Der 15. Fall aus der Leo-Schwartz-Krimireihe
1.
Uppsala/Schweden, Hauptbibliothek Carolina Rediviva – 9. November, 22.00 Uhr
Vier schwarz gekleidete Männer stiegen aus ihrem Fahrzeug, sprengten in wenigen Augenblicken die Tür der alten Bibliothek und gingen zielstrebig ins Zimmer 12 der ersten Etage, deren Tür einer der Männer mit einem heftigen Fußtritt aufbrach. Die Sirene der Alarmanlage kümmerte sie nicht. Mit einem Stemmeisen schlug einer der Männer den klimatisierten Schaukasten ein, entnahm das darin aufbewahrte Buch, legte es vorsichtig in den mitgebrachten Koffer und übergab ihn dem Auftraggeber, der sich geschickt vor den Überwachungskameras verdeckt aufhielt und sich nicht aktiv beteiligte. So schnell die Männer gekommen waren, waren sie auch wieder verschwunden. Mit hoher Geschwindigkeit fuhren sie durch die Innenstadt, ohne auf Verkehrszeichen oder Passanten zu achten. Dabei kamen ihnen einige Polizeiwägen mit eingeschalteten Blaulichtern entgegen, die ganz bestimmt auf dem Weg in die Hauptbibliothek waren.
Als sie endlich aus der Innenstadt Uppsalas heraus waren, drückte der Fahrer das Gaspedal bis zum Anschlag durch. Sie mussten weg, und zwar so schnell wie möglich. Die Überwachungskameras hatten drei von ihnen ganz sicher von allen Seiten aufgenommen und für die schwedischen Behörden würde es leicht werden, sie zu identifizieren. Bis auf den Jüngeren der vier Männer, den Auftraggeber, waren alle strafrechtlich bereits aktenkundig. Trotz der Umstände waren sie bester Laune, obwohl noch knapp vier Stunden Fahrtzeit vor ihnen lag. Dann hatten sie es geschafft und sie waren reich, sehr reich.
Der 32-jährige Auftraggeber, der seinen Namen nicht genannt hatte und den die anderen daher nur den Jüngeren nannten, hieß Lorenzo Giancomelli. Er hatte die Männer angeworben. Durch seine Kontakte kam er an schwedische Polizeiakten und suchte gezielt nach furchtlosen Männer, die dringend Geld brauchten. Er hatte darauf geachtet, dass sie keine Familie hatten, schließlich war er kein Unmensch. Giancomelli konnte aus dem Vollen schöpfen, denn die Männer, die er suchte, gab es wie Sand am Meer. Er hatte sich trotzdem Mühe gegeben, alle Kriterien zu berücksichtigen, die für ihn wichtig waren. Dann suchte er die Männer persönlich auf und bot ihnen den Job an. Es war leicht gewesen, sie für das Vorhaben zu gewinnen, schließlich bot er jedem von ihnen sehr viel Geld. Giancomellis Bedingung war: Keine Fragen. Dafür verlangten die Männer, nach dem Auftrag außer Landes geflogen zu werden, was Giancomelli sehr entgegenkam. Dadurch würde die ganze Sache einen runden Abschluss bekommen.
Alles lief wie geplant und Giancomelli war sehr zufrieden. Sie hatten es geschafft, das Buch befand sich in seinen Händen. Er war glücklich und sprach ein stilles Gebet.
Endlich waren sie an ihrem Ziel angekommen: Der kleine Flughafen in Sundsvall-Timra, der vier Stunden von Uppsala entfernt lag. Nur ab und zu hob ein kleineres Passagierflugzeug ab, größere sah man auf diesem Flugplatz selten. Die Männer parkten den Wagen. Sie gaben sich keine Mühe, die Nummernschilder zu entfernen oder ihn abzuschließen. Die Arbeit war erledigt und sie würden nie wieder schwedischen Boden betreten. Sie gingen zielsicher zum Rollfeld. Hier stand ein Sportflugzeug für die drei Schweden bereit, um sie außer Landes zu fliegen. Die Stimmung unter den Männern wurde gelöster und man spürte, wie die Anspannung von ihnen abfiel. Giancomelli übergab jedem einen dicken Umschlag, der mit Geldscheinen prall gefüllt war. Es war selbstverständlich, dass die drei sich erst von der Summe überzeugten, bevor sie beschwingt in das Sportflugzeug stiegen, das von einem zwielichtigen, verschlagenen Mann geflogen wurde, der Giancomelli kräftig über den Tisch gezogen hatte. Giancomelli bedankte sich bei jedem per Handschlag und verabschiedete sie mit warmen Worten, auch bei dem Piloten, der sich über die Dummheit des Italieners freute. Giancomelli selbst blieb mit dem Koffer zurück, er hatte andere Pläne. Er winkte dem Sportflugzeug hinterher und sah ihm beim Start zu. Als das Flugzeug fast schon außer Sichtweite war, nahm Giancomelli einen Sender aus der Tasche, schloss die Augen und drückte ab. Ein heller Feuerball erschien im dunklen Himmel der sternklaren Nacht. Giancomelli kniete nieder und sprach ein Gebet. Diese Opfer mussten sein, er konnte keine Mitwisser brauchen, das war Teil des Plans. Auf das Geld, das unwiederbringlich ebenfalls verloren war, konnte er gerne verzichten. Es ging nicht um das Geld, davon gab es genug. Es ging nur um das Buch.
Noch bevor die Rettungsteams alarmiert wurden, ging Giancomelli zu den Schließfächern, entnahm eine Tasche und lief damit zu den Toiletten. Er musste sich beeilen, er war spät dran. Nach wenigen Minuten kam er mit einer schwarzen Soutane bekleidet und dem weißen Kollar, dem römischen Kragen, heraus und ging zielstrebig auf eine Gruppe zu, die auf ihn zu warten schien.
„Endlich Monsignore, wir warten schon auf Sie. Unser Flug wurde bereits aufgerufen,“ lief ihm ein Mann entgegen und übergab ihm das Flugticket. Die Gruppe bestand aus insgesamt vierzehn Personen, die alle an einem Symposium teilgenommen hatten. Die Teilnehmer waren anfangs überrascht, dass sich ein katholischer Priester anschloss, denn das Thema aus der Astrologie war sehr spezifisch aufgebaut und eigentlich stand die katholische Kirche dem Thema skeptisch gegenüber. Trotzdem wurde Giancomelli rasch in die Gruppe integriert, obwohl er sich nicht wirklich für das Thema interessierte. Für ihn war die Teilnahme an diesem Symposium eine sehr gute Möglichkeit, ohne großes Aufsehen in Schweden ein- und auch wieder ausreisen zu können.
Die inzwischen heulenden Sirenen drangen bis in die Abflughalle. Die wenigen Personen spürten, dass etwas passiert sein musste, denn die Sicherheitskräfte rannten durcheinander. Das Gerücht eines Flugzeugabsturzes machte die Runde und löste Diskussionen und schließlich auch Panik aus. Beinahe alle drängten sich an den Fenstern. Das Flughafenpersonal war heillos überfordert und winkte die Gruppe, in der Giancomelli stand, einfach durch.
Erst, als das Flugzeug mit Giancomelli an Bord das schwedische Hoheitsgebiet verlassen hatte, wurden die Fahndungsbilder der Diebe veröffentlicht. Von Giancomelli gab es nur eine verschwommene Aufnahme, durch die man nie auf ihn kommen würde. Auch dieser winzig kleine Flughafen würde nie im Zusammenhang mit dem Diebstahl stehen; warum auch? Die Namen der drei Ganoven tauchten nirgends auf. Das war die Bedingung an den Piloten gewesen, als der ihm seinen völlig überzogenen Preis nannte. Jetzt waren sie tot und in tausend kleine Stücke gerissen. Es war klar, dass die Explosion des Flugzeugs als Unfall eingestuft werden würde, was aufgrund des maroden und in die Jahre gekommenen Flugzeugs nahelag. Der Plan hatte funktioniert und er hatte es geschafft, das Buch ohne einen Mitwisser in seinen Besitz zu bringen. Er lehnte sich in seinen Sitz zurück und verließ seinen Platz erst, als das Flugzeug auf dem italienischen Flughafen Leonardo da Vinci in Fiumincino nahe Rom landete. Freundlich ließ er den anderen den Vortritt und zog dann den Koffer unter seinem Sitz hervor, den er dort sicher verstaut und auf den niemand geachtet hatte. Nachdem er seine Reisetasche vom Kofferband genommen und sich von allen Teilnehmern der Gruppe verabschiedet hatte, stieg er in die Limousine, die am Ausgang auf ihn wartete.
„Hast du das Buch?“
„Ja, Vater.“
„Ich bin sehr zufrieden mit dir. Gab es Probleme?“
„Nein. Es lief alles wie geplant.“ Die Einzelheiten verschwieg er. Nur zwei Personen waren in den Plan eingeweiht, das genügte.
Es dauerte eine gute halbe Stunde, dann fuhren sie durch das Tor des Vatikans, wo Giancomelli bereits trotz der frühen Morgenstunden ungeduldig von acht Männern erwartet wurde, unter ihnen der berüchtigte Kardinal Alberto Varese. Er war extra aus Spanien gekommen, um das Buch persönlich in Augenschein zu nehmen und zu entscheiden, wie weiter damit verfahren werden sollte. Varese war erschrocken über den Zustand des Buches. Konnte das eine Fälschung sein? Konnten sie es jetzt nach dem Diebstahl überhaupt noch auf die Echtheit überprüfen lassen? Nein, dafür war jetzt nicht der richtige Moment. Was, wenn es Fotos oder Abschriften des Buches gab? Das war ganz sicher so, aber ohne das Original brachten die ganzen Kopien und Abschriften nichts.
Jeder der Männer begutachtete das Buch und nach zwei Stunden entbrannte eine heftige Diskussion, während derer die wildesten Vorschläge in den kleinen Raum geworfen wurden. Kardinal Varese sprach ein Machtwort: Dieses Buch durfte nicht an die Öffentlichkeit gelangen, zumindest noch nicht. Die Stimmung im Vatikan war momentan so schlecht wie nie und es wäre jetzt sehr ungeschickt, das Buch zu präsentieren. Als Kardinal Varese vor einigen Monaten den Auftrag erteilte, das Buch zu besorgen, war alles noch in bester Ordnung. Er hatte sich einen kleinen Fehler erlaubt und war daraufhin gerüffelt worden. Durch die Einladung eines Fernsehsenders und der damit verbundenen, sehr großzügigen Spende wurde ihm seine Eitelkeit zum Verhängnis. Ohne groß darüber nachzudenken hatte er zugesagt, ohne Rücksprache mit dem Vatikan zu halten, der bei solchen öffentlichen Auftritten gerne vorher informiert werden wollte. Der Kardinal hatte sich während der Sendung anfangs sehr gut geschlagen und ließ sich von den anderen nicht aus der Reserve lockten. Von Anfang an hatten es zwei der Teilnehmer auf den Kardinal und die katholische Kirche abgesehen und provozierten ihn, wo sie nur konnten. Am Ende der Sendung ließ sich der Kardinal zu einigen Äußerungen hinreißen, die im Vatikan nicht gut ankamen und ihm eine gehörige Standpauke bescherten. Sein gutes Ansehen hatte einen Kratzer bekommen. Längst hatte er nicht mehr an die Möglichkeit gedacht, dass dieser Giancomelli es tatsächlich schaffen würde, das Buch zu besorgen. Er war erstaunt, als er die Nachricht erhielt und flog sofort in den Vatikan, um es persönlich in Augenschein zu nehmen.
„Hast du es auf dem Schwarzmarkt gekauft Lorenzo?“
„Nein Eminenz. Ich musste es stehlen.“
Der Kardinal atmete tief durch. Ein gestohlenes Buch konnte er weder den anderen, noch dem Papst präsentieren.
„Wie seid ihr vorgegangen?“
„Der Diebstahl wird morgen in allen Medien erscheinen. Es tut mir leid Eminenz, es gab keine andere Möglichkeit, das Buch zu beschaffen.“
„Mitwisser?“
Giancomelli schüttelte nur den Kopf und der Kardinal wusste, was das bedeutete und wollte keine Einzelheiten wissen. Es war besser, abzuwarten, bis Gras über die Sache gewachsen war. Und bis dahin musste das Buch sicher aufbewahrt werden. Trotz allem war Kardinal Varese sehr zufrieden, dass dieses unsägliche Buch im Vatikan war und kein Unheil mehr anrichten konnte. Varese konnte getrost zurück nach Spanien reisen.
Giancomelli selbst brachte das Buch in die Bibliothek im Keller des Vatikans und verstaute es in einem klimatisierten Safe. Er fühlte sich nicht wohl dabei. Er hatte dieses Buch mit langer Vorbereitung, sehr großem Aufwand und den schrecklichen, unvermeidlichen Opfern besorgt. Und jetzt sollte er es einfach in dem Safe verschwinden lassen? Giancomelli war durcheinander. Wenn das Buch echt war, und danach sah es aus, dann war das für die katholische Kirche eine Katastrophe. Er bekam eine Gänsehaut. War das Buch nicht doch eine Fälschung? Optisch sah es durchaus echt aus, aber das konnte auch täuschen. Das Buch bestand aus dunkelbraunem Leder und die aramäischen Texte wurden mit Gold geschrieben. Warum wurde das Buch nicht einfach geprüft? Wenn es eine Fälschung war, müsste man sich nicht darum sorgen. Aber die anderen waren dagegen. Fürchteten sie die Echtheit? Man hatte beschlossen, das Buch einzuschließen und Giancomelli fügte sich der Anweisung, obwohl er damit nicht einverstanden war. Aber was sollte er machen? Er hatte das Buch zwar gestohlen, aber einem Kardinal widersprach man nicht, vor allem nicht Kardinal Varese. Schon der Blick und die tiefe Stimme der Eminenz waren gefürchtet. Das Buch war unter vorgehaltener Hand schon seit vielen Jahren Thema im Vatikan. Im Jahr 2000 soll es bei einer Schmugglerbande gefunden worden sein, Einzelheiten waren nicht bekannt. Hinter vorgehaltener Hand kursierten auch hier immer wieder Gerüchte. Erst in den letzten Monaten erschienen in Fachzeitschriften einige Artikel, die auf dieses Buch hinwiesen: Das Barnabas-Evangelium. Niemand wusste genau, was darin stand und was es damit auf sich hatte. Es schien, als wäre dieses Buch nicht existent. Bis vor zwei Wochen. Die Nachricht machte die Runde, dass das Barnabas-Evangelium in der Hauptbibliothek Carolina Rediviva in Uppsala geprüft werden sollte, die dafür extra vier hochkarätige Spezialisten angefordert hatte. Diese Gelegenheit war einmalig, denn bis dahin hatte Giancomelli nicht die leiseste Ahnung, wo dieses Buch aufbewahrt wurde. Schweden! Das war endlich eine Chance, um das Buch in die Finger zu bekommen. Giancomelli war glücklich gewesen, als er im Frühsommer eine Nachricht auf seinem Zimmer vorfand. Er solle diese Bibel unter allen Umständen besorgen. Einzelheiten wollte man nicht wissen, man überließ ihm die Organisation und die Durchführung der Aufgabe. Der Nachricht war eine Kontonummer eines Bankkontos beigefügt, das eigens für diese Aktion eingerichtet worden war. Die Summe war nicht begrenzt. Wer hatte ihn beauftragt? In der Nachricht wurde kein Namen genannt und man verlangte Stillschweigen von ihm. Von da an war das seine Hauptaufgabe. Der Sicherheitschef des Vatikans, Carlo Fumagalli, kam kurz darauf auf ihn zu und bot ihm seine Hilfe an. Für Giancomelli war sofort klar, dass er ebenfalls damit beauftragt worden sein musste. Woher sonst wusste er davon? Gemeinsam planten sie das Vorhaben, schmiedeten Pläne und verwarfen sie wieder. Es war nicht sicher, wo sich das Buch befand und Giancomelli unternahm viele unsinnige Reisen auf vage Aussagen hin, die sich aber dann alle zerschlugen. Bis vor zwei Wochen bekannt wurde, dass das Buch in Uppsala war. Jetzt musste alles schnell gehen. Giancomelli nutzte seine vielen Kontakte und bekam so Zugang zu den Akten der schwedischen Polizei. Fumagalli kam auf die brillante Idee mit der Teilnahme an dem Symposium. Alles war perfekt geplant und konnte nicht schiefgehen. Trotzdem hatte Giancomelli Gewissensbisse wegen dem geplanten Mord an den drei Männern, die zusammen mit dem Piloten in die Luft gesprengt werden sollten. Fumagalli hatte das geplant und würde die Organisation übernehmen. Giancomelli brauchte lediglich auf den Knopf des Senders drücken. Er war erschrocken von dieser Idee. Aber er ließ sich überzeugen, Fumagalli war ein brillanter Redner und hatte sehr überzeugende Argumente. Es war wirklich besser, wenn es keine Mitwisser gab. Bis zuletzt saßen die beiden über dem Plan und gingen alle Einzelheiten mehrfach durch. Der Diebstahl musste klappen, bevor die Sicherheitsmaßnahmen verstärkt wurden.
Alles war wie geplant verlaufen und hatte vier Menschenleben gekostet. Und jetzt sollte die Bibel in dem Safe schlummern. Nicht mehr lange, und sie würde in Vergessenheit geraten.
Als Giancomelli die Tür der Bibliothek schloss, fühlte er sich schlecht. Dieses Buch, das die Fundamente der Kirche ins Wanken bringen könnte, lag dort hinten im Safe und war existent und deshalb immer noch sehr gefährlich. Hätte er es nicht einfach verbrennen sollen, als er noch in der Lage dazu war?
Der schwedische Polizist Malte Hedlund war außer sich, als er die dreisten Einbruchspuren in der Hauptbibliothek Uppsala in Augenschein nahm. Es ging den Dieben also nur um dieses Buch, an anderen Dingen hatten sie kein Interesse. Die Diebe sind bei ihrem Einbruch sehr rabiat vorgegangen. Warum diese Gewalt? Die Explosion hatte die uralte Holztür des historischen Gebäudes komplett zerstört und die herumfliegenden Trümmerteile hatten weitere Schäden an umliegenden Gebäuden und parkenden Fahrzeugen verursacht. Und alles nur wegen dieses Buches, das laut Angabe der Leiterin der Bibliothek eine alte Bibel sein soll. Die Existenz des gestohlenen Buches, das im Jahr 2000 bei einer Schmugglerbande gefunden worden sein soll, wurde fast täglich in den Medien thematisiert. Wilde Spekulationen wurden ausgesprochen, das Interesse der Bevölkerung an dem Inhalt war immens groß. Jetzt war es weg. Gestohlen auf brutale Art.
„Was ist so besonders an diesem Buch?“ Der Leiter der Bibliothek befand sich auf einer Informationsreise in Asien und deshalb musste er mit dessen Stellvertreterin Hala Magnusson sprechen, die sofort zur Stelle war, als die Polizei sie über den Diebstahl informierte. Unter ihrem dicken Mantel trug die 56-jährige, unscheinbare Frau noch ihren Schlafanzug, dicke Wollsocken und Gummischuhe. Man sah an ihrer ungekämmten Frisur, dass sie vor kurzem noch im Bett war. Es schien die Frau nicht zu interessieren, wie sie aussah und dass die Polizisten über sie lachten.
„Es handelt sich bei dem Buch um eine Bibel, die das Evangelium von Barnabas enthält. Da unser Haus für die Prüfung historischer Schriften perfekt ausgerüstet ist, wurde angefragt, ob wir die Echtheit des Buches prüfen könnten. Dafür haben wir vier hochrangige Experten hinzugezogen, um einen Übersetzungsfehler auszuschließen. Seit Donnerstag letzte Woche sind die Experten bei der Arbeit. Und jetzt das. Wissen Sie, was das für unser Haus bedeutet? Man wird uns verspotten, weil ein so wertvolles Buch bei uns nicht sicher ist. Man wird uns nie wieder solch ein Exemplar anvertrauen.“ Waren das tatsächlich Tränen in ihren Augen? Wegen dem Diebstahl des Buches und den zu erwartenden Folgen? Für Malte Hedlund war diese Reaktion nicht nachvollziehbar. Es gab wahrlich Schlimmeres. Es ging also um eine Bibel, genauer gesagt um ein Barnabas Evangelium. Malte war kein sehr gläubiger Mensch.
„Vielleicht bin ich ein Banause oder nicht intelligent genug, um Ihnen folgen zu können. Es könnte auch an der späten Stunde liegen. Ich verstehe immer noch nicht, was dieses Evangelium von Barnabas, von dem ich noch nie gehört habe, anrichten könnte.“
Hala Magnusson verdrehte verständnislos die Augen. Sie war genervt von dem Polizisten, der sie nicht verstand, obwohl sie sich Mühe gegeben hatte, alles so einfach wie möglich zu erklären.
„Diese Bibel ist ein wertvolles Relikt aus der Zeit, als Jesus lebte. Wir bekommen mithilfe der Bibel vielleicht einen detaillierten Einblick über die damalige Zeit und das Leben Jesu. Viellicht hätte der Inhalt auch völlig neue Informationen geliefert, die die heutige Bibel, wie wir sie kennen, ins Wanken bringen könnte. Zumindest waren die Experten davon überzeugt, dass das durchaus der Fall sein könnte. Stellen Sie sich vor, was passieren würde, wenn wichtige Stellen der Bibel in Frage gestellt werden. Wenn zum Beispiel die Kreuzigung Jesu so nicht stattgefunden hat, wie sie überliefert wurde. Oder die Auferstehung nicht einmal erwähnt wird?“ Hala Magnusson war völlig in ihrem Element. Sie brannte für Geschichte und für die Möglichkeit, durch alte Artefakte und vor allem Schriften Wahrheiten an die Oberfläche zu schwemmen. Malte war das gleichgültig. Was würde das ändern? Eine weitere Diskussion über mögliche neue Informationen aus dem Leben von Jesus, die doch nicht zu beweisen waren.
„Ich möchte mit den Experten sprechen.“ Hala Magnusson notierte die Adresse des teuersten Hotels in Uppsala. „Bringen Sie ihnen die schreckliche Nachricht schonend bei.“
Hedlund stöhnte auf. Dieser Diebstahl schmeckte ihm nicht und er fluchte. Warum musste die Bibel gerade dann gestohlen werden, wenn er Bereitschaft hatte?
„Finden Sie die Bibel, sie ist sehr wertvoll,“ sagte Hala Magnusson und sah ihn dabei flehend an.
„Wie hoch ist ihr Wert?“ fragte Hedlund, der sich noch keine Gedanken über den finanziellen Wert gemacht hatte.
„Mit ihrer Anlieferung wurde uns der Versicherungsschein übergeben. Sie wurde für 14 Millionen Britische Pfund versichert.“
Hedlund pfiff durch die Zähne. Das änderte alles. Der Diebstahl könnte nicht nur einen religiösen, sondern auch einen finanziellen Hintergrund haben.
Die Aufzeichnungen der Überwachungskameras standen bereit und Hedlund sichtete sie sorgfältig. Warum hatten die Täter keine Masken auf? Drei der Diebe gingen sofort in die Fahndung. Bis auf den einen Mann, der auf keiner der Aufzeichnungen klar erkennbar war.
Nun fuhr Hedlund ins Hotel, um mit den Experten zu sprechen. Alle vier saßen im Frühstücksraum, die Nachricht über den Einbruch in der Hauptbibliothek hatte sich herumgesprochen. Als sie erfuhren, dass die Bibel gestohlen wurde, waren sie entsetzt. Es folgte eine heftige Diskussion, die Hedlund unterbrechen musste. Er war müde und genervt.
„Was haben Sie bis jetzt herausgefunden? Ist die Bibel echt? Was steht darin?“
„Wie stellen Sie sich das vor junger Mann? Dass wir eine 2000 Jahre alte Schrift einfach so übersetzen können? Das dauert Jahre.“
„Was wir mit Sicherheit bis jetzt sagen können ist, dass die Schrift aus der damaligen Zeit stammt. Auch das Leder, auf dem geschrieben wurde, kann in die damalige Zeit datiert werden.“
„Das ist alles? Mehr haben Sie nicht?“
„Sie sind ein Banause! Schämen Sie sich! Sie brauchen für Ihre Arbeit Ihre Zeit, so wie wir unsere brauchen. Wir dürfen uns bei unserer Arbeit keinen einzigen Fehler erlauben und prüfen mehrfach jedes Ergebnis, bevor wir damit an die Öffentlichkeit gehen. Fehler, wie sie in der Vergangenheit durch vorschnelle Veröffentlichungen geschehen sind, dürfen wir uns nicht erlauben. Jetzt können wir unsere Arbeit beenden und nach Hause fahren.“
„Gibt es keine Fotos der Bibel?“
„Sie meinen, wir sollten den Text anhand der Fotos übersetzen? Sie verstehen wirklich nichts von unserer Arbeit. Nein, wir können die Arbeit auf diese Art und Weise nicht fortführen. Wir arbeiten nur an Originaldokumenten und nur diese Übersetzungen und Expertisen werden anerkannt. Man würde uns überall auslachen, wenn wir als Grundlage unserer Arbeit Fotos auf den Tisch legen, statt des erwarteten Originals.“
„Zusammenfassend kann ich davon ausgehen, dass die Bibel echt ist?“
„Hören Sie genauer hin! Mein Kollege sagte vorhin, dass das Leder aus der Zeit vor 2000 Jahren stammt und auch die Schrift in die damalige Zeit passt. Diese beiden Aussagen können wir vertreten, mehr aber nicht. Dazu bräuchten wir die Originalbibel und viel mehr Zeit.“
Malte Hedlund verabschiedete sich von den arroganten Herren und hoffte, sich nie wieder mit ihnen auseinandersetzen zu müssen. Er hasste seinen Job und spürte, dass dieser Fall noch lange nicht zu Ende sein würde.
2.
Altötting/Deutschland, 27. November
Die Weihnachtsfans fieberten auch in diesem Jahr wieder dem Altöttinger Christkindlmarkt entgegen, der heute endlich startete. Gut drei Wochen lang konnte man den Duft des Glühweins, der Bratwürste und der Zuckerbäckerei wieder genießen, während man die besondere Stimmung des Christkindlmarktes, der eingebettet in prächtige Barockgebäude am berühmten Kapellplatz jedes Jahr stattfand und weit über die Stadtgrenze hinaus berühmt und beliebt war. Wer könnte sich dem Zauber der Besinnlichkeit und der Ruhe, gepaart mit geschäftigem Treiben entziehen? Hans Hiebler, Kriminalhauptkommissar der Mühldorfer Kriminalpolizei, jedenfalls nicht. Der 54-jährige, sportliche, attraktive Junggeselle mit dem besonderen Faible für Frauen schlenderte mit seiner neuesten Eroberung Rita über den Christkindlmarkt und war glücklich. Die junge Rita war wie eine frische Brise in seinem Leben und er ließ sich von ihr und ihrem Temperament gerne mitreißen. Beruflich war es in den letzten Wochen sehr ruhig gewesen. Es gab fast nur Routinearbeiten, alles war friedlich in seiner beschaulichen oberbayrischen Heimat. Er kaufte Rita ein Lebkuchenherz mit einem kitschigen Spruch, über den sich beide amüsierten.
„Ich bin dir noch einen Glühwein schuldig,“ strahlte ihn Rita an. „Warte hier und halte mir ein Plätzchen frei. Bin gleich zurück.“
Hans stellte sich an einen Tisch und sah der für ihn viel zu jungen Frau hinterher. Rita war erst 32 Jahre alt, er war also über 20 Jahre älter als sie. Was sollte ihn an ihrem Alter stören? Die anderen tuschelten über sie, das hatten sie längst bemerkt. Hans war es egal, was andere über ihn dachten. Er genoss die Zeit mit ihr. In ihrer Gegenwart fühlte er sich jung und frisch; was sollte daran verkehrt sein?
Dann gab es einen fürchterlichen Knall!
Hans ging in Deckung, viele Dinge flogen ihm um die Ohren. Was war passiert? Qualm und Rauch füllte die Luft und die Sicht war gleich Null! Schreie, fürchterliche Schreie folgten und wurden immer mehr. Dann brach Panik aus. Hans rettete sich neben den Eingang einer Verkaufsbude, sonst hätten ihn die Menschen umgerannt. Was zum Teufel war hier los? Hans rief seine Kollegen in Mühldorf an und hatte keine Ahnung, dass sein Chef Rudolf Krohmer am anderen Ende der Leitung war. Der Lärm um ihn herum war zu groß. Hans hatte keine Chance, auch nur ein Wort zu verstehen. Er musste einen Platz finden, von dem aus er telefonieren konnte. Er lief einfach los und suchte Schutz in der Stiftskirche.
„Feuerwehr und mehrere Krankenwägen zum Kapellplatz Altötting. Schnell!“ rief Hans ins Handy und seine Worte hallten in der Kirche wider. Viele Personen hatten ebenfalls Schutz in der Stiftskirche gesucht, aber Hans nahm sie nicht wahr.
Rudolf Krohmer, Chef der Mühldorf Polizei, verstand seinen Kollegen nun viel besser und gab sofort die Anweisung weiter.
„Was ist passiert?“
„Das weiß ich noch nicht. Ich vermute eine Bombe.“ Hans hatte aufgelegt und ging wieder nach draußen. Rita! Wo war sie?
Krohmer war geschockt. Eine Bombe auf dem Christkindlmarkt Altötting war eine Katastrophe! Nachdem er Feuerwehr und Rettungswagen angefordert hatte, rief er umgehend den Kollegen Schenk an. Der Chef der Altöttinger Polizei war ein unsympathischer, schwieriger Charakter, mit dem er regelmäßig aneinandergeriet. Jetzt ging es nicht um persönliche Aversionen, es gab Wichtigeres.
„Es stimmt also wirklich? Eine Bombe auf dem Christkindlmarkt? Woher haben Sie Ihre Informationen?“
„Einer meiner Leute ist privat vor Ort. Es herrscht Panik. Ich habe ihn kaum verstanden. Feuerwehr und Rettungskräfte sind unterwegs. Ich fahre sofort los, wir müssen umgehend einen Krisenstab einrichten.“
Waldemar Schenk lehnte sich zitternd zurück. Eine Bombe in seinem beschaulichen Altötting! Und dann noch auf dem Christkindlmarkt! Für einen kurzen Moment war er versucht, einfach davonzulaufen. Er war überfordert. Reiß dich gefälligst zusammen! Er öffnete das Fenster, atmete tief durch, und ging wieder an seinen Schreibtisch. Jetzt galt es, die Nerven zu bewahren!
Rauch und Qualm lichteten sich nur langsam und Hans konnte das Ausmaß immer noch nur erahnen. Es war schwer, in der Luft zu atmen und er hielt sich den Schal vors Gesicht. Er näherte sich dem Zentrum des Unheils. Wo war seine Rita? Er betete inständig, dass sie in Sicherheit war. Ganz bestimmt war sie das! Hans ging weiter und stand vor der Stelle, an der vor wenigen Minuten noch eine Bude stand. Nichts war von ihr übriggeblieben. Die beiden Nachbarbuden hatten auch ordentlich was abbekommen, aber sie standen noch. Hans hörte die Sirenen. Hilfe nahte.
„Rita? Rita!“ Hans rief mehrmals ihren Namen. Anfangs laut und ruhig, dann immer hektischer, bis er schließlich hysterisch wurde. Er suchte in jedem Winkel und jedem Eck. Wo war sie nur? War sie tatsächlich so weit weggelaufen? Verständlich, nach so einer heftigen Explosion. Hans wusste nicht mehr, wie lange er nach ihr suchte, er hatte jegliches Zeitgefühl verloren.
Leo Schwartz war wenige Minuten nach Krohmers Anruf auf dem Christkindlmarkt eingetroffen. Er wartete auf die Sprengstoffspürhunde, die nach einer halben Stunde eintrafen und ihre Runden drehten. Krohmer und Schenk mussten ausschließen, dass sich eine weitere Bombe auf dem Gelände befand, bevor sie den Rettungskräften erlauben konnten, bis ins Zentrum der Explosion vorzudringen. Bis dahin kümmerten sie sich um die Verletzten, die sich in Sicherheit gebracht hatten. Endlich gaben die Hundeführer Entwarnung, was Leo mit Erleichterung aufnahm. Der 50-jährige, 1,90 m große Schwabe stand fassungslos vor der zerstörten Bude. Zwei Sanitäter waren ihm gefolgt und fanden zum Glück keine Verletzten mehr, Passanten hatten sie in Sicherheit gebracht. Über drei Leichen waren von unerschrockenen Helfern Tücher gelegt worden. Leo wies sich dem überforderten Uniformierten gegenüber aus und besah sich die Gesichter der Leichen. Die waren so sehr entstellt, dass man nur aus den Kleidungsfetzen erkennen konnte, ob es sich um Männer oder Frauen handelte. Sie hatten es mit zwei toten Männern und einer Frau zu tun. Um wen es sich dabei handelte, musste später festgestellt werden. Leos Kollege Werner Grössert war nun ebenfalls vor Ort und übernahm die Aufgabe, die verstörten Zeugen zu befragen. Der 40-jährige Werner hatte auch heute wieder einen sehr teuren Anzug an und passte optisch nicht in dieses chaotische Umfeld.
Friedrich Fuchs, Leiter der Spurensicherung, hatte den Tatort weiträumig abgesperrt und machte sich mit seinen Leuten sofort an die Arbeit. Es war lange her, dass er es mit einer Bombe zu tun hatte. Jetzt galt es, jede noch so kleine Kleinigkeit zu sichern, um damit eventuell die Herkunft einzelner Bauteile nachweisen zu können. Jeden Polizisten, der ihn mit Fragen löcherte und ihn bei seiner Arbeit störte, verwies er schroff hinter die Absperrung und verweigerte jegliches Gespräch. Sahen die nicht, dass seine Arbeit wichtig war?
Leo kannte Fuchs schon lange und ließ ihn in Ruhe. Wo war Hans? Hatte Krohmer nicht gesagt, dass er den Christkindlmarkt besucht und die Detonation mitbekommen hatte? Leo sah sich um. War das dort hinten nicht sein Freund und Kollege? Doch! Das war er. Zielstrebig lief er auf ihn zu und blieb wenige Schritte vor ihm stehen. Was war los mit Hans? Er rief ununterbrochen den Namen Rita und schien sie überall zu suchen.
„Hans? Was ist los mit dir?“
„Ich kann meine Rita nicht finden. Sie wollte uns einen Glühwein holen, weil sie eine Wette verloren hat. Sie ist verschwunden. Ich muss sie doch finden!“ Hans war vollkommen aufgelöst.
„Wo wollte Rita den Glühwein holen? Von welcher Bude?“
„Die gibt es nicht mehr, dort habe ich schon nachgesehen. Rita war nicht dort. Sie hat sich ganz bestimmt erschrocken und ist davongelaufen.“
„Sie wird schon auftauchen, keine Sorge. Sieh mich an. Hans? Bist du in Ordnung?“ Jetzt, wo er in das vertraute Gesicht seines Freundes und Kollegen Leo sah, beruhigte er sich. Er nahm den Schal vom Gesicht und atmete mehrmals durch. „Geht es wieder? Bist du in der Lage, die Arbeit aufzunehmen?“
Hans nickte nur. Natürlich musste er arbeiten. Bis jetzt hatte er nur nach seiner Freundin gesucht und schämte sich jetzt fast dafür. Leo hatte Recht. Rita war irgendwo in Sicherheit und er musste dringend seiner Arbeit nachgehen.
„Ich habe mit dem Einsatzleiter da vorn gesprochen. Wir haben es mit 14 Verletzten zu tun, vier davon schwer.“
„Keine Toten?“
„Drei Leichen. Zwei Männer, eine Frau. Sie liegen noch am Tatort. Willst du sie sehen?“
„Muss nicht sein, es gibt Wichtigeres.“ Leo und er schlossen sich Werner an, der allein mit den Befragungen der Zeugen überfordert war. Viele behaupteten, weder etwas gesehen, noch gehört zu haben. Die meisten von ihnen waren total geschockt. Erfahrungsgemäß fielen dem einen oder anderen doch einige Kleinigkeiten auf, die für die Ermittlungen von enormer Wichtigkeit sein konnten. Nach zwei Stunden war der Christkindlmarkt wie leergefegt. Alle Zeugen, Besucher, Verletzte und Schaulustige waren verschwunden. Nur noch die Polizeibeamten waren bei der Arbeit. Schenk und Krohmer hatten veranlasst, dass die spontan verlassenen Buden bewacht wurden, da sie Plünderungen nicht auch noch brauchen konnten. Vor allem musste die Presse davon abgehalten werden, sich dort herumzutreiben. Nein, es war besser, den ganzen Kapellplatz abzusperren und bewachen zu lassen.
Dann wurden die Leichen abtransportiert. Leo, Hans und Werner standen zusammen und beobachteten die Arbeit. Von einer Bahre rutschte etwas herunter. Es fiel nur zwei Meter entfernt von den Kripobeamten auf den Boden.
„Was ist das?“ Werner griff danach. „Ein Lebkuchenherz. Gehört wohl der Toten.“
Hans hatte das Lebkuchenherz sofort wiedererkannt. Er ging zu der Toten und schlug das Tuch zur Seite: Rita!
3.
„Was haben wir?“ fragte Krohmer Fuchs, der endlich den Bericht fertig hatte. Es war 5.30 Uhr des 28. Novembers und allen war die Anstrengung der vergangenen Nacht anzusehen.
Fuchs holte weit aus und warf mit Fachbegriffen um sich. Er war stolz auf die Arbeit seiner Leute, die ohne eine Pause gearbeitet hatten. Trotzdem waren die anderen genervt von den langen Ausführungen.
„Wir haben es also mit einer selbstgebastelten Rohrbombe zu tun, die hinter der Bude platziert wurde. Konnten Teile davon sichergestellt werden, die auf den Täter schließen lassen?“
„Nein.“
„Braucht man Fachkenntnis für diese Bombe?“
„Nein. Anleitungen hierzu findet man zuhauf im Internet.“
„Das sollte verboten werden!“ Werner Grössert war außer sich. Er ärgerte sich schon lange über die frei zugänglichen Seiten des Internets, die mit gefährlichem Inhalt voll waren.
Krohmer und Schenk gingen nicht darauf ein. Auch ihnen waren diese Internetseiten ein Dorn im Auge. Aber wie sollten sie denen zu Leibe rücken? Die meisten Server befanden sich im Ausland und mit den dortigen Behörden zu arbeiten war ein Witz. Bis Anträge und Zuständigkeiten durch waren, befanden sich die betreffenden Seiten längst nicht mehr online, dafür wurden andere freigeschaltet. So segensreich das Internet auch war, so unheilbringend war es auch.
„Gab es Bekennerschreiben? Irgendwelche Hinweise auf ein bevorstehendes Attentat?“
„Nichts, rein Garnichts,“ sagte Schenk verzweifelt. Er hatte sich zusammen mit Krohmer die ganze Nacht damit beschäftigt. Sie befürchteten, irgendwas übersehen oder nicht ernst genommen zu haben und beide somit eine Mitschuld an dem ganzen Desaster zu haben. Aber das war nicht der Fall.
„Das kann doch nicht sein,“ schrie Hans verzweifelt. „Solche Bombenanschläge werden entweder angekündigt oder es bekennt sich jemand nach dem erfolgreichen Anschlag dazu. Irgendjemand muss doch die Verantwortung übernehmen.“
„Das ist nicht immer so Hans,“ sagte Leo, der großes Mitleid mit Hans hatte. „Denk doch an den Bombenanschlag 1980 während des Oktoberfestes in München. Bis heute weiß man nicht, wer tatsächlich dahintersteckt. Eine Sonderkommission hat die Ermittlungen erst kürzlich neu aufgenommen, weil damals nicht alle Spuren verfolgt wurden.“
„Stimmt, der Kollege Schwartz hat Recht! Wir müssen nochmals mit allen Zeugen sprechen. Mehr haben wir nicht.“
„Was ist nun mit dem Christkindlmarkt Altötting? Die Veranstalter und die Stadt selbst haben mehrfach angefragt, ob trotz allem der Christkindlmarkt weiterlaufen soll.“
„Spinnen die? Es sind drei Menschen getötet worden und viele wurden verletzt. Und die wollen einfach so tun, als wäre nichts passiert?“
„Seien Sie nicht ungerecht, Kollege Hiebler. Sollen wir uns dem Terror geschlagen geben? Sollen Spinner unser Leben so weit beeinflussen, dass wir uns nach denen richten? Ich für meinen Teil gebe grünes Licht, dass der Christkindlmarkt weiterlaufen soll. Warum auch nicht?“ Krohmer war kein Freund davon, sich von einzelnen Idioten einschränken zu lassen. Natürlich war das viel verlangt und kam bei vielen auch bestimmt nicht gut an. Es entbrannte eine heftige Diskussion darüber. Einige waren dafür, andere dagegen. Schlussendlich musste Schenk als zuständiger Polizeichef die Empfehlung an die Stadt Altötting und die Veranstalter übergeben. Wie die zuständigen Stellen letztendlich entschieden, war dann deren Problem.
„Ich stimme dem Kollegen Krohmer zu. Auch ich plädiere dafür, dass der Christkindlmarkt fortgeführt wird und werde das auch so weiterleiten. Allerdings unter der Auflage einer starken Polizeipräsenz und mit Einsatz von Sprengstoffspürhunden.“
Krohmer hob die Besprechung auf, bat aber noch um ein Gespräch unter vier Augen mit dem Kollegen Hans Hiebler.
„Ich habe erfahren, dass Ihre Freundin eines der Todesopfer ist. Mein aufrichtiges Beileid Herr Hiebler. Ich hoffe Sie verstehen, dass ich Sie nicht bei den Ermittlungen dabeihaben möchte. Sie sind befangen und ich fürchte, dass Sie dem was folgt nicht gewachsen sind. Gehen Sie nach Hause und ruhen Sie sich aus.“
„Das können Sie vergessen Chef. Klar schmerzt mich der Verlust meiner Freundin, keine Frage. Aber ich möchte denjenigen finden, der das zu verantworten hat. Sie können und dürfen mich nicht außen vorlassen. Das ertrage ich nicht! Und was soll ich zuhause machen? Rumsitzen und Trübsal blasen?“
„Ich verstehe Ihre Lage, aber mir sind die Hände gebunden. Wenn der Staatsanwalt davon erfährt, bekomme ich riesigen Ärger. Sie wissen genau, dass ich mit Eberwein auf Kriegsfuß stehe.“ Es war wirklich kein Geheimnis, dass sich Krohmer und Eberwein regelmäßig überwarfen und viele amüsierten sich darüber. Es war nicht selten, dass sich die beiden auch privat über den Weg liefen und auch bei diesen Gelegenheiten hielten sie sich mit ihrer Antipathie nicht zurück.
Hans war verzweifelt. Er stand kurz davor, untätig zuhause sitzen zu müssen, während seine Kollegen den Wahnsinnigen suchten, der seine Rita auf dem Gewissen hat. Er musste den Chef umstimmen. Denk nach!
„Wir sind durch den Weggang von Viktoria nur noch zu dritt. Wenn ich jetzt auch noch gehe, sind Leo und Werner völlig aufgeschmissen. Diesen Anschlag zu zweit zu bearbeiten wäre der Wahnsinn!“ Krohmer begann zu überlegen und Hans setzte noch einen drauf. „Machen wir einen Deal: Bis Verstärkung kommt, bin ich dabei.“
„Einverstanden. Sie versprechen mir, dass Sie sich klaglos zurückziehen, wenn Verstärkung hier ist?“
Hans nickte und wusste genau, dass er sich sowieso nicht daran halten würde. Offiziell war er jedenfalls noch dabei, danach würde er weitersehen.
4.
Der Bombenanschlag zur Eröffnung des Christkindlmarktes Altötting schlug riesige Wellen. Die Tageszeitungen waren voller Bilder, Kommentare und Zeugenberichten. Viele Fernseh- und Radioübertragungswagen waren vor Ort, belästigten alle möglichen Passanten und verstopften mit ihren Fahrzeugen die sowieso schon enge Innenstadt. Der Termin der Stadtratssitzung zur weiteren Vorgehensweise im Falle Christkindlmarkt war durchgesickert und das Rathaus war voller Journalisten und Fernsehteams.
Waldemar Schenk war der Einladung des Bürgermeisters zu der außerordentlichen Sitzung gefolgt. Er hatte darum gebeten, dass ihn Krohmer begleitete. Unter den Anwesenden herrschte Hektik und Unbehagen. Es war offensichtlich, dass alle durch den Anschlag völlig überfordert waren. Schenk und Krohmer hörten sich die Vorwürfe und Seitenhiebe an, die allesamt total daneben waren. Wie hätte die Polizei diesen Anschlag im Vorfeld verhindern sollen? Nichts wies darauf hin.
„Wir beruhigen uns jetzt alle. Mit Schuldzuweisungen kommen wir doch nicht weiter. Wie wir bereits mehrfach betont haben, lagen der Polizei keine Hinweise auf einen Anschlag vor.“
„Hätte eine stärkere Polizeipräsenz das nicht verhindern können?“ rief ein Stadtrat aufgebracht ein.
„Warum hätten wir präsenter sein sollen? Nochmals: Wir hatten zu keiner Zeit einen diesbezüglichen Hinweis vorliegen. Können wir uns darauf einigen, dass auch wir von den Ereignissen völlig überrascht wurden? Einen solchen Anschlag gab es in unserem Zuständigkeitsbereich noch nie. Wir sollten uns jetzt alle beruhigen und überlegen, wie wir weiter verfahren. Wie gehen wir mit den Medien um?“ Krohmer war wie sein Kollege Schenk nicht scharf darauf, sich mit diesen auseinanderzusetzen. Das kostete nur unnötig Nerven und Zeit. Außerdem hatten sie beide schon die Erfahrung gemacht, dass nur das gesendet wird, was interessant genug und oft völlig aus dem Zusammenhang gerissen wurde.
„Das übernehme ich,“ sagte der Stadtrat Krautwein, dem außer einer gutgehenden Gaststätte auch noch viele Immobilien in der Innenstadt gehörten. Krautwein war mediengeil und nutzte jede Gelegenheit, sich selbst in den Mittelpunkt zu rücken. Die anderen reagierten genervt. Immer dieser Krautwein! Eigentlich wäre das die Aufgabe des Bürgermeisters gewesen, der aber ebenfalls gerne darauf verzichtete.
„Gut, dann kümmern Sie sich darum Herr Krautwein,“ sagte Schenk, dem ganz andere Dinge wichtig waren. „Was haben Sie für die Fortführung des Christkindlmarktes geplant? Ich habe mich mit dem Kollegen Krohmer auseinandergesetzt und von unserer Seite geben wir grünes Licht.“
Jetzt entbrannte abermals eine heftige Diskussion unter den Anwesenden. Die einen waren für einen Abbruch und fanden schon allein die Idee der Fortführung als Affront den Toten und Verletzten gegenüber. Andere wollten die Fortführung mit allen Mitteln erzwingen.
Schenk und Krohmer war die Diskussion zuwider. Die Entscheidung war nicht ihr Problem, sie mussten nur mit ihr leben. Wenn der Christkindlmarkt fortgeführt wurde, bedeutete das eine höhere Polizeipräsenz.
Die Entscheidung war gefallen: Der Christkindlmarkt wird fortgeführt. Die Argumente dafür waren einfach zu schwer, als dass man sie ignorieren könnte. Viele Vereine und Gruppen haben sich angekündigt, die ihrerseits auf Nachfrage trotz des Anschlags kommen wollten. Nur die Honoratioren wollten sich die Teilnahme an der Schlussveranstaltung am 20. Dezember noch überlegen. Die Diskussion zog sich noch lange hin. An deren Anschluss stellte sich der Stadtrat Krautwein der Presse und gab freimütig und ausführlich Auskunft. Krautwein war sich sicher, dass er morgen in allen Medien erscheinen würde.
Die Spurenlage war recht dürftig. Bei der selbstgebastelten Rohrbombe wurden keine verwertbaren Spuren gefunden. Auch die Auswertungen der verschiedenen Überwachungskameras, um die sich Fuchs mit seinen Mitarbeitern kümmerte, waren wertlos. Wegen den vielen, dichtgedrängten Menschmassen des Christkindlmarktes konnte lediglich vermutet werden, wann die Bombe an der fraglichen Hütte platziert worden war.
Selbstverständlich gingen die Ermittlungen zuerst in die Richtung des Budenbetreibers, der in Altötting wohnte. Der 62-jährige, gebürtige Grieche Dimitri Salonakis betrieb früher ein griechisches Lokal, das er wegen eines Herzleidens vor sechs Jahren leider aufgeben musste. In den letzten fünf Jahren war die Teilnahme am Christkindlmarkt eine willkommene Abwechslung für ihn. Der Tod des überall beliebten Griechen löste in der Altöttinger Bevölkerung zusätzlich eine Welle der Bestürzung aus. Leo und Hans suchten die Witwe und die beiden erwachsenen Söhne zuhause auf.
„Hatte Ihr Mann Feinde? Wurde er bedroht? Gab es in letzter Zeit irgendwelche Auseinandersetzungen?“
„Dimitri war eine Seele von Mensch und hat niemandem etwas getan. Er war überall beliebt und die Menschen haben ihm gerne ihre Sorgen anvertraut, er hatte immer für alle ein offenes Ohr.“ Olivia Salonakis war gebürtige Polin, das hatten die Polizisten im Vorfeld herausgefunden. Die hübsche, blonde Frau wirkte sehr gefasst und gab sich Mühe, hochdeutsch zu sprechen. „Obwohl mein Mann noch sehr viel Familie in Griechenland hatte, war hier sein Lebensmittelpunkt. Er liebte Bayern und die Traditionen. Er hat damals darauf bestanden, unsere Söhne Josef und Matthias zu nennen, bayrische Traditionsnamen. Ich kann mir nicht vorstellen, warum gerade unser Stand Ziel eines Anschlags wurde.“
„Denk doch nach Mama,“ sagte Matthias Salonakis. Der 22-jährige Mann lümmelte in einem Sessel und hielt sein Handy in der Hand. „Papa war Grieche! Siehst du keine Nachrichten? Durch die andauernden Flüchtlingsströme sind Ausländer das Ziel des Hasses geworden.“
„Das glaube ich nicht,“ mischte sich Josef Salonakis ein. „Papa war mehr Deutscher als Grieche. Ich denke, dass es reiner Zufall war, dass es gerade unsere Bude getroffen hat. Wie viele andere auch bin ich der Meinung, dass sich irgendein Idiot am Christkindlmarkt selbst gestört hat und seine Wut durch eine Bombe zum Ausdruck gebracht hat.“ Josef Salonakis war ganz anders als sein Bruder. Er war ruhig, hatte gütige Augen und ein sanftes, porzellanartiges Gesicht. Er saß direkt neben seiner Mutter und hielt ihre Hand. Die Polizisten wussten bereits vor ihrem Besuch, dass Josef Rechtswissenschaften studierte, während Matthias eine Ausbildung zum Kfz-Mechaniker absolvierte.
Nun entbrannte eine heftige Diskussion innerhalb der Familie Salonakis, die immer lauter wurde. Vor allem die resolute Olivia nahm kein Blatt vor den Mund und gab ihrem Sprössling Matthias kräftig contra. Es war unverkennbar, dass Matthias ganz nach seiner Mutter kam.
Auch die Kriminalpolizei hatte an einen ausländerfeindlichen Anschlag gedacht. Allerdings bekannten sich danach immer irgendwelche Gruppen und prahlten mit ihrer Tat. Diesmal gab es nichts, absolut nichts.
Die Familie Salonakis erlaubte, dass Leo und Hans den Laptop und das Handy des Toten mitnahmen. Vielleicht gab es darauf Informationen, die sie weiterbrachten. Fuchs nahm sich beides sofort vor und musste die Kriminalbeamten enttäuschen: Das Handy zeigte nur Verbindungen zu Familienmitgliedern und der Laptop wurde nicht häufig benutzt. Die wenigen aufgerufen Seiten waren harmlos und unverfänglich.
Die Möglichkeit des ausländerfeindlichen Hintergrundes konnte nicht bestätigt werden, was Waldemar Schenk zufriedenstellte. Es gab in der Vergangenheit keine ausländerfeindlichen Auffälligkeiten, auch nicht seit den massiven Flüchtlingsströmen, mit denen vor allem Bayern zu kämpfen hatte. Hier war der gemütliche Lebensstil und die positive Einstellung der Bevölkerung von Vorteil.
Der Christkindlmarkt Altötting wurde nach zwei Trauertagen, die auch für Aufräumarbeiten genutzt wurden, fortgeführt. Nach anfänglicher Entrüstung in der Bevölkerung ging man schnell zur Tagesordnung über. Waldemar Schenk hatte für eine ständige Polizeipräsenz gesorgt, die allgemein sehr gut angenommen wurde und womit die Christkindlmarkt-Besucher sich sehr viel sicherer fühlten. Das Medieninteresse ließ zum Leidwesens Krautweins stark nach. Niemand interessierte sich mehr für den Bombenanschlag, den man allgemein als Tat eines Irren abtat, den die Polizei wohl niemals finden würde.
Krohmer und Schenk standen im ständigen Kontakt mit den nun überall veranstalteten Weihnachts- und Christkindlmärkten. Auch dort sorgten sie für Polizeipräsenz, auch wenn sie bei kleineren Veranstaltungen nur aus einem Polizisten bestand. Der Personalaufwand stieß an seine Grenzen und trotz der vielen Urlaubsanträge musste Schenk eine Urlaubssperre aussprechen; bereits schon die zweite in diesem Jahr. Das gab Ärger, den er aber für die Sicherheit gerne in Kauf nahm.
5.
Die Vorbereitungen des Weihnachtsmarkts in Mühldorf am Inn, der dieses Jahr vom 3. bis 6. Dezember stattfand, liefen auf Hochtouren. Wie jedes Jahr war der Haberkasten Veranstaltungsort des ebenfalls weit über die Grenzen beliebten Weihnachtsmarktes. Der frühere Getreidespeicher aus dem 15. Jahrhundert und seit dessen Umbau 1996 Kulturzentrum der Stadt Mühldorf, war voller Buden und Stände. Die Betreiber hatten ihre Waren bereits eingeräumt, morgen ging es endlich los. Krohmer hatte auf besonderen Wunsch des Bürgermeisters zwei Polizisten eingeteilt, was diesem aber nicht genügte.
„Ich werde den Weihnachtsmarkt morgen persönlich eröffnen. Außer der Mühldorfer Bevölkerung und den vielen Gästen aus dem Umland sind heuer einige Besucher der Partnerstädte und natürlich meine ganze Familie anwesend. Ich verlange, dass ein Sprengstoffspürhund vorab seine Runden dreht. Nicht auszudenken, was passiert, wenn auch bei uns eine Bombe hochgeht.“ Der Bürgermeister hatte Angst, große Angst.
„Jetzt mal ganz ruhig. Nur, weil in Altötting eine Bombe gezündet wurde, muss das nicht zwangsläufig in Mühldorf auch passieren. Wie Sie wissen, läuft der Altöttinger Christkindlmarkt seit 30.11. reibungslos weiter. Ich verspreche Ihnen, dass wir alles vorher abchecken.“
Krohmer orderte einen Sprengstoffspürhund aus Landshut an, da der Bürgermeister darauf bestand. Was sollte er tun?
„Der Hundeführer ist morgen gegen 10.00 Uhr bei Ihnen,“ versprach der Landshuter Kollege.
Tags darauf war der Hundeführer pünktlich vor Ort und Leo begleitete ihn und dessen Hund, nachdem alle Budenbetreiber und Schaulustige des Platzes verwiesen worden waren. Der Hund ging seiner Arbeit nach und auch der Hundeführer war sehr konzentriert und beobachtete seinen Vierbeiner genau. Leo trottete gelangweilt hinterher. Er interessierte sich nicht für die Arbeit des Hundeführers und dessen Hund, daher sah er sich um. Für ihn sahen alle Weihnachtsmärkte gleich aus, er war kein großer Freund davon. Fast an jedem Stand gab es Glühwein, irgendetwas Essbares und Weihnachtsnippes in Hülle und Fülle. Wann war er als Besucher das letzte Mal auf einem Weihnachtsmarkt gewesen? Das war vor einem Jahr, als er noch mit Viktoria zusammen war und sie darauf drängte, zumindest einen kleinen Spaziergang über den Christkindlmarkt Altötting zu machen. Als er an Viktoria dachte, gab es ihm einen Stich in der Magengrube. Wie es ihr in Berlin wohl erging? Kam sie dort zurecht? Wurde sie akzeptiert? Fühlte sie sich wohl? Hatte sie vielleicht schon einen Neuen gefunden? Leo wischte die düsteren Gedanken davon, die zum Glück immer seltener wurden, denn anfangs hatten ihn die Fragen fast verrückt gemacht. Viktoria war weg und er konnte nichts mehr daran ändern. Er sollte sich endlich an die Situation gewöhnen.
Der Hundeführer blieb plötzlich stehen, da auch sein Hund stehengeblieben war.
„Was ist los?“
„Der Hund hat etwas gefunden. Hier in diesem Fass muss Sprengstoff sein.“
Leo wollte widersprechen, denn er glaubte einfach nicht daran. Aber er sah das besorgte Gesicht des Hundeführers, das Bände sprach. Leo rief die Kollegen und dann ging alles ganz schnell. Während ein Sprengkommando eigens aus Landshut hinzugezogen wurde, sorgte die Polizei dafür, dass weiträumig abgesperrt und evakuiert wurde. Der Haberkasten stand mitten in einem dichtbesiedelten Wohngebiet, hier musste die Polizei reagieren. Noch war nicht klar, ob hier tatsächlich eine Bombe war. Und wenn ja: Wie hoch war deren Sprengkraft?
Die Polizisten waren alle bis aufs Äußerste angespannt, denn auch sie fürchteten um ihr Leben und schützten sich notdürftig mit einer schusssicheren Weste, einem Helm und einem Schild, hinter dem sie sich im Ernstfall verstecken konnten. Das Warten auf die Landshuter Kollegen schien schier unendlich zu sein. Endlich rückten die Spezialisten an und machten sich an die Arbeit. Nach einer gefühlten Ewigkeit kam die Entwarnung.
„Das hübsche Ding hier lag in dem Fass, der Hund hat eine sehr gute Nase. Die Bombe könnte gefährlich sein, wenn sie einen Zünder hätte,“ sagte der Mann mit einem Lächeln und zeigte auf die Rohrbombe, die auf dem Boden lag. „Selbstgebastelt. Obwohl der Zünder fehlt, war kein Stümper am Werk. Der Bastler wusste, was er machte.“
„Sie meinen, er hat den Zünder mit Absicht nicht angebracht?“
„Das meine ich, ja. Hier wollte jemand allen einen gehörigen Schrecken einjagen, was ihm ja auch gelungen ist. Wir sind soweit fertig und räumen alles weg. Ich würde vorschlagen, dass der Hund nochmals eine Runde dreht. Nicht, dass hier noch eine Bombe versteckt ist und wir nochmal gerufen werden. Wo wir nun schon mal hier sind…“ Der Mann lachte laut, der hatte echt einen makabren Humor.
Der Sprengstoffspürhund drehte noch eine Runde und alle Beteiligten sahen ihm mit Argwohn und großem Abstand zu. Aber diesmal schlug der Hund nicht an. Der Hundeführer gab grünes Licht und nun konnten alle Betreiber mit einem flauen Gefühl im Magen in ihre Buden zurück. Die ganze Aktion hatte sehr viel Zeit gekostet. Nur noch eine halbe Stunde und der Weihnachtsmarkt wurde offiziell eröffnet. Sollten die Polizisten den Bürgermeister informieren? Leo rief Krohmer an.
„Da hat sich wohl einer einen dummen Scherz erlaubt,“ schrie Krohmer wütend und erleichtert zugleich.
„Sollen wir den Bürgermeister informieren?“
„Nein, das regt den nervösen Mann nur noch mehr auf und er redet vielleicht noch Unsinn in seiner Ansprache. Gleich danach werde ich ihn informieren, das reicht vollkommen.“
Die Ansprache des Bürgermeisters war blumig und gespickt mit guten Wünschen. Noch bevor Krohmer mit ihm sprechen konnte, erfuhr er von der vermeintlichen Bombe von einem Budenbetreiber, bei dem er seinen ersten Glühwein trank.
„Und das konnten Sie mir nicht früher berichten?“ schnauzte der Bürgermeister Krohmer an, nachdem der endlich in Ruhe mit ihm sprechen konnte.
„Diese Bombe hätte nie hochgehen können, sie hatte keinen Zünder,“ versuchte Krohmer zu erklären. „Ich habe Verstärkung angeordnet. Sie brauchen sich keine Sorgen machen, wir haben alles im Griff.“ Aber der Bürgermeister war nicht an der Erklärung interessiert. Er suchte seine Familienangehörigen und machte, dass er so schnell wie möglich von hier wegkam.
Eine Bombe auf seinem Weihnachtsmarkt! Diese Tatsache ließ den Bürgermeister während der restlichen Tage Dauer des Marktes nicht in Ruhe. Er konnte erst wieder durchatmen und ruhig schlafen, als der Weihnachtsmarkt offiziell beendet wurde und alle Budenbetreiber den Haberkasten verlassen hatten. Von da an war der Bürgermeister in ständiger Verbindung mit Krohmer. Natürlich wusste er, dass er nervte. Aber schließlich hatte ein Verrückter seinen Weihnachtsmarkt bedroht und dieser Typ musste unbedingt aus dem Verkehr gezogen werden. Auch Tage nach Ende des Weihnachtsmarktes kursierten über den vermeintlichen Bombenanschlag die wildesten Gerüchte. Nächstes Jahr waren Wahlen. Es würde für ihn sprechen, wenn er den Mühldorfern den Täter präsentieren könnte – und diese Chance wollte und musste er nutzten. Was interessierte es ihn dabei, ob er Krohmer auf die Nerven ging?
6.
Hans Hiebler war am Boden zerstört. Die Beerdigung seiner Rita, die nicht in Altötting, sondern in deren Heimatstadt Basel stattfand, war sehr ergreifend. Obwohl Hans nicht ein Familienmitglied, einen Freund, Bekannten oder Nachbarn kannte, hatte es sich herumgesprochen, dass er mit der Verstorbenen vor deren Tod zusammen war. Von allen Seiten wurde ihm kondoliert, wurde er umarmt oder man sprach mit ihm. Er schämte sich und fühlte sich fehl am Platz, denn eigentlich kannte er die Frau erst wenige Wochen und wusste nicht viel von ihr. Was war ihre Lieblingsfarbe? Hatte sie Geschwister? Wie wuchs sie auf? Alles Dinge, die man erst mit der Zeit vom anderen erfuhr. Zeit, die ihnen nicht gegeben war.
Rita war offensichtlich sehr beliebt gewesen war, was Hans den Abschied noch schmerzlicher machte. Er musste weg hier, und zwar so schnell wie möglich. Seit seiner Ankunft gestern in Basel wurde er überall auf Rita und deren schrecklichen Tod angesprochen. Alle wussten, dass er bei der Kriminalpolizei war, Rita hatte es allen erzählt. Davon wusste er nichts. Sie war stolz auf ihren neuen Freund gewesen. Beinahe jeder erkundigte sich nach dem aktuellen Ermittlungsstand, vor allem Ritas Familie, die förmlich an seinen Lippen hing. Was sollte er sagen? Dass sie bis jetzt absolut nichts hatten? Dass eine Bombe ohne Zünder auf einem anderen Weihnachtsmarkt deponiert wurde? Stattdessen gab er Phrasen von sich, wofür er sich schämte. Noch am Abend der Beisetzung packte er seine Sachen und fuhr nach Hause. Aber was sollte er dort? Wieder allein in seiner Bude sitzen und Trübsal blasen? Aber wo sonst sollte er hin? Sein Weg führte ihn zu seinem Freund und Kollegen Leo, dem es auch nicht gut ging. Seine Lebensgefährtin Viktoria Untermaier hatte ihn vor wenigen Wochen wegen einem lukrativen, interessanten Job in Berlin verlassen. Seitdem war Leo nicht mehr derselbe. Er zog sich zurück und lachte kaum noch. Hans hatte lange versucht, ihm beizustehen und ihn zu trösten, aber Leo ließ es nicht zu. Jetzt waren sie beide in einer ähnlichen Situation.
Als Hans auf den Hof seiner Tante fuhr, auf dem Leo den obersten Stock gemietet hatte, war Tante Gerade mit dem Hofhund Felix gerade beim Holz holen. Nachdem er sie schweigend umarmt hatte, trug er den schweren Korb ins Haus. Die 74-jährige Tante Gerda war eine Seele von Mensch. Hans kannte niemanden, der sie nicht mochte. Sie wusste Bescheid.
„Wie geht es Dir? Wie war die Beisetzung?“
„Frag nicht. Ist Leo da?“
„Er sitzt in seiner Wohnung und leidet. Seit Viktoria weg ist, hat er sich in sein Schneckenhaus zurückgezogen.“
Tante Gerda sah ihrem Neffen hinterher. War es eine gute Idee, wenn zwei Trauerklöße beieinandersaßen? Sie wusste in solchen Dingen auch keinen Rat und hoffte darauf, dass bei beiden der Schmerz mit der Zeit leichter werden würde. Tante Gerda heizte den Kachelofen ein, denn sie hatte noch viel zu tun. Ihre Walkinggruppe hatte einen Stand auf dem Weihnachtsmarkt auf Schloss Tüßling, an dem sie Schmalzgebäck und Glühwein verkauften, dessen Erlös Flüchtlingsfamilien zugutekommen soll. Wie die Tage zuvor auch gab sie in der Küche ihr Bestes.
Nach kurzem Anklopfen ging Hans einfach in Leos Wohnung, die nur selten abgeschlossen war. Leo stand wortlos auf, holte ein Glas und schenkte Rotwein ein.
„Die wievielte Flasche ist das?“
„Warum interessiert dich das? Bist du meine Mutter? Wenn ich genug intus habe, kann ich wenigstens schlafen. Wie war die Beerdigung?“
„Wie soll sie schon gewesen sein? Rita hatte eine riesige Familie und einen noch größeren Freundeskreis. Was denkst du denn, wie man sich fühlt, wenn von allen Seiten kondoliert wird und man sich nach dem Ermittlungsstand erkundigt.“
„Sie wussten, dass du bei der Kripo bist?“
„Rita hatte es allen erzählt. Jeder wusste von mir und es war schrecklich, dass ich zusammen mit der Familie im Mittelpunkt stand. Man hatte sogar einen Platz in der ersten Reihe für mich reserviert. Kannst du dir vorstellen, wie ich mich gefühlt habe? Ich kannte Rita kaum! Wir waren erst kurze Zeit zusammen und ich muss ehrlich sein: Sie war nicht meine große Liebe und ich denke nicht, dass wir eine gemeinsame Zukunft gehabt hätten. Schon der große Altersunterschied wäre irgendwann zum Problem geworden, das sehe ich realistisch. Ich habe die Zeit mit ihr genossen, wohlwissend, dass wir keine Zukunft haben würden. Hätte ich das alles den Trauergästen sagen sollen? Ich komme mir so schäbig vor!“
„Kann ich mir vorstellen. Mach dir keine Vorwürfe. Jede Geschichte fängt irgendwann an. Gut, du kanntest sie kaum. Aber du warst dabei, als sie getötet wurde. Das wird dich auf ewig mit ihr verbinden. Glaub mir, du wirst sie niemals vergessen können.“
„Ich bin schuld an dem, was passiert ist. Ich wollte auf den Christkindlmarkt.“
„Hör auf damit! Tu dir das nicht an! Für das, was passiert ist, kannst du nichts – und damit Basta!“
„Gut. Aber nur, wenn du ebenfalls aus deiner Trauer um Viktoria endlich rauskommst und wieder anfängst, das Leben zu genießen. Die Frau ist weg, sie hat sich für die Karriere und gegen dich entschieden. Kapier das endlich! Und hör endlich auf, diesen billigen Fusel in dich reinzuschütten,“ sagte Hans angewidert, als er am Rotwein genippt hatte. „Hast du nichts Gutes im Haus?“
Jetzt musste Leo lachen. Auch ihm schmeckte der Rotwein nicht und er schüttete die Reste regelmäßig in den Ausguss. Er kaufte den Wein an der Tankstelle in Altötting. Dort war der Einkauf für ihn einfacher und angenehmer: Keine Menschenmassen und keine lange Wartezeit. Hans war ein Genussmensch, was sich nicht nur auf Frauen bezog. Er aß gerne gut und trank auch gerne etwas Gutes. Leo stand auf und holte die Champagnerflasche aus dem Kühlschrank, die er zu seinem 50. Geburtstag geschenkt bekommen hatte.
„Champagner?“
„Den habe ich für einen ganz besonderen Anlass aufgehoben. Ich finde, das ist jetzt ein besonderer Anlass.“
Weit nach Mitternacht war die Flasche leer. Sie sprachen lange und das gegenseitige Verständnis und das offene Ohr taten beiden gut. Hans machte es sich auf der Couch bequem und Leo konnte nach vielen Wochen endlich wieder gut schlafen…
Bewertungen
Es gibt noch keine Bewertungen.