant ein. Frieda trank einen halben Liter Wein. Mario musste sie zu ihrem Zimmer begleiten, denn ihr Gang war nicht mehr der sicherste. Auch Mario hatte sich nach der heutigen Bahnfahrt zur Belohnung einen guten Wein gegönnt und war auch sehr müde.
Nach einer überraschend ruhigen Nacht, in der beide gut geschlafen hatten, trafen sie sich um sieben Uhr zum Frühstück und langten bei dem üppigen Angebot ordentlich zu. Wenn das mit dem Essen so weiterging, würde Mario enorm an Gewicht zulegen, denn er war anfällig dafür und hatte sich in den letzten Jahren vor allem Kuchen und Torten verkniffen. Damit tat er sich nun schwer, denn in Deutschland lockte an jeder Straßenecke die Versuchung mit den verführerischsten Leckereien. Frieda machte sich über ihr Gewicht keine Gedanken und aß alles, worauf es sie gelüstete. Das war nicht erst im Alter so, das hatte sie schon immer so gemacht. Sie war ein Genussmensch und ließ sich das von niemanden ausreden. Auch nicht von ihrem Arzt, der zwar mit ihren Blutwerten immer zufrieden war, sie aber vorsorglich stets warnte und zur Vorsicht mahnte.
Kurz vor acht standen beide vor dem Einwohnermeldeamt, das nur wenige Gehminuten von ihrem Hotel entfernt war. Die Tür wurde pünktlich aufgeschlossen.
Die Dame im Einwohnermeldeamt war zwar sehr zuvorkommend, aber einen Eintrag konnte sie nicht finden, weder für Peter Friedrich, noch für die Familie Pini. Schade, das hatte nichts gebracht.
Sie setzten sich am Kapellplatz auf eine Bank und sahen dem nun zunehmenden Treiben der Wallfahrer zu. Einige Personen waren ganz bestimmt mit Bussen angereist, denn sie kamen in größeren Gruppen. Andere hatten Wanderkleidung an und waren scheinbar tatsächlich zu Fuß nach Altötting gelaufen. Mario beobachtete einige Personen, die teilweise mit mehr oder weniger großen und schweren Holzkreuzen zu Fuß oder sogar auf den Knien durch den Rundgang der Gnadenkapelle liefen und dabei leise Gebete sprachen. Er war nicht nur davon fasziniert, sondern auch von den vielen Votivtafeln, die von Gläubigen aus den unterschiedlichsten Gründen dort angebracht wurden. Vor der relativ kleinen Gnadenkapelle, um die es hier an für sich ging, hatte sich bereits zu dieser frühen Stunde eine lange Schlange gebildet. Jeder wollte einen Blick auf die schwarze Madonna im Inneren werfen. Mario hatte in einer Infobroschüre des Einwohnermeldeamtes darüber gelesen und auch hier sah er überall Hinweise darauf. Aber das Ganze hier verstand er überhaupt nicht, obwohl er gläubiger Katholik war. Er wuchs in einer Ecke Baden-Württembergs auf, wo es so etwas bis heute nicht gab. Als er den Jakobsweg entlangging, war er selbstverständlich wie die anderen Touristen auch in einigen Kirchen gewesen, was wahrscheinlich die Atmosphäre ausmachte. Aber so etwas wie hier in Altötting hatte er doch noch nicht gesehen. Mario kramte in seiner Tasche, zog ein nagelneues Handy hervor, auf dem er herumtippte.
„Wo hast du das denn her?“
„Habe ich gestern in Reutlingen gekauft, es sollte heute im Laufe des Tages freigeschaltet werden. Wir brauchen dringend Internet, wir können nicht jede Kleinigkeit im Hotel nachsehen. Vor allem nicht, wenn wir unterwegs sind. Und dieses Ding hier kann einfach alles, schau mal her.“
Frieda lehnte energisch ab.
„Verschone mich mit den Details. Ich verstehe sowieso nur Bahnhof und habe überhaupt keinen Kopf dafür. Und wenn ich ehrlich bin, interessiert mich das absolut nicht. Ich bin zu alt für so einen technischen Quatsch.“
„Kann ich verstehen. Ich habe ein Prepaid-Handy für dich. Das habe ich am Reutlinger Bahnhof gekauft, während du auf der Toilette warst. Keine Angst, das ist nur zum Telefonieren, es funktioniert bereits. Meine Nummer ist eingespeichert und die Handhabung ist wirklich kinderleicht.“
„Und wofür brauche ich ein Handy? Ich habe noch nie eins besessen. Reicht es nicht, dass du eins hast?“
„Falls du mir verloren gehst, oder dir etwas passiert, einfach nur zu deiner Sicherheit. Gefällt es dir nicht?“
Und ob es Frieda gefiel. Es war schwarz mit einem großen Display und etwas größeren, weißen Tasten, womit sie sich leichter tat als mit diesen fitzelig kleinen Tasten. Das war ihr lieber als die Handys, die man mit den Fingern bedienen musste, wie sie es schon mal bei Laura gesehen und ausprobiert hatte. Sie hatte keine Geduld für solche Dinge und befand sich zu alt für diesen modernen Kram. Trotzdem war sie sehr stolz auf ihr erstes eigenes, funkelnagelneues Handy und drückte Mario einen dicken Schmatz auf die Backe. Es war lange her, dass sich jemand solche Gedanken und Sorgen um sie machte. Was das wohl gekostet hatte?
Marios Handy war noch nicht freigeschaltet und er ärgerte sich darüber, denn er brauchte dringend die Adressen der hiesigen Schulen. Die wollte er so schnell wie möglich abklappern und dann wieder nach Hause fahren. Die Suche in Altötting kostete nur unnötig viel Zeit, die er nicht hatte. Wo war seine Familie? Und wie konnte er sie finden?
Frieda war von Altötting überzeugt. Sie zog einen Prospekt aus der Manteltasche und reichte ihn Mario. Es war ein Faltprospekt der Stadt Altötting, den sie aus dem Aufsteller in der Hotellobby gezogen hatte. Überrascht blätterte Mario darin und fand eine Aufstellung aller Schulen. Offenbar war Frieda etwas schlauer als er, der sich tatsächlich nur auf die Technik verlassen hatte und nicht auf die einfachste Lösung kam. Laut der Broschüre gab es zwei Gymnasien und zwei Realschulen in Altötting.
Mario rief mit Friedas Handy alle vier Schulen an. Er gab sich als sein Onkel Giuseppe aus und teilte mit, dass er dringend eine seiner Töchter sprechen müsste. Doch trotz seiner schauspielerischen Leistung, von der sogar Frieda überrascht war, hatte er keinen Erfolg. In den Schulen gab es keine Schülerinnen mit den Namen Laura und Maria Pini. Mario war nicht besonders enttäuscht, er hatte bereits damit gerechnet.
„Lass uns das hier abbrechen und wieder abreisen. Das bringt doch alles nichts.“
„Das kommt überhaupt nicht in Frage! Wir suchen nach Peter Friedrich. Es wäre doch gelacht, wenn wir den nicht finden!“
„Und wie sollen wir das anstellen? Wir können doch nicht alle Straßen ablaufen und die Türschilder lesen, das dauert ja Wochen.“
„Natürlich laufen wir nicht alle Straßen ab, bist du verrückt? Wir gehen jetzt ein Stück spazieren und überlegen in Ruhe, wie es weitergeht. Jetzt lass den Kopf nicht hängen, das kriegen wir schon irgendwie hin.“
Sie diskutierten alle Möglichkeiten durch und verwarfen sie wieder. Sie stritten und vertrugen sich wieder. Das brachte nichts. Sie hatten nicht den Hauch einer Spur, der sie folgen konnten.
„Was hältst du von einem Privatdetektiv?“ Sie saßen schon eine halbe Stunde schweigend in einem netten Cafe direkt am Kapellplatz, tranken Cappuccini. Mario war mit seinem Handy beschäftigt und Frieda beobachtete die Passanten. Bereits seit dem Frühstück geisterte die Idee, einen Privatdetektiv zu engagieren, in Marios Kopf herum. Und nach den Erfahrungen und dem Engpass, in dem sie sich befanden, schien ihm das eine durchaus passable Möglichkeit.
„Du meinst wie im Fernsehen?“
„So ungefähr. Nachdem mein Handy nun endlich freigeschaltet ist, habe ich im Internet einen interessanten Eintrag einer Detektei Herbst in München gefunden. Was meinst du? Das kostet bestimmt ein Vermögen.“
Frieda las interessiert die Informationen und tat sich mit dem kleinen Display des Handys sehr schwer, verstand aber die Informationen der Homepage der Detektei und war begeistert.
„Über die Bezahlung mach dir keine Sorgen, das haben wir doch geklärt. Jetzt ruf an und dann werden wir schon sehen, was sie sagen. Los.“
Mario verließ den Tisch des Cafés, um von einer ruhigen Ecke aus zu telefonieren, denn schließlich mussten unbeteiligte Passanten den Inhalt des Gespräches nicht mitbekommen. Er war zwar auch hier nicht allein, aber das störte ihn jetzt nicht.
Ein freundlicher Mitarbeiter der Detektei begrüßte ihn und Mario schilderte ausführlich sein Anliegen.
„Wir suchen also nach einem Peter Friedrich, Altötting, und nach der Familie Pini. Genau geht es um Giuseppe, Melanie und den Kindern Laura und Maria.“ Er fragte nach den Geburtsdaten und Geburtsorten, ließ sich die genaue Anschrift in Pfullingen geben, sowie die Adressen der früheren Arbeitgeber und der Schule.
„Haben Sie bereits eine Übernachtungsmöglichkeit in Altötting?“
„Ja, wir sind seit gestern hier.“
„Ihr Hotel besitzt bestimmt ein Faxgerät, da benötige ich die Faxnummer. Sobald Sie die Nummer haben, melden Sie sich bei mir, damit wir die Formalitäten per Fax klären können. Wir brauchen zunächst einen verbindlichen Auftrag von Ihnen, beziehungsweise eine Unterschrift, bevor wir tätig werden können.“
„Alles klar, bis später.“
Mario legte zehn Euro auf den Tisch und zog Frieda mit sich. Rasch unterrichtete er sie über das Telefongespräch. Auf direktem Weg liefen sie zu ihrem Hotel.
„Junge Frau,“ rief Frieda in die Empfangshalle, „gibt es bei Ihnen ein Faxgerät und wie ist die Nummer?“ Alle umstehenden Personen sahen verstohlen zu den beiden rüber, was Frieda aber völlig egal war. Die Dame an der Rezeption reagierte nicht. Offensichtlich hatte sie sie nicht verstanden, denn sie war im Gespräch mit einem Gast vertieft, was aber Frieda ebenfalls nicht interessierte.
„Haben Sie ein Faxgerät und wie ist die Nummer?“ wiederholte Frieda ungehalten und diesmal lauter ihre Frage.
„Selbstverständlich haben wir ein Faxgerät.“
„Sehr schön. Und wo befindet sich dieses Gerät und wie ist die Nummer?“
„Hier hinten im Büro. Wenn Sie etwas zu versenden haben, können Sie das selbstverständlich jederzeit gerne tun. Hier ist eine Informationsbroschüre über unser Haus, in der auch die Faxnummer ersichtlich ist.“
Leo Schwartz war den beiden bis nach Altötting gefolgt. Zunächst konnte er es nicht fassen, dass die beiden mit dem Zug fahren wollten. Er stand in Friedas Nähe und erfuhr schließlich, dass das Ziel Altötting war. Was wollten die beiden in Altötting? Wie sollte er reagieren? Da die Zeit drängte, holte er sich ein Ticket und stieg ebenfalls in den Zug ein. Er setzte sich so, dass er die beiden immer im Blick hatte. Leo entschied, seinen Vorgesetzten zu informieren. In Stuttgart wollte er nicht anrufen. Es reichte aus, wenn Zeitler Bescheid wusste.
„Was suchen die beiden dort?“
„Keine Ahnung. Ich brauche in Altötting einen Leihwagen. Können Sie das organisieren?“
„Selbstverständlich. Der Wagen wird am Bahnhof für Sie bereitstehen. Was ist mit einer Unterkunft?“
„Darum kümmere ich mich selbst. Ich weiß noch nicht, wo die beiden absteigen werden und werde spontan entscheiden.“
„Gut. Halten Sie mich auf dem Laufenden.“ Nachdem der 56-jährige Michael Zeitler einen Leihwagen organisiert hatte, informierte er seinen Stuttgarter Kollegen Bösel. Der war aufgebracht, weil Leo ihn nicht kontaktiert hatte und weil er seinen Ulmer Vorgesetzten ins Vertrauen gezogen hatte. Hatte er Schwartz gegenüber nicht deutlich gemacht, dass er die Klappe halten sollte?
„Zwischen meinen Mitarbeitern und mir gab es noch nie Heimlichkeiten. Ich habe Schwartz quasi das Messer auf die Brust gesetzt, damit er mir die Wahrheit sagt. Ihn trifft keine Schuld,“ log Zeitler. Wie sonst sollte er sich erklären, als mit dieser Notlüge. „Haben Sie ein Problem damit, dass ich eingeweiht bin? Misstrauen Sie mir?“
„Natürlich nicht. Schwartz ist also in Altötting. Warum, interessiert mich nicht. Ich hoffe nur, dass er Knoblich schnell findet. Nur durch ihn kommen wir an das Geld. Sie können sich nicht vorstellen, unter welchem Druck ich stehe. Dr. Biedermann erkundigt sich in regelmäßigen Abständen nach dem aktuellen Ermittlungsstand und geht mir gehörig auf die Nerven.“
„Weisen Sie den Mann zurecht. Sie brauchen sich doch in Ihrer Position nicht unter Druck setzen lassen.“
„Sie haben gut reden! Dr. Biedermann ist mit dem Staatsanwalt befreundet.“
Jetzt verstand Zeitler. Bösel bekam von allen Seiten Druck. Er war nicht zu beneiden.
Endlich war der Zug in Altötting angekommen und Leo war erleichtert. Er hasste Bahnfahrten und vermied sie in den letzten Jahren erfolgreich. Aber diesmal blieb ihm nichts Anderes übrig. Er hatte versucht, im Zugbistro Gesprächsfetzen der beiden aufzuschnappen, was ihm nicht gelang. Leo war gespannt, was die beiden in Altötting vorhatten.
Der Leihwagen stand parat und Leo sah zu, wie Mario Pini und Frieda Votteler in ein Taxi stiegen. Er folgte ihnen und parkte auf dem Hotelparkplatz. Nachdem die beiden eingecheckt hatten, nahm auch er ein Zimmer. Er folgte ihnen in die Gaststätte, beobachtete sie beim Abendessen im Hotel und saß in ihrer Nähe, als sie am nächsten Tag sehr früh das Frühstück einnahmen. Im Einwohnermeldeamt fragten sie nach einem Peter Friedrich, das hatte Leo deutlich gehört. Wer war der Mann? Die Frage nach der Familie Pini war für ihn einleuchtend. Aber warum vermuteten die beiden die Familie hier in Altötting? Er musste unbedingt mehr herausfinden und blieb ihnen dicht auf den Fersen. Er saß am Nebentisch des Cafés, als sich die beiden über einen Detektiv unterhielten. Dann fiel der Name Herbst in München. Jetzt musste er schnell reagieren, denn Mario Pini hatte sich bereits für eine Kontaktaufnahme mit der Detektei entschieden und zog sich zurück. Als Mario Pini wieder am Tisch saß, musste er schnell handeln. Er ging zu seinem Wagen, um ungestört telefonieren zu können. Das Gespräch war nicht leicht, denn der Detektiv Herbst war ein harter Brocken.
„Sie bekommen von der Stuttgarter Polizei eine entsprechende Anweisung, in diesem Fall nichts zu unternehmen. Sollten Sie sich dem widersetzen, bekommen Sie ernste Schwierigkeiten. Sie gehen jetzt folgendermaßen vor: Sie senden den Vertrag wie immer, allerdings ändern Sie die Handynummer, die ich Ihnen nennen werde. Bestehen Sie darauf, dass ab sofort nur doch diese Handynummer gilt. Dann überlassen Sie die Sache mir. Sollte sich Herr Pini oder Frau Votteler bei Ihnen melden, wimmeln Sie die beiden ab und rufen mich an. Können wir uns darauf einigen?“
„Verdammte Polizeiarbeit!“ fluchte Herbst. „Ihnen ist klar, dass ich wegen Ihnen eine Menge verliere?“
„Dafür erspare ich Ihnen jede Menge Ärger. Wenn Sie wüssten, was hinter dem Ganzen steckt, wären Sie mir dankbar dafür, dass ich Ihnen die Sache abnehme.“
„So schlimm?“
„Ja.“ Leo nannte ihm seine Handynummer, die Herbst in das Formular eintrug.
Dann klingelte es auf Herbsts zweiter Telefonleitung.
„Das wird Mario Pini sein. Sie wissen, was zu tun ist.“
Mario wählte erneut die Nummer des Detektivs. Er gab ihm die Fax-Nummer des Hotels an.
„Ich habe für Ihren Fall eine Handynummer eingerichtet, über die wir beide ab sofort kommunizieren.“
„Eine neue Handynummer?“ Mario war irritiert. War das so üblich? Er wusste es nicht, war aber trotzdem verwundert. „Wie ist die Nummer?“
„Die steht auf dem Vertrag,“ sagte Herbst und Mario war beruhigt.
Wenige Minuten später bekam er ein Fax von der Empfangsdame überreicht, das er durchlas, unterzeichnete und sofort wieder zurückschickte. Die Empfangsdame war sehr diskret und äußerst behilflich. Marios Handy klingelte und der Detektiv bestätigte den Eingang des Auftrages, er würde sich wieder bei ihm melden.
Leo rief Zeitler an und schilderte ihm, was er mit dem Detektiv ausgehandelt hat.
„Ich werde herausfinden, was es mit diesem Peter Friedrich auf sich hat. Nur zu Ihrer Information: Ich habe Bösel davon unterrichtet, dass ich informiert bin und Ihnen helfe,“ sagte Zeitler.
„War er sehr sauer?“
„Hielt sich in Grenzen. Wie wollen Sie Herrn Pini und Frau Votteler gegenübertreten? Als Polizist oder als Detektiv?“
„Das entscheide ich, wenn es so weit ist.“
„Gut. Halten Sie mich auf dem Laufenden. Ich kümmere mich um diesen Peter Friedrich.“
Den ganzen Tag über behielt Mario sein Handy immer im Blick, damit er keinen Anruf versäumte. Am späten Nachmittag saß er abermals zusammen mit Frieda auf einer Bank am Kapellplatz. Er brauchte dringend frische Luft, nachdem er fast den ganzen Tag in seinem Hotelzimmer auf einen Anruf wartend verbracht hatte. Er wollte auch Frieda nicht allein lassen, die ungeduldig beinahe minütlich bei ihm nachfragte, ob es etwas Neues gab.
„Hat sich der Detektiv denn immer noch nicht gemeldet? Die haben doch Möglichkeiten, Informationen zu beschaffen, da würden wir nie drankommen. Bestimmt haben die Informanten in sämtlichen Behörden sitzen. Meinst du, die zahlen auch Schmiergelder oder verwanzen Telefone oder sogar ganze Zimmer?“
„Nein, er hat sich noch nicht gemeldet. Und ich denke, dass du zu viele Krimis gesehen hast, du hast echt eine blühende Phantasie.“
Mario musste lachen, denn er hatte sich fast die gleichen Gedanken gemacht.
„Wie heißt denn dieser Detektiv nochmal?“
„Ich habe keine Ahnung, ich habe nicht darauf geachtet. Ich nehme an, dass es sich um den Inhaber Herrn Herbst handelt.“ Hatte der Detektiv überhaupt seinen Namen genannt? Er befand den Namen auch nicht für wichtig und nahm sich aber vor, dass er den Detektiv beim nächsten Telefonat unbedingt danach fragen musste.
Mario dachte darüber nach, dass das alles hier sehr aufregend war und absolut nichts mit seinem beschaulichen Leben in Venezuela zu tun hatte, wo er jetzt um diese Uhrzeit wahrscheinlich auf der Veranda sitzen und kalten Wein trinken würde. Es war alles so unwirklich. Und gerade jetzt, da er hier auf der Bank in dem umtriebigen Altötting saß und die Menschen beobachtete, hatte er das Gefühl, jeden Moment aufzuwachen und festzustellen, dass das alles nur ein böser Traum war. Aber leider war das kein Traum und es war etwas passiert, das außerhalb seiner Vorstellungskraft lag: Seine Familie war verschwunden. Sein Onkel Giuseppe und dessen Familie waren das einzige in seinem Leben, das immer Bestand hatte und auf die er sich immer verlassen konnte. Dass dies einmal nicht mehr so sein würde, wollte er auf keinen Fall akzeptieren und er schwor sich, dass er die Suche niemals aufgeben würde. Er sah Frieda an, die mit Interesse und Lebensfreude die Menschen um sich herum beobachtete, wobei sie die eine oder andere unqualifizierte Bemerkung machte und herzlich darüber lachte. Er musste zugeben, dass er sehr glücklich darüber war, dass sie ihm zur Seite stand und er das nicht allein durchstehen musste. Sie gab ihm Halt und er war sicher, dass diese warmherzige, gutmütige und überaus temperamentvolle Frau spürte, dass er sie brauchte; beinahe mehr als umgekehrt. Es war richtig gewesen, sie mitzunehmen.
Mario hatte eine unruhige Nacht hinter sich, denn die Detektei hatte sich noch nicht bei ihm gemeldet. Sie saßen in Altötting fest und hatten keine Ahnung, wie es weitergehen sollte. Frieda war beim Frühstück wie immer sehr fröhlich und riss ihn aus seinen Gedanken.
Sie gingen spazieren, tranken Kaffee und besichtigten auf Friedas Drängen eine Basilika, bis endlich das Handy klingelte. Mitten in der Basilika! Die anderen Besucher schüttelten verständnislos über diese Rücksichtslosigkeit den Kopf, ein Handy hatte in einem Gotteshaus nichts verloren. Mario war das völlig egal und nahm den ersehnten Anruf natürlich sofort entgegen. Ein Besucher machte eine abfällige Bemerkung über Handys in Kirchengebäuden, worauf Frieda sofort mit lauter Stimme erwiderte:
„Zeigen Sie mir die Bibelstelle, wo steht, dass man in einer Kirche nicht telefonieren darf!“
Der Mann war entsetzt, ebenso wie andere Besucher. Einige mussten herzhaft lachen.
„Das macht man einfach nicht, das gehört sich nicht. Man telefoniert nicht in einer Kirche, das gebietet der Anstand.“ Der Mann versuchte, vor seiner Frau nicht klein beizugeben und seine Meinung zu untermauern.
„Sie sprechen doch auch ständig mit ihrer Frau, wo ist denn da der Unterschied? Ob ich mit einer anderen Person oder am Telefon spreche, ist doch der Kirche völlig egal.“ Frieda war laut geworden und der Mann verstand, dass er gegen sie keine Chance hatte. Sie würde auf keinen Fall klein beigeben und er zog daher seine nörgelnde Frau einfach mit sich. Frieda ging Mario hinterher, der vor die Basilika getreten war, um ungestört telefonieren zu können, denn die Unterhaltung zwischen den beiden in der Basilika war einfach zu laut.
Zeitler bekam endlich eine Information über einen Peter Friedrich in Altötting.
„Ich habe die Adresse des Mannes endlich herausgefunden. Allerdings gibt es sonst nichts über den Mann. Die Kriminalpolizei München ist an ihm dran und beobachtet ihn. Den Grund dafür habe ich noch nicht herausbekommen. Meine Quelle ist momentan nicht erreichbar. Aber ich bleibe an der Sache dran und finde den Grund schon noch heraus. Mit Friedrich stimmt etwas nicht, seien Sie vorsichtig,“ sagte Zeitler.
„Die Kriminalpolizei? Das ist allerdings interessant.“
„Wie gesagt, seien Sie vorsichtig und passen Sie auf Pini und Frau Votteler auf.“
„Ich sehe mir diesen Friedrich an,“ sagte Leo, dem das nicht gefiel. Zeitler hatte sehr gute Informationen und brauchte sehr lange, um dann nur die Adresse des Mannes herauszufinden. Und selbst das war nur Zufall. Und warum interessierte sich die Kriminalpolizei München für Friedrich? „Ich werde versuchen, Mario Pini davon abzuhalten, den Mann allein aufzusuchen.“
„Viel Glück.“
Jetzt galt es, Mario Pini die Adresse weiterzugeben und ihn davon abzuhalten, dort allein hinzugehen. Vielleicht konnte er ihn davon überzeugen, dass er ihn begleitete?
„Bezüglich Peter Friedrich habe ich eine positive Information für Sie, den konnten wir ausfindig machen.“ Mit zitternden Händen notierte Mario die Adresse, er hatte sich extra einen Stift und Papier besorgt. „An diesem Friedrich ist einiges nicht ganz schlüssig und ich würde Ihnen empfehlen, dass einer unserer Mitarbeiter Sie zu der Adresse begleitet, denn die Sache ist nicht ganz astrein.“
„Ich verstehe nicht, was Sie meinen.“
„Mein Bauchgefühl sagt mir, dass mit diesem Friedrich etwas nicht stimmt. Außer der Adresse haben wir nichts über den Mann herausfinden können. Gehen Sie dort nicht alleine hin und nehmen Sie sich professionelle Unterstützung mit, nur zu Ihrer eigenen Sicherheit. Letztendlich ist das natürlich Ihre Entscheidung, ich kann Ihnen nur dazu raten.“ Leo sprach mit Engelszungen und versuchte, ihn zu überzeugen. Wer war dieser Friedrich? Am liebsten wäre ihm gewesen, ihn dorthin zu begleiten, aber er konnte ihn nicht dazu zwingen.
Mario verstand immer noch nicht und wischte die Bedenken beiseite. Was sollte denn groß passieren?
„Danke, das muss nicht sein,“ lehnte er das Angebot ab. „Was haben Sie über die Familie Pini herausbekommen?“
„Diesbezüglich gestaltet sich die Suche sehr schwierig, aber wir bleiben weiter an der Sache dran.“ Leo verschwieg, dass er keinerlei Aussicht sah, die Familie überhaupt zu finden. Jeder Ansatzpunkt, den die Polizei hatte, lief absolut ins Leere, als ob es die Familie ab einem bestimmten Punkt nicht mehr gegeben hätte. Er hatte hier bereits eine Vermutung, die er Mario verschwieg. Auch Zeitler hatte nichts gefunden. Einige Ansatzmöglichkeiten wollte er noch ausschöpfen, aber auch er hatte keine großen Hoffnungen.
Mario informierte Frieda, die zwar neben ihm stand, aber nichts mitbekommen hatte. Er verschwieg ihr die Bedenken des vermeintlichen Detektivs, die er als Geldmacherei und Wichtigtuerei abtat. Natürlich wollten beide auf dem schnellsten Weg zu dieser Adresse und fanden eine Straße weiter ein Taxi, das sie umgehend zu dem gewünschten Ziel fuhr.
Leo Schwartz folgte ihnen. Es war ihm klar, dass die beiden so schnell wie möglich zu Peter Friedrich wollten, er an ihrer Stelle hätte das auch getan. Leo war gespannt darauf, was ihn dort erwartete. Er wusste nur, dass die Kriminalpolizei den Kerl im Visier hatte und dass Friedrich beobachtet wurde. Was sollte das?
Die Straße befand sich in einer schönen Wohngegend mit schmucken Einfamilienhäusern am Rande von Altötting. Auch das Haus, vor dem sie standen, war sehr hübsch und sehr gepflegt. Zwar etwas steril, aber durchaus ansprechend. Sie waren sich nicht sicher, ob sie hier richtig waren, da sich weder auf dem Klingelschild, noch auf dem Briefkasten ein Name befand. Aber die Hausnummer, die der Detektiv genannt hatte, stimmte. Mario klingelte mehrfach.
„Schau doch, der Vorhang bewegt sich,“ rief Frieda und zeigte auf das Fenster im ersten Stock. Mario klingelte abermals, aber niemand öffnete. Ein Wagen hielt auf der Straße. Ein Mann trat auf sie zu und zog beide zur Seite.
„Was machen Sie hier?“
„Das geht doch Sie nichts an,“ rief Frieda ungehalten. So etwas hatte sie noch nie erlebt! Mario war völlig sprachlos und durch das Auftreten eingeschüchtert.
„Was machen Sie hier?“ wiederholte der Mann ruhig seine Frage, immer den Blick abwechselnd auf Mario und die Straße gerichtet. Er zog seinen Ausweis aus der Tasche. Kriminalpolizei.
„Wir suchen Peter Friedrich.“
„Warum?“
„Das geht doch Sie nichts an. Mario, sag ihm, dass wir nichts Ungesetzliches machen. Lass dir diese Behandlung nicht gefallen.“ Frieda war sehr aufgeregt.
Der Polizist reagierte nicht auf Friedas Bemerkung und sah Mario fragend an.
„Wir wollten ihn lediglich etwas fragen, weiter nichts.“ Mario war die Situation sehr unangenehm und er beschloss, so schnell wie möglich von hier zu verschwinden. Frieda wollte etwas sagen. Mario bremste sie, indem er sich bei dem Mann entschuldigte und Frieda hinter sich herzog. Sie gingen einfach drauf los und Mario wagte nicht einmal, sich umzublicken, während Frieda ohne Unterbrechung schimpfte.
„Was sollte das eben? Warum hast du dir das gefallen lassen? Das ist doch eine Unverschämtheit.“ Frieda hatte sich in Rage geredet und Mario ging einfach stumm weiter, bis er sich nach mehreren Straßen in Sicherheit wähnte.
„Jetzt sei doch mal still, Frieda, und beruhige dich. Ich habe doch keine Ahnung was hier los ist, aber das eben war nicht normal. Der Detektiv, mit dem ich telefoniert habe, hatte angedeutet, dass dieser Friedrich nicht ganz astrein ist, aber ich hab das nicht ernst genommen. Ich warte bis es dunkel ist, und dann beobachte ich das Haus. Ich möchte wissen, was hier los ist. Aber jetzt machen wir, dass wir hier wegkommen, ich hätte mir vor Angst fast in die Hosen gemacht.“
„Jetzt stell dich doch nicht so an, es ist doch nichts passiert. Und heute Abend komme ich mit, das machst du nicht alleine.“ Frieda war zu allem entschlossen und immer noch sehr aufgeregt.
„Auf keinen Fall, zu zweit fallen wir doch auf. Und darüber lasse ich nicht mit mir reden. Das ist nichts für dich. Und jetzt keine Widerrede, du musst nicht überall dabei sein.“
Frieda wollte protestieren, sah aber ein, dass eine einzelne Person weniger Aufmerksamkeit erregen würde und gab klein bei. Die Straße lag relativ offen. Sich zu zweit verstecken wäre ziemlich aussichtslos. Wenn sie ehrlich war, hatte sie auch keine Lust darauf, sich hinter Büschen, Bäumen oder sonst was zu verstecken, vor allem nicht mit ihren Hüftproblemen. Schweigend gingen sie die letzten Straßen zurück zum Hotel.
Leo hatte alles mit angesehen und war den beiden abermals gefolgt. Trotz des einschüchternden Auftretens des Kollegen war er sich sicher, dass die beiden die Suche nach der Familie Pini nicht aufgeben würden. Er rief seinen Vorgesetzten an.
„Haben Sie herausbekommen, warum die Kripo diesen Friedrich beschattet?“
„Nein. Die Münchner Kollegen mauern. Ich kenne den dortigen Chef recht gut, aber der ist heute nicht im Haus. Ich hoffe, dass ich morgen mehr erfahren werde.“
„Informieren Sie mich, sobald Sie etwas wissen. Vielleicht läuft mit diesem Friedrich eine ganz krumme Geschichte, die nichts mit unserem Fall zu tun hat. Das wäre schlecht, denn dann sind wir völlig auf dem Holzweg und vergeuden nur Zeit. Aber warum sind dann Mario Pini und Frau Votteler hinter ihm her? Wie sind sie auf ihn gekommen?“
„Das finden wir heraus. Bleiben Sie den beiden auf den Fersen.“ Zeitler war sauer, denn sonst funktionierten seine Kontakte besser. Warum musste der Münchner Kollege gerade heute außer Haus sein?
„Herr Pini?“ sprach sie eine Person in dunklem Anzug am Eingang des Hotels an.
„Ja?“
„Ich möchte Sie bitten, sofort wieder abzureisen.“
„Und warum sollte ich das tun?“
Der Mann antwortete nicht auf die Frage, sondern zeigte nur seinen Ausweis. Kriminalpolizei. Schon wieder die Kriminalpolizei? Was war hier eigentlich los?
„Sie waren heute am Haus von Peter Friedrich? Wie sind Sie auf ihn gekommen und was wollten Sie von ihm?“
Mario nahm seinen ganzen Mut zusammen, denn die Situation hier war fast wie in einem Krimi, unheimlich und spannungsgeladen. Inständig hoffte er, dass Frieda ihren Mund hielt und sich nicht wieder einmischte.
„Das ist allein unsere Angelegenheit und geht die Kriminalpolizei überhaupt nichts an. Woher kennen Sie eigentlich meinen Namen? Und woher wissen Sie, dass wir hier in diesem Hotel abgestiegen sind?“ Mario bemühte sich, ruhig zu sprechen und sich seine Angst nicht anmerken zu lassen.
Der Polizist lachte süffisant.
„Sie sind hier im Hotel registriert, halten Sie die Polizei bitte nicht für blöd.“
„Was ist an Peter Friedrich so interessant? Wird er überwacht oder suchen Sie nach ihm?“
Wieder dieses blöde, überhebliche Grinsen.
„Ich wiederhole: Was wollen Sie von Peter Friedrich und wie haben Sie ihn gefunden?“
Mario wurde nervös. Was sollte er dem Mann sagen? Er konnte die Situation überhaupt nicht einschätzen und wollte unter keinen Umständen einen Fehler begehen. Frieda war zum Glück erstaunlich ruhig und suchte hinter seinem Rücken Schutz. Er überlegte verzweifelt, was er sagen sollte, schwitzte stark und zitterte am ganzen Körper. In dem Moment fuhr ein Taxi fast direkt neben sie und brachte neue Gäste. Der Taxifahrer öffnete den Kofferraum und lud mehrere Koffer aus. Drei ältere Personen, von denen zwei am Stock gingen, stiegen aus dem Taxi und gingen direkt an ihnen vorbei.
„Darf ich Ihnen helfen?“ Mario schnappte sich einen Koffer, nahm Frieda an die andere Hand und zog sie einfach mit sich. Der Taxifahrer war sehr erfreut über die unvermittelte Hilfe und unterhielt sich mit Mario, während die ganze Gruppe ins Hotel ging. Der Polizist blieb draußen fluchend zurück.
Nachdem ihm überschwänglich für seine Hilfe gedankt wurde, zog er Frieda weiter mit sich zu einem Nebenausgang des Hotels und sie liefen planlos kreuz und quer durch Altötting, bis sie sich sicher waren, dass sie nicht verfolgt wurden.
„Was ist hier eigentlich los? Was wollte der Polizist von uns?“ Frieda war völlig außer Atem und er setzte sie auf eine Mauer vor einem Einfamilienhaus, damit sie sich etwas ausruhen konnte. Nicht ohne vorher seine Jacke unterzulegen, damit sie sich nicht erkältet.
„Ich habe keine Ahnung, was hier vor sich geht. Aber ganz sauber ist die Sache nicht, sonst wäre uns der Typ ins Hotel gefolgt, hätte uns dort vernommen oder uns mitgenommen. Aber das hat er nicht gemacht.“
Mario nahm sein Handy, wählte die Nummer des Detektivs und schilderte das, was vor Friedrichs Haus und vor dem Hotel passiert ist.
Natürlich hatte Leo alles mit angesehen und konnte das Vorgehen des Kollegen auch nicht nachvollziehen. Die Sache stank gewaltig. Er konnte die beiden nicht einfach sich selbst überlassen. Er musste Mario irgendwie überzeugen, dass er Hilfe brauchte, und zwar seine.
„Die Kriminalpolizei? Was wollte die von Ihnen?“
„Das weiß ich nicht. Der Mann sagte, ich solle wieder abreisen. Ich konnte ihm entkommen und bin mit meiner Begleitung mitten in Altötting. Was soll ich jetzt tun?“
Mario Pini klang verzweifelt und Leo bekam Mitleid mit ihm. Ja, er konnte nachvollziehen, dass der Mann Angst hatte. Noch wusste er nicht, was die Kriminalpolizei von ihm wollte und was sie mit dem ihm unbekannten Peter Friedrich zu tun hat. Eins war klar: Mario Pini und Frieda Votteler durften nicht in ihr Hotel zurück. Dort wartete ganz sicher die Polizei auf sie. Und solange er nicht wusste, was die wollten, musste er die beiden in Sicherheit bringen.
„Gehen Sie auf keinen Fall in Ihr Hotel zurück, die Polizei wartet dort auf sie, darauf können Sie sich verlassen. Es ist jetzt neunzehn Uhr, das ist noch zu früh.“
„Was reden Sie da? Wofür ist es zu früh?“ Mario verstand kein Wort.
„Hören Sie mit bitte zu und tun Sie genau das, was ich Ihnen sage. Sie müssen sich um eine andere Unterkunft bemühen. Suchen Sie sich am besten einen kleinen Gasthof. Wenn Sie sich nach einundzwanzig Uhr dort einmieten, gehen die Meldedaten erst morgen raus, dann wären Sie in der kommenden Nacht sicher. Bitte kein Hotel!“
„Ich kenne mich in Altötting nicht aus. Wie soll ich hier einen Gasthof finden?“ Mario wurde beinahe hysterisch.
„Bleiben Sie ruhig. Es ist besser, Sie verlassen Altötting. Fahren Sie in einen Nachbarort, vielleicht Burghausen oder Mühldorf. Nehmen Sie auf keinen Fall ein Taxi, das kriegt die Polizei schnell raus. Nehmen Sie die Bahn oder den Bus.“
„Gut, das werden wir machen,“ sagte Mario, der langsam verstand, dass er und Frieda in Gefahr sein könnten. Das Warum verstand er zwar nicht, aber das würde sich später klären lassen.
„Verfügen Sie über genug Bargeld?“
„Bargeld haben wir genug, das ist kein Problem.“
„Achten Sie darauf, dass Sie weder eine Kreditkarte, noch eine EC-Karte verwenden. Gehen Sie zum Bahnhof oder zu einer Bushaltestelle und fahren Sie los. Versuchen Sie, sich so normal wie möglich zu bewegen.“
„Gut.“
„Ich möchte Sie bitten, dass Sie sich ein neues Handy besorgen, das nicht auf Ihren Namen registriert ist. Ihr Handy können Sie vergessen. Wenn es die Polizei auf Sie abgesehen hat, hat sie spätestens morgen nicht nur die Nummer, sondern hat sie auch geortet und weiß, wo sie sich aufhalten. Also, Handy ausschalten oder gleich wegwerfen.“
„Und wie soll ich mir ein Handy besorgen?“
Leo hatte längst bemerkt, dass er es mit einem völlig ahnungslosen, verängstigten und unbescholtenen Typen zu tun hatte. Er musste behutsam vorgehen und viel Geduld aufbringen.
„Da kann ich Ihnen leider nicht helfen, das müssen Sie irgendwie hinkriegen.“
„Was sollen wir machen, wenn wir ein Zimmer gefunden haben?“
„Dann rufen Sie mich an und geben mir die Adresse durch. Ich werde zusehen, dass ich so schnell wie möglich zu Ihnen komme,“ sagte Leo geduldig. Natürlich wäre es einfach gewesen, die beiden einfach in seinen Wagen zu laden und mit ihnen davonzufahren. Aber dadurch würde er seine Tarnung auffliegen lassen und musste sich als Polizist outen. Der ganze Fall musste geheim ablaufen, das hatte er Bösel versprochen. Es war schon vermessen, Zeitler einfach die Wahrheit zu sagen. Nein, es war besser, sich weiterhin als Detektiv auszugeben und als solcher auch aufzutreten.
Frieda hörte dem Telefonat zu, verstand aber kein Wort.
„Der Detektiv denkt auch, dass wir in Gefahr sind. Wir dürfen auf keinen Fall zurück ins Hotel. Wir sollen aus Altötting raus und uns irgendwo in einem Nachbarort in einem Gasthof ein Zimmer nehmen,“ erklärte Mario Frieda, die ihn fragend anstarrte. „Der Detektiv kommt und hilft uns.“
„Gott sei Dank!“ sagte Frieda erleichtert.
„Vorher müssen wir das Handy entsorgen und ein anderes besorgen. Ich weiß nicht, wie ich das anstellen soll.“
„Du meinst, wie auf dem Schwarzmarkt nach dem Krieg?“
„So in etwa.“
„Gut. Dort hinten ist ein Mülleimer, wirf dein Handy dort rein. Was ist mit meinem?“
„Das läuft auch auf meinem Namen. Zur Sicherheit werfen wir das auch weg.“
Frieda musste sich nach so kurzer Zeit schon wieder von ihrem Handy trennen, das tat ihr sehr weh. Aber die Sicherheit ging vor. Sie griff in ihre Handtasche und übergab es Mario.
„Gehen wir irgendwo hin, wo junge Leute sind. Dort können wir ganz sicher ein Handy besorgen.“
„Wie stellst du dir das vor? Denkst du, wir spazieren einfach zu irgendjemand hin und fragen ihn, ob er uns sein Handy verkauft?“
„So in etwa, ja.“ Frieda war enttäuscht. Mario war zwar ein netter, freundlicher Kerl, aber viel zu weich für diese Welt.
Mario war total überfordert und trottete ihr hinterher. Die Handys warf er in den nächsten Abfalleimer, dieser Punkt war leicht. Alles was jetzt kam, war sehr viel schwerer. Wie sollten sie jemanden finden, der gewillt war, sein Handy zu verkaufen?
Nach einer halben Stunde entdeckten sie mehrere junge Leute rauchend vor einem Lokal. Die beiden stellten sich dazu und Mario war so aufgeregt, dass er kein Wort rausbrachte. Krampfhaft überlegte er, wie er am besten vorgehen sollte und legte sich die schönsten Geschichten in Gedanken zurecht. Frieda spürte Marios Unfähigkeit und beschloss, die Initiative zu ergreifen.
„Würde uns jemand ein Handy verkaufen?“ fragte Frieda in die Runde. „Unseres wurde leider gestohlen. Wir zahlen gut.“
Mario war geschockt über die direkte Art und auch sehr verwundert über die Reaktion der jungen Leute, die positiv reagierten.
„Ich habe eines, das ich verkaufen würde, kommt aber auf den Preis an.“
„Wir suchen eins, mit dem man das Internet nutzen kann, über den Preis werden wir uns sicher einig.“ Der junge Mann, Frieda und Mario traten einen Schritt zur Seite, um ungestört verhandeln zu können.
„Internet können doch heute alle.“ Er sah Frieda lächelnd an. „Ich denke mal, ihr sucht eins mit einer Prepaid-Karte?“
Frieda sah Mario fragend an, der sofort zustimmend nickte. Von solchen Dingen hatte sie keine Ahnung.
„Genau das suchen wir.“
Der junge Mann reichte ihr das Handy, das augenscheinlich in Ordnung war.
„Und das funktioniert auch?“
„Sicher, Ehrenwort. Ich wollte mir sowieso ein neues kaufen. Ich verlange, sagen wir 150 Euro? Interesse?“
„Ich gebe Ihnen 200 Euro, wenn das Ganze unter uns bleibt. Und wenn jemand fragen sollte, haben Sie es verloren. Einverstanden?“
„Einverstanden.“ Er notierte eine Nummer auf einer leeren Zigarettenschachtel, die auf dem Tisch lag. „Das ist Ihre neue Handynummer. Bitte löschen Sie alle Nummern und SMS, ich verlass mich drauf.“
„Geht in Ordnung. Und zu niemandem ein Wort.“
Sie übergaben das Geld und gingen davon. Das Ganze hatte keine zehn Minuten gedauert.
„Du warst einfach wunderbar. Woher kannst du so etwas? Ich habe mir vor Angst fast in die Hosen gemacht.“
„Du vergisst, dass ich 1944 geboren bin. Die Zeit damals war nicht einfach, man hatte fast nichts. Nach der Flucht aus Ostpreußen landeten wir nach einigen Zwischenstationen schließlich in einem Flüchtlingslager auf der Schwäbischen Alb. Da bin ich praktisch aufgewachsen. Damals galt: Fressen oder gefressen werden. Ich habe mich für ersteres entschieden. Mein Vater war nach dem Krieg lange in russischer Gefangenschaft, er wurde erst mit der letzten Welle 1955 entlassen. Seine Hilfe konnten wir vergessen. Meine Mutter konnte leider mit den Essensrationen und dem Geld nicht umgehen, da musste ich einspringen und habe alles organisiert, was wir zum Leben brauchten. Ich war Anfang der fünfziger Jahre zwar noch ziemlich jung, acht oder neun Jahre alt. Trotzdem brachte ich es fertig, Essen, Kleidung, Medikamente und Brennholz zu organisieren und ich kann behaupten, dass ich gar nicht mal so schlecht darin war.“
„Unvorstellbar, was du früher als Kind leisten musstest. Das kann man sich heute überhaupt nicht mehr vorstellen.“
„Wenn ich damals so gezögert hätte wie du, wären wir jämmerlich untergegangen. Du musst unbedingt an deinem Selbstbewusstsein arbeiten und dir mehr zutrauen, mit dieser unterwürfigen und vorsichtigen Einstellung wirst du nicht weit kommen. Bitte reiß dich künftig zusammen. Hier geht es zum Bahnhof. Es ist besser, wir beeilen uns. Ich befürchte, dass in dem Kaff so spät keine Bahn mehr fährt. Ich könnte Gift darauf nehmen, dass der Linienbusverkehr für heute bereits eingestellt wurde.“ Mit dieser Annahme lag sie absolut richtig, Busse fuhren heute keine mehr.
Mario konnte mit ihrem energischen Schritt kaum mithalten. Sie sprachen nicht miteinander. Er musste daran denken, was Frieda zu ihm gesagt hatte. Sie hatte ja Recht, er war tatsächlich ängstlich und sehr auf Sicherheit bedacht, was ihn bisher aber nicht gestört hatte. Seit gestern spürte er deutlich, dass er in manchen Situationen viel zu viele Defizite im Umgang mit Menschen und mit Spontanität und Selbstvertrauen hatte und nahm sich fest vor, daran zu arbeiten und sich zu ändern.
Am Bahnhof standen drei Personen, auch sie warteten auf den Zug. Mario studierte den Fahrplan.
„Mühldorf oder Burghausen?“
„Das ist mir völlig wurscht. Wir nehmen den Zug, der zuerst fährt. Entschuldige meinen barschen Ton, aber ich bin sauer und enttäuscht. Eigentlich wolltest du heute Abend zum Haus von diesem Peter Friedrich und nach deiner Familie suchen. Das kannst du jetzt vergessen. Ich habe so große Hoffnungen daraufgesetzt, Informationen über die Pinis zu bekommen. Stattdessen müssen wir flüchten und uns verkriechen wie feige Hasen.“
„Du weißt doch, was der Detektiv gesagt hat: Wir sollen aus Altötting raus. Das mit Peter Friedrich holen wir nach, versprochen.“
Frieda erwiderte nichts darauf, sie war ja der gleichen Meinung. Trotzdem war sie enttäuscht. Es interessierte sie nicht, warum die Kriminalpolizei aufgetaucht war und sie bat, wieder abzureisen. Was hatten sie mit der Polizei zu schaffen? Sie war sich sicher, dass dieser Friedrich einen wichtigen Hinweis auf die Familie Pini geben konnte. Er musste einen Bezug zu der Familie haben. Warum sonst stand sein Name in den Unterlagen des Reutlinger Immobilienmaklers? In ihren Augen vergeudeten sie wertvolle Zeit, indem sie vor etwas davonliefen, das sie nicht verstand. Aber sie musste sich fügen.
Schweigend warteten sie an dem kalten, unfreundlichen Bahnhof auf den nächsten Zug. Mario verstand Friedas Enttäuschung, auch er wäre am liebsten zu Friedrich gefahren und hätte ihn zur Rede gestellt. Sollte er sich über die Ratschläge des Detektives hinwegsetzen? Noch war Zeit dazu. Er war hin- und hergerissen. Dann fuhr der Zug ein und die Entscheidung war gefallen. Ihr Ziel stand fest: Burghausen.
Der Zug war fast leer und fuhr sehr, sehr langsam und ähnelte dem von gestern. Er hatte wieder das Gefühl, dass sie zu Fuß viel schneller gewesen wären. Nach einer knappen halben Stunde erreichten sie endlich ihr Ziel. Frieda hatte noch kein Wort gesagt und Mario ließ sie in Ruhe. Was hätte er auch sagen sollen?
Am Burghauser Bahnhof studierte Mario den Fahrplan und auch die Streckenkarte genauer. Er begriff, dass sie sich nahe der österreichischen Grenze befanden. Das war sehr interessant, denn bis jetzt war es ihm völlig egal, in welcher Ecke Deutschlands sie waren und in Erdkunde war er nie ein Genie gewesen. Er sah auf die Uhr; nur noch zwei Minuten bis einundzwanzig Uhr. Perfekt. Der Detektiv sagte, sie sollten nach dieser Uhrzeit einchecken, sie waren genau im Zeitplan.
Mario ging zu einem der Taxis. Die genervte Frieda trottete ihm hinterher. Mario sah ihr an, dass sie müde war. Sie brauchte dringend Ruhe. Hätte er sie nicht doch lieber zuhause lassen sollen?
„Kennen Sie eine gemütliche Pension? Wir sind keine Freunde von großen Hotels.“
„Kenn ich, steigen Sie ein. Kein Gepäck?“
„Kein Gepäck.“
Mario überlegte sich eine passable Ausrede für das fehlende Gepäck. Aber da der Taxifahrer nicht nachfragte und sich offensichtlich nur für seine Musik interessierte, schwiegen sie bis zu ihrem Ziel, das sie nach knapp zehn Minuten erreichten. Da die Fahrt für den Taxifahrer nicht lukrativ war, legte Mario ein ordentliches Trinkgeld auf den geringen Fahrpreis und entlockte ihm dadurch ein Lächeln. Die Pension war auf den ersten Blick sehr ansprechend, was beide aber wenig interessierte. Trotz der späten Gäste war die Dame am Empfang sehr liebenswürdig und begleitete sie zu den gemütlichen, sauberen Zimmern. Sie schien nicht zu bemerken, dass sie kein Gepäck hatten, oder sie interessierte sich nicht dafür. Sie hatten beide bei der Anmeldung gültige Pässe vorgelegt und machten nicht den Anschein, dass sie ihre Zimmer nicht bezahlen könnten. Alles andere war für sie nicht von Interesse. Mario fragte nach der Möglichkeit eines Abendessens.
„Natürlich können Sie bei uns essen. Unser Haus wird auch wegen der guten Küche geschätzt. Ich reserviere einen Tisch für Sie.“
Mario hatte an der Rezeption einen Prospekt der Pension eingesteckt. Er rief den Detektiv an und nannte ihm die neue Handynummer und die Adresse der Pension.
„Für die nächsten beiden Tage sind Sie in Sicherheit. Besorgen Sie sich morgen früh Kleidung und alles, was Sie sonst noch brauchen. Unternehmen Sie bitte nichts, bis ich bei Ihnen bin.“
„Wann sind Sie hier?“
„Ich habe noch einiges zu recherchieren und werde mich beeilen. Ich bin so schnell wie möglich bei Ihnen. Bleiben Sie bitte ruhig. Wie geht es Ihrer Begleitung? Wäre es nicht besser, sie fährt wieder nach Hause?“
„Das wäre mir auch lieber. Allerdings befürchte ich, dass sie sich weigert. Machen Sie sich keine Sorgen, Frau Votteler ist hart im Nehmen.“
Leo wusste längst, wo die beiden untergekommen waren. Er war ihnen gefolgt. Noch hatte er keine Informationen darüber, warum sich die Kriminalpolizei für Peter Friedrich interessierte. Und vor allem nicht, warum die Kriminalpolizei Mario Pini bat, wieder abzureisen. Die beiden Kollegen waren echt. Das herauszufinden, war für seinen Vorgesetzten Zeitler eine Kleinigkeit gewesen.
„Die beiden sind in der Pension Enzian in Burghausen untergekommen,“ sagte Leo zu Zeitler.
„Gut. Ich kümmere mich darum, dass die Meldungen nicht rausgehen. Wäre es nicht besser, die beiden aus der Schusslinie zu nehmen? Ein Öko-Fuzzi und eine alte Frau sind nicht gerade das ideale Gespann.“ Zeitler sagte das zwar salopp, aber er machte sich ernsthaft Sorgen.
„Wir brauchen die beiden. Ohne sie wären wir nie auf die Spur von Peter Friedrich gekommen. Er muss etwas mit der Familie Pini zu tun haben. Vielleicht kommen wir so an Jürgen Knoblich.“
„Ich finde das weit hergeholt. Es gibt nichts, was darauf hindeutet.“
„Wir haben keine andere Spur.“
„Das weiß ich.“
„Haben Sie etwas von den Münchner Kollegen gehört?“
„Noch nicht. Mein Kontakt ist nicht erreichbar, ich bin aber dran. Ich bin gespannt, was die Kripo München von Peter Friedrich möchte. Solange müssen Sie ein Auge auf Pini und Frau Votteler haben.“
„Ich pass auf die beiden auf, versprochen.“ Leo hatte eine ungemütliche Nacht vor sich, die er im Wagen verbringen wollte. Das war nicht das erste Mal. Für einen Moment hatte er darüber nachgedacht, sofort auf der Bildfläche zu erscheinen, entschied sich dann aber dagegen. Bevor er nicht mehr Informationen hatte, blieb er vorerst lieber noch im Hintergrund.
Als Mario das Restaurant betrat, saß Frieda bereits am Tisch und aß. Er erwähnte nur mit knappen Worten das eben geführte Telefongespräch und Frieda verstand sofort: Hier konnten sie auf keinen Fall über das Telefonat und das heute Erlebte sprechen. Das Restaurant war voll. Daher verständigten sie sich stillschweigend, die Unterhaltung nach dem Essen fortzuführen.
„Gehen wir vor dem Schlafen noch eine Runde spazieren?“ schlug Frieda vor, die ein Glas Rotwein zu viel hatte und dringend frische Luft brauchte.
„Gerne,“ sagte Mario, obwohl er keine Lust darauf hatte. Schweigend gingen die beiden um den Block.
Leo Schwartz folgte den beiden. Nachdem sie wieder in die Pension gingen, stieg er in seinen Wagen. Hoffentlich war das der letzte Spazierging für heute und es gab keine weiteren Überraschungen…
Tim S. –
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