Der 30. Fall aus der Leo-Schwartz-Krimireihe
1.
Die beiden Buben waren aufgeregt. Vor allem dem zehnjährigen Ludwig schlug das Herz bis zum Hals. Er hatte es geschafft. Obwohl sein Vater zu Hause war, hatte er all seinen Mut zusammengenommen und das Gewehr aus dem verschlossenen Schrank entwendet. Wo der Schlüssel dafür war, wusste er schon lange. Er hatte nicht gezögert und einfach zugegriffen. Sogar an die Munition hatte er gedacht, schließlich wollte er vor Ben nicht dumm dastehen. Die fand er in der untersten Schublade des Schreibtisches, die nicht abgeschlossen war. Ludwig hatte vor seinem vier Jahre älteren Freund damit geprahlt, dass es kein Problem für ihn wäre, an das Gewehr seines Vaters zu kommen. Ben hatte ihm nicht geglaubt, er hatte ihn sogar ausgelacht. Aber jetzt würde er nicht mehr lachen. Jetzt konnte er ihm ein echtes Gewehr samt Munition präsentieren, Ben wird Augen machen! Auch wenn er stolz auf sich sein könnte, hatte er ein schlechtes Gewissen, denn wenn sein Vater den Diebstahl entdeckte, würde die Strafe nicht lange auf sich warten lassen.
Ludwig schrieb seinem Freund eine Nachricht. Ben solle zu dem vereinbarten Treffpunkt im Altöttinger Forst kommen. Vor Tagen hatten sie diese Stelle ausfindig gemacht, die abgelegen genug war und wo sie niemand sehen konnte. Ludwig war schon lange vor seinem Freund an der Stelle, hielt sich aber im dichten Gestrüpp versteckt, das in den warmen Apriltagen bereits üppig zugewachsen war. Zum Glück regnete es heute nicht, was den Tag perfekt machte. Ungeduldig hielt Ludwig nach Ben Ausschau. Endlich sah er ihn, das wurde aber auch Zeit! Auch wenn es ihm schwer fiel, ließ er Ben einige Minuten warten, bis er aus seinem Versteck kroch und das Gewehr wie eine Trophäe in die Luft hielt.
„Du hast es?“ Ben empfing ihn mit weit aufgerissenen Augen.
„Das war ein Kinderspiel“, log Ludwig, der sich auch jetzt noch fast in die Hosen machte. Trotzdem freute er sich, dass er Ben überraschen konnte. Jetzt hielt ihn sein neuer Freund nicht mehr für ein kleines Kind.
Ben sah sich das Gewehr genauer an. Jede Einzelheit überprüfte er. Noch nie zuvor hatte er eine echte Waffe in der Hand gehabt. Er hatte dem kleinen Ludwig, der ihm seit Monaten auf Schritt und Tritt folgte, nicht geglaubt. Anerkennend klopfte er ihm auf die Schulter.
„Gut gemacht, Ludwig, das hätte ich dir nicht zugetraut. Hast du auch Munition dafür?“
„Klar.“ Ludwig reichte ihm die Schachtel, in der laut Aufdruck fünfzig Stück sein müssten. Das hätte er überprüfen sollen, wofür es jetzt zu spät war. Dem Gewicht zufolge war sie nicht leer, was zum Angeben völlig ausreichte. Seine Hände zitterten. Ob Ben das bemerkte?
Ben strahlte, mit Munition hatte er auch nicht gerechnet. Er hatte keine Ahnung, wie man ein Gewehr lud, aber er hatte viele Filme gesehen. Außerdem war er ein Fan von Videospielen, in denen viel geschossen wurde. Seine Mutter mochte das nicht, aber das war ihm egal. Wenn sie bei der Arbeit war oder mit Freunden im Wohnzimmer saß, hatte er jede Menge Zeit, die ihm verbotenen Spiele zu spielen. Aber das Gewehr in seiner Hand war etwas anderes, das war die Realität und hatte nichts mit irgendeinem Spiel zu tun.
Ludwig sah zu, wie sein Freund das Gewehr lud.
„Was hast du vor? Willst du wirklich schießen?“
„Wir ballern nur ein bisschen herum. Das darf ich doch, oder?“
„Klar.“
Die Munitionsschachtel war fast voll, es fehlten nur wenige Schuss. Erst waren Bäume das Ziel, dann nahmen sie sich Äste vor. Abwechselnd gaben sie einen Schuss nach dem anderen ab. Nachdem sie anfangs über die Lautstärke der Schüsse erschrocken waren, gewöhnten sie sich schnell daran. Bald war ihnen der Knall vertraut. Auch Ludwig lud das Gewehr und wurde immer sicherer mit dem Umgang der Waffe – und immer mutiger mit den Zielen.
„Ich versuche, den Vogel dort zu treffen“, sagte Ludwig und legte an.
„Den Vogel? Den triffst du niemals, der ist doch viel zu klein.“
„Das schaffe ich schon.“
Beide waren leise, sie wollten den Vogel nicht aufscheuchen. Ludwig zögerte. Sollte er wirklich ein Tier erschießen? Die Verlockung war groß, trotzdem hatte er Skrupel.
„Nun mach endlich“, drängelte Ben.
„Jetzt lass mich doch!“ Ludwig wollte den Vogel nicht mehr erschießen. Zum einen, weil er viel zu weit weg war, und zum anderen, weil er kein Mörder sein wollte. Er brauchte ein neues Ziel.
„Was überlegst du denn so lange? Drück endlich ab!“
Dann gab es einen lauten Knall, den Ludwig nicht verursacht hatte. Beide erschraken.
„Was war das?“
„Keine Ahnung“, schrie Ben hysterisch. „Vielleicht haben wir jemanden getroffen. Lass uns verschwinden!“
„Ich habe nicht geschossen, das weißt du genau!“, schrie Ludwig.
„Es ist etwas Schreckliches passiert, das kann ich spüren. Lass uns abhauen!“
„Reiß dich zusammen! Wir haben nichts gemacht!“
Jetzt war es Ludwig, der sehr viel vernünftiger und ruhiger reagierte, als der sonst so coole Ben, der sogar schon heimlich rauchte. „Ich bin mir sicher, dass der Knall von dort hinten kam. Vielleicht war das kein Schuss, sondern nur irgendein Knall, der sich ähnlich anhört.“
„Das war ganz sicher ein Schuss! Ich möchte nicht ins Gefängnis, ich will nicht!“ Jetzt heulte Ben auch noch. „Bitte lass uns von hier verschwinden!“
„Gut, wir gehen. Aber wir nehmen diesen Weg zurück.“
„Du willst dort vorbeigehen?“
„Ja.“ Ludwig war nicht so mutig, wie es den Anschein hatte. Er wollte sich vergewissern, dass das kein Schuss war. Der Knall musste eine andere Ursache habe. Und solange er sich davon nicht überzeugte, würde er keine Ruhe finden.
Das passte Ben zwar nicht, trotzdem gab er nach. Während Ludwig vorausging, heulte Ben nicht mehr, er schluchzte nur noch. Er begann zu beten, wobei ihm kein vernünftiges Gebet einfallen wollten. Wann waren sie endlich raus aus diesem verdammten Wald? Er schwor, nie wieder eine Waffe anzufassen, wenn alles gut ausgehen würde. Er malte sich die schlimmsten Szenarien aus und vermutete hinter jedem Baum und jedem Busch einen Schützen. Seine Gebete wurden immer lauter.
„Was faselst du denn die ganze Zeit?“, herrschte Ludwig ihn an. „Halt endlich die Klappe!“ Er ging ganz langsam und hielt dabei die Waffe im Anschlag. Ben ging ganz dicht hinter ihm.
„Wenn es stimmt, dass das ein Schuss war, dann könnte der Schütze immer noch hier sein. Wir sollten in Deckung gehen. Oder wir drehen um und verschwinden so schnell wie möglich.“
„Jetzt hör endlich auf mit dem Gejammer!“ Ludwig war selbst überrascht, wie mutig er auf einmal war. Das lag sicher auch an der Waffe, an der er sich festklammerte. Aber noch mehr lag es daran, wie sich Ben verhielt. Wer war denn jetzt das Kleinkind?
Es ging nur langsam voran. Ben sprach weiter leise alle Gebete, die ihm einfielen und ging Ludwig damit mächtig auf die Nerven. Dann blieb Ben auf einmal stehen.
„Was ist?“
„Da liegt jemand“, flüsterte er.
„Du spinnst doch! Komm jetzt, wir gehen weiter!“
„Nein, da hinten liegt jemand!“, schrie Ben hysterisch. Seine Stimme war erschreckend laut in dem sonst so stillen Wald.
Genervt drehte Ludwig um.
„Wo denn?“
„Da!“
Jetzt sah auch Ludwig ganz deutlich einen Arm und ein Bein, die unter dem Laub hervorlugten. Kalkweiß hob sich beides vom dunklen Waldboden ab. Ludwig ging darauf zu.
„Was machst du denn?“
„Ich will mir ansehen, ob das echt ist. Es könnte ja auch eine Puppe sein.“
Ben folgte ihm.
„Wer würde denn eine solch große Puppe unter Laub verstecken?“
„Keine Ahnung. Menschen sind verrückt, dass weißt du doch.“
Ganz langsam näherten sie sich der fraglichen Stelle. Je näher sie kamen, desto höher stieg die Angst, aber die Neugier war größer. Ludwig nahm das Gewehr und stieß vorsichtig gegen den Arm, der eindeutig einer Frau gehörte. Zart und dünn lag er auf dem kalten Boden. Dann klopfte Ludwig gegen den Arm. Zur Sicherheit stieß er auch vorsichtig gegen das Bein.
„Das ist kein Plastik.“
„Der ist echt, das habe ich doch gesagt“, schrie Ben. „Das ist keine Puppe.“
Jetzt kniete sich Ludwig neben die Leiche und begann, das Laub und die Äste zur Seite zu schieben.
„Was machst du da? Lass uns verschwinden!“
Aber Ludwig hörte nicht auf seinen Freund. An dieser Stelle müsste der Kopf der Frau sein. Als er das Gesicht sah, erschrak er. Die geöffneten Augen starrten ihn an. Unwillkürlich wich Ludwig zurück.
„Das ist Frau Giesinger“, stammelte er. „Sie hat ein Loch in der Stirn.“
„Du kennst die Frau?“
„Meine Englischlehrerin.“ Mehr konnte Ludwig nicht sagen, denn er musste sich übergeben.
Als Ben sich der Leiche näherte, das Gesicht und auch das Loch auf der Stirn sah, wurde ihm ebenfalls schlecht.
„Hauen wir ab!“, sagte Ben und drehte sich zu seinem Freund um. Fassungslos sah er zu, wie der sein Handy nahm.
„Was machst du?“
„Ich rufe die Polizei, was sonst.“
„Spinnst du? Wir haben ein echtes Gewehr und jede Menge Munition dabei. Wie willst du das erklären?“
„Das ist im Moment doch völlig egal! Hier liegt eine Leiche und das müssen wir der Polizei melden. Soll ich meine Lehrerin einfach hier im Wald liegenlassen?“ Unbeirrt wählte Ludwig die Notrufnummer, wobei er heftig zitterte.
Ben wurde hysterisch. Er schrie und weinte wie ein kleines Kind.
„Und wenn wir die Frau erschossen haben?“
„Haben wir nicht!“
„Und wenn doch? Wenn es einen Querschläger gab? Ich will nicht ins Gefängnis! Ich bin vierzehn und damit strafmündig!“
„Reiß dich jetzt endlich zusammen! Wir haben die Frau nicht getötet. Das hat jemand gemacht, der die Leiche auch zugedeckt hat.“
Das leuchtete Ben ein und er wurde ruhiger. Er bekam am Rande mit, wie Ludwig telefonierte. Es dauerte nicht mehr lange, und die Polizei war hier. Das gab auf jeden Fall Ärger zuhause, das war klar. Ob es auch rechtliche Konsequenzen gab?
Die beiden wurden durch ein Fernglas beobachtet. Auch, dass einer der Jungs telefonierte, wurde wohlwollend zur Kenntnis genommen. Sehr gut! Was für ein Glücksfall, dass die beiden Jungs Schießübungen machten. Die beiden hatten nicht gekniffen und hatten die Leiche wie geplant entdeckt. Nicht mehr lange, und es würde hier von Polizisten wimmeln. Es war Zeit, so schnell wie möglich zu verschwinden.
2.
Die Beamten der Mühldorfer Kriminalpolizei waren dreißig Minuten später am Tatort. Friedrich Fuchs, Leiter der Spurensicherung, war als erster am Fundort eingetroffen. Es war seit dem letzten Fall nicht viel los gewesen und er hatte sofort reagiert, als ihn die Nachricht erreichte. Ohne mit den Kindern auch nur ein Wort zu wechseln hatte er sofort das Gewehr an sich genommen. Ja, die Kinder hatten geweint und wollten mit ihm sprechen, aber dafür war er nicht qualifiziert und das war auch nicht seine Aufgabe. Er war froh, als endlich die Kollegen eintrafen. Fuchs hatte die Fundstelle der Leiche weiträumig abgesperrt und jedem verboten, auch nur einen Fuß in die abgesperrte Zone zu setzen.
Diana Nußbaumer, die neue Kollegin der Mühldorfer Kripo, schien hier völlig fehl am Platz zu sein. Heute war sie ganz in apricot gekleidet, was sich vom grün-braun des Waldes abhob. Das Etuikleid passte perfekt zu den hochhackigen Schuhen, der Handtasche, dem Schmuck und dem Band im blonden Haar. Ja, sie gab sich viel Mühe und legte sehr viel Wert auf ihr Äußeres, was aber Leo Schwartz gegen den Strich ging. Der Vierundfünfzigjährige mochte die Frau, aber mit diesem Spleen hatte er seine Probleme. Er verstand nicht, wie man Zeit und vor allem Geld in Outfits stecken konnte. Zufrieden bemerkte er die neidvollen Blicke der Kollegen, die offenbar sein neues T-Shirt mit dem Aufdruck von David Bowie bewunderten. Dazu trug er wie immer Jeans, seine Lederjacke und die Cowboystiefel, mit denen er nun durch den Dreck gehen musste. Vorsichtig achtete er auf jeden seiner Schritte, denn er hatte keine große Lust darauf, sie putzen zu müssen.
Der siebenundfünfzigjährige Hans Hiebler war leger gekleidet. Er sah immer so aus, als würde er sich gerade im Urlaub befinden, was auch an der Sonnenbrille lag, die er die meiste Zeit bei sich trug. Darüber hinaus umgab ihn auch heute wieder ein Duft, den vor allem Leo als sehr aufdringlich empfand. Da Hans bei dem herrlichen Wetter helle Slipper trug, war auch er von dem Ort des Einsatzes nicht begeistert.
Tatjana Struck war das völlig egal. Die Leiterin der Mordkommission stapfte mit ihren rustikalen Schuhen einfach drauf los. Die fünfundvierzigjährige gebürtige Frankfurterin war das genaue Gegenteil der neuen Kollegin. Sie kleidete sich zweckmäßig und ihr war es auch egal, dass heute ein dicker Kaffeefleck auf ihrem ungebügelten T-Shirt leuchtete.
„Ihr beide kümmert euch um die Jungs“, wandte sie sich an Leo und Diana. „Du kommst mit mir, Hans.“ Sie und Hans gingen direkt auf die Absperrung zu. „Was haben Sie für uns, Kollege Fuchs?“
Friedrich Fuchs verdrehte die Augen. Konnte man ihn nicht ein einziges Mal in Ruhe seine Arbeit machen lassen? Musste man ihn immer wieder stören, bevor er so weit war und einen umfassenden Bericht abgeben konnte? Aber mit Verständnis konnte er bei den Kollegen nicht rechnen, die waren immer in Eile. Warum? Die Leiche lief ihnen schließlich nicht davon.
„Und? Was ist nun?“, drängelte Tatjana, die den Kollegen Fuchs kannte. Wenn man nicht penetrant war, sagte der kein Wort.
„Es handelt sich um die Leiche einer Frau Mitte dreißig. Bei der Todesursache bin ich mir nicht sicher.“
„Sie hat eine Schusswunde auf der Stirn, das sehe ich doch von hier!“
„Ja, ihr wurde in den Kopf geschossen. Ob das aber todesursächlich war, kann ich nicht bestätigen.“
„Hä? Ich verstehe kein Wort. Lassen Sie sich doch nicht immer jedes Wort aus der Nase ziehen!“
„Die Kugel hat sie hier an Ort und Stelle getroffen, sie ist am Hinterkopf ausgetreten. Geschoss und Hülse haben wir unter und neben der Leiche sichergestellt. Aber gegen einen Mord genau hier spricht, dass das Blut fehlt. Können Sie mir folgen?“
„Sie meinen, sie war bereits tot, als auf sie geschossen wurde?“
„Exakt. Natürlich muss man das durch eine Obduktion bestätigen, aber Sie können davon ausgehen, dass das der Richtigkeit entspricht.“
„Woran starb die Frau dann?“
Fuchs hob die Absperrung und bat Tatjana Struck, mit ihm zur Leiche zu gehen. Hans Hiebler wollte folgen, aber Fuchs hielt ihn zurück.
„Sie nicht, Herr Hiebler! Es reicht, wenn Frau Struck alles durcheinander bringt und meinen Mitarbeitern und mir dadurch die Arbeit erschwert.“
Tatjana stand vor der Leiche und erschrak, als sie die offenen, stahlblauen Augen anstarrten. Aber sie riss sich zusammen, denn vor Fuchs wollte sie keine Schwäche zeigen.
Fuchs kniete sich neben die Leiche und zog den Kragen der weißen Bluse zur Seite.
„Sehen Sie die Würgemale?“
„Ja. Sie wurde also erwürgt.“
„Das ist meine vorläufige Annahme.“
„Wir gehen also von einem Mann als Täter aus?“
„Warum denken immer alle, dass Männer die Täter sind, sobald man bei der Tötungsart Kraft aufwenden muss? Auch Frauen sind durchaus in der Lage, auf diese Weise zu töten.“
„Hatte sie irgendetwas bei sich? Eine Tasche oder vielleicht sogar einen Ausweis?“
„Nein.“
„Wir haben es also mit einer Unbekannten zu tun. Wie wurde sie hierher gebracht?“
„So weit sind wir noch nicht. Wenn Sie erlauben, würde ich mich gerne wieder an die Arbeit machen und meine Mitarbeiter unterstützen, schließlich habe ich genug Zeit vertrödelt.“
Inzwischen kümmerten sich Diana Nußbaumer und Leo Schwartz um die beiden Jungs. Nachdem die Personalien festgestellt waren, informierte Leo die Eltern der beiden. Ludwig und Ben standen unter Schock, deshalb rief Leo auch einen Arzt und einen Psychologen hinzu. Die beiden hatten Schreckliches gesehen, das es irgendwie zu verarbeiten galt.
Ludwig und Ben hatten nicht lange auf Hilfe warten müssen, aber die Minuten kamen ihnen unendlich vor. Seit Ludwig die Polizei gerufen hatte, sprachen die beiden kein Wort mehr miteinander. Dass sich Ben in die Hosen gemacht hatte, hatte er nicht bemerkt. Er wollte nur nach Hause zu seiner Mutter.
„Ihr habt die Leiche gefunden?“, begann Diana Nußbaumer vorsichtig. Sie war mit ihren achtundzwanzig Jahren sehr zielstrebig und wollte in ihrem Beruf noch sehr weit kommen. Auch deshalb hatte die ausgebildete Kampfsportlerin mehrere Psychologieseminare belegt, die sie selbst bezahlt hatte.
„Wurde sie erschossen?“, wollte Ben wissen, den diese Frage ununterbrochen beschäftigte. Für ihn war es immer noch möglich, dass er oder Ludwig für den Tod der Frau verantwortlich war.
„Das wissen wir noch nicht“, sagte Leo und klopfte dem Kleinen auf die Schulter. Wie alt mochten die beiden sein? In seinen Augen waren das noch Kinder.
Ludwig dachte keine Sekunde daran, irgendwelche Geschichten zu erzählen, sondern sagte die Wahrheit. Detailliert berichtete er, was geschehen war.
„Wo ist das Gewehr?“, fragte Leo, der sich an seine eigene Kindheit erinnerte, in der er auch so manche Dummheit gemacht hatte. Allerdings hatte er nie etwas mit Waffen zu tun gehabt, was schon eine ganz schöne Hausnummer war.
„Das habe ich dem kleinen, alten Mann dort gegeben“, zeigte Ludwig auf Fuchs, der ganz in seine Arbeit vertieft war.
Leo und Diana mussten sich ein Schmunzeln verkneifen. Fuchs war noch nicht so alt wie er aussah. Ob sie ihm sagen sollten, wie ihn der Junge beschrieben hatte?
Diana sprach beruhigend auf die beiden ein. Leo war beeindruckt und hielt sich zurück. Bis er etwas hörte, was ihn aufhorchen ließ.
„Ich bin so erschrocken, als ich Frau Giesinger sah.“
„Du kennst die Tote?“, hakte Leo sofort nach.
„Ja, das ist Frau Giesinger, meine Englischlehrerin.“
„Weißt du, wo sie wohnt?“
„Ich glaube in Mühldorf, aber ich bin mir nicht sicher.“
„Wie ist ihr Vorname?“
„Hermine, wie bei Harry Potter. Wir haben sie damit immer verarscht. Sie mochte ihren Namen nicht und hat sich immer sehr darüber geärgert, wenn wir ihn gerufen haben. Der Tobi aus meiner Klasse hat ihr mal einen Zauberstab auf den Tisch gelegt. Den hat sie genommen und ohne ein Wort in den Papierkorb geworfen. Wir haben alle gelacht. Dafür hat sie uns einen Test scheiben lassen. Das war blöd, aber der Spaß hat sich trotzdem gelohnt.“ Erst lachte er, dann weinte er wieder. Der Tod der Lehrerin ging ihm sehr nahe.
Leo ging zu Tatjana. Ob sie bereits wusste, um wen es sich bei dem Opfer handelte?
„Sie hatte keine Papiere bei sich, wir müssen ihr Bild veröffentlichen“, empfing Tatjana den Kollegen.
„Das wird nicht notwendig sein, einer der Jungs kennt die Frau. Es ist eine Hermine Giesinger, vermutlich wohnhaft in Mühldorf.“
Hans gab die Daten sofort weiter.
„Woher kennt der Junge die Frau?“
„Es ist seine Englischlehrerin.“
„Der arme Kerl.“
„Ja, das kann man wohl sagen. Die Eltern sind bereits verständigt. Mal sehen, wer hier auftaucht und sein Kind abholt. Die beiden werden sicher wegen dem Gewehr mächtig Ärger bekommen. Wir sollten die Eltern bitten, sich zurückzuhalten. Die Kinder stehen unter Schock, ich habe einen Arzt und einen Psychologen gerufen. Wo bleiben die denn?“
Langsam näherte sich ein Fahrzeug. Leo ging darauf zu. Wenn es sich um die Eltern handelte, musste er vorher mit ihnen sprechen. Eine Frau Mitte vierzig stieg aus. Man konnte sehen, dass sie geweint hatte.
„Leo Schwartz, Kripo Mühldorf“, wies sich Leo aus.
„Windisch, Helga Windisch. Ich suche meinen Sohn Ben.“ Sie sah Leo fragend an.
„Ihrem Sohn geht es soweit gut. Er hat einen Schock, der Arzt müsste jeden Moment hier sein. Der Seelsorger ist auch unterwegs. Bitte erlauben Sie ihm, dass er mit Ihrem Sohn spricht.“
„Natürlich erlaube ich das! Was ist eigentlich passiert?“
„Ihr Sohn hat zusammen mit seinem Freund Ludwig eine Leiche gefunden.“
„Um Himmels Willen!“ Jetzt entdeckte sie ihren Sohn, der wie ein Häufchen Elend auf einem Baumstumpf saß. „Was wollte Ben im Wald?“
„Er war hier, um mit Ludwig Schießübungen zu machen. Das Gewehr hat sein Freund dem Vater entwendet.“
„Schießübungen mit einem echten Gewehr?“
„Ich bitte Sie, ihm jetzt nicht sofort Vorwürfe zu machen. Versprechen Sie mir das?“
„Sicher. Kann ich zu ihm?“
„Ich bitte darum.“ Leo sah der Frau hinterher. Sie lief auf ihren Sohn zu und nahm ihn einfach nur in die Arme. Beide weinten. Jetzt endlich kam der Arzt, der sich sofort um die Jungs kümmerte. Wo blieben denn Ludwigs Eltern? Und wo war der Psychologe? Es verging eine weitere halbe Stunde und Leo hatte genug von der Warterei. Die Adresse der Toten in Mühldorf lag vor, außerdem gab es inzwischen einige Eckdaten, die nicht unwichtig waren. Das Opfer war ledig und hatte keine Kinder, lebte aber mit der Mutter unter einem Dach.
„Ich würde gerne mit der Mutter der Toten sprechen, wir müssen ja nicht alle hier herumstehen“, sagte er zu Tatjana, die jede Minute mit einem Hinweis des Kollegen Fuchs rechnete, der ihnen vielleicht weiterhelfen könnte.
„Geh nur“, sagte sie. „Nimm Diana mit.“
Diana hörte ihren Namen und reagierte sofort. Sie hatte Mutter und Sohn ihre Privatsphäre gelassen. Sie stand abseits und beobachtete die traurige Szene. Während sich die Mutter liebevoll um den Sohn kümmerte, saß Ludwig traurig daneben und hielt Ausschau nach seinem Vater. Auch, als der Arzt mit ihm sprach, blickte er sich immer wieder um. Eine Mutter hatte Ludwig nicht mehr, die war gestorben, als er noch sehr klein war. Sein Vater hatte verboten, über die Mutter zu sprechen, was ihn sehr belastet. Mehr hatte sie in der kurzen Zeit nicht herausbekommen.
Diana stand Augenblicke später am Wagen und sah zu, wie Leo seine Stiefel notdürftig säuberte.
„Warum sind deine Schuhe nicht dreckig?“, wollte Leo wissen, der nicht glauben konnte, dass diese hellen, hochhackigen Schuhe keinen Dreck abgekommen hatten.
„Ich habe Augen im Kopf und passe auf, wo ich hintrete“, lachte sie. „Können wir dann?“
Auf dem Waldweg kam ihnen ein SUV entgegen, der viel zu schnell unterwegs war.
„Spinnt der?“, schimpfte Leo, der Mühe hatte, den Wagen unter Kontrolle zu halten, denn er musste dem SUV ausweichen.
„Ich habe das Kennzeichen, um den Wagen kümmern wir uns später. Wie ist das mit den Todesnachrichten? Hast du dich im Laufe deiner Berufsjahre daran gewöhnt?“
„Daran gewöhnt man sich nie.“
„Wie gehst du vor?“
„Keine Ahnung. Ich lass die Situation auf mich zukommen.“
„Das ist eine seltsame Taktik.“
Leo hatte tatsächlich keine Ahnung, wie er der Mutter den Tod der Tochter beibringen sollte. Wie würde die alte Frau die Nachricht aufnehmen?
Hans unterhielt sich mit einem Uniformierten. Bis er merkte, dass Leo und Diana aufbrachen, war es zu spät. Anstatt hier herumzustehen, hätte er viel lieber Leo begleitet.
Der SUV fuhr auf die Einsatzfahrzeuge der Polizei zu und hielt mitten auf dem Waldweg. Ein Mann Mitte fünfzig sprang heraus.
„Wer ist hier zuständig?“, rief er laut.
Tatjana ging auf ihn zu.
„Das bin ich. Struck, Kripo Mühldorf. Und wer sind Sie?“
„Pechstein. Mein Sohn Ludwig soll hier sein. Wo ist er? Warum halten Sie ihn hier fest? Was wird ihm vorgeworfen? Das eins klar ist: Ich werde meinen Sohn auf der Stelle mitnehmen. Das wird Konsequenzen haben, darauf können Sie sich verlassen! Mein Sohn ist erst zehn Jahre alt, was fällt Ihnen eigentlich ein?“ Der Mann schnaubte vor Wut.
„Sind Sie fertig?“
„Sie können doch nicht einfach….“
„Was wir können und nicht können, dürfen Sie gerne uns überlassen. Sie beruhigen sich auf der Stelle. Es wird doch möglich sein, dass man sich mit Ihnen vernünftig unterhalten kann!“
„Wie soll ich denn ruhig bleiben, wenn Sie meinen zehnjährigen Sohn wie einen Schwerverbrecher behandeln.“
„Tun wir das? Wissen Sie überhaupt, was hier los ist?“
„Nein. Sie hatten es bisher ja nicht für nötig gehalten, mich zu informieren.“
„Wenn Sie den Mund halten und zuhören würden, bekäme ich vielleicht endlich die Gelegenheit, Sie in Kenntnis zu setzen. Wenn Sie es allerdings vorziehen, weiterhin haltlose Vorwürfe von sich zu geben, dann bitte.“
„Ich habe vielleicht etwas überreagiert.“
„Ihr Sohn hat bei gemeinsamen Schießübungen mit seinem Freund eine Leiche entdeckt. Das Gewehr konnten wir sicherstellen, ebenso den Rest der Munition.“
„Schießübungen? Auf diese Idee ist sicher dieser Ben gekommen. Ich habe meinem Sohn den Umgang mit diesem Jungen ausdrücklich verboten! Er kommt aus der Gosse und passt nicht zu uns. Mir war sofort klar, warum sich Ben an meinen Sohn rangemacht hat. Er hat die Labilität und Naivität meines Sohnes ausgenutzt. Und natürlich möchte er sich an unserem Reichtum laben, das kennt man ja. Na warte, der Bursche wird mich kennenlernen!“ Valentin Pechstein hatte seinen Sohn und Ben entdeckt. Er war drauf und dran, zu den beiden zu gehen, aber Tatjana hielt ihn zurück.
„Sie bleiben hier und beruhigen sich! Ich habe kein Problem damit, Sie vorläufig festzunehmen, wenn Sie sich nicht augenblicklich zusammenreißen!“
„Wie würden Sie denn reagieren, wenn Ihr Kind Umgang mit einem solchen Subjekt hätte? Mein Ludwig ist ein anständiger, labiler Junge, der leicht zu beeinflussen ist. Würden Sie zuschauen, wenn Ihr Sohn in die Kriminalität gezogen würde?“
„Zum einen ist Ben nicht kriminell….“
„Ja, das behaupten Sie! Wie kommt der an eine Waffe? Und warum ist er immer noch hier und wurde nicht weggesperrt? Und erzählen Sie mir nicht irgendeinen Mist über eine schwere Kindheit, eine Dummheit oder irgendwelchen psychologischen Scheiß, den Ihnen sowieso niemand glaubt. Hier muss man hart durchgreifen, darauf bestehe ich!“
Hans hatte wie alle anderen alles gehört, denn Pechstein sprach sehr laut. Hans hatte das beschlagnahmte Gewehr geholt und hielt es dem aufbrausenden Choleriker vor die Nase.
„Kommt Ihnen das bekannt vor?“
Valentin Pechstein war irritiert.
„Aber das ist ja…. Nein, das kann nicht sein!“ Fassungslos starrte er Hans an, der sich einen gewissen Triumph nicht verkneifen konnte.
„Ja, das ist Ihr Gewehr. Ihr Sohn hat es zusammen mit der Munition an sich genommen. Die Schießübungen waren seine Idee.“
„Ludwig war das? Der kann jetzt was erleben!“
„Wenn Sie den Jungen anfassen oder auch nur dumm anreden, bekommen Sie mächtig Ärger. Ihr Sohn hat eine Leiche gefunden und sofort die Polizei verständigt. Und das, obwohl er wusste, dass das mit dem Gewehr herauskommen würde. Er hat absolut richtig und für sein Alter sehr erwachsen und vernünftig reagiert. Jeder andere wäre davongelaufen und hätte sich verkrochen, aber nicht Ihr Sohn. Er hat die Leiche einer Frau gefunden, die er auch noch sehr gut kennt. Ihrem Sohn geht es nicht gut, was jeder hier nachvollziehen kann. Sie gehen jetzt da rüber und sind für Ihren Sohn da. Werden Sie Ihrer Aufgabe als Vater gerecht.“
Diese Ansage verfehlte ihre Wirkung nicht. Pechstein war auf einen Schlag sehr ruhig.
„Ludwig kennt die Tote?“
„Ja. Es ist seine Englischlehrerin.“
„Frau Giesinger?“
„Ja. Und jetzt gehen Sie endlich zu Ihrem Sohn, er wartet schon sehr lange auf Sie. Er braucht Sie jetzt mehr als alles andere.“
Alle sahen dem Mann hinterher, der mit seinem teuren Anzug und den sauberen Schuhen wie alle anderen durch den Dreck waten musste.
„Was für ein Trottel“, sagte Hans.
„Wenn du den als Vater hast, brauchst du keine Feinde. Der arme Junge.“ Tatjana bedauerte Ludwig noch mehr, als sie es schon getan hatte. Er war erst zehn und hatte bereits schon mit mehr Problemen zu kämpfen, als andere in ihrem gesamten Leben.
Unbeholfen näherte sich Pechstein seinem Sohn. Anstatt ihn in die Arme zu nehmen, klopfte er ihm nur auf die Schulter. Zumindest schrie er ihn nicht an, aber er sagte auch nicht viel. Ob der Vater seinem Sohn wirklich so eine große Hilfe war? Alle bezweifelten es.
Fuchs war endlich fertig mit der Arbeit und alle konnten gehen. Leider hatte er keinen Ermittlungsansatz für die Kriminalbeamten, was vor allem Tatjana sauer aufstieß. Es war verschenkte Zeit gewesen, hier zu warten.
Der Psychologe kam erst jetzt, was allen furchtbar gegen den Strich ging.
„Dr. Bentz“, stellte er sich Hans knapp vor. „Wo sind die Patienten?“
„Sie kommen reichlich spät!“ Tatjana konnte sich den Vorwurf nicht verkneifen.
„Das tut mir sehr leid, aber es ging nicht anders. Ich stehe auf der Bereitschaftsliste, habe aber trotzdem Patienten, die Vorrang haben. Wenn Sie mir jetzt freundlicherweise sagen würden, wo sich meine Patienten befinden?“
„Die beiden Buben sind dort hinten, die Eltern sind bereits da.“
„Das hätten Sie nicht erlauben dürfen. Soweit ich informiert bin, gibt es Anlass für Vorwürfe von Seiten der Eltern, was man nicht zulassen darf. Die Kinder befinden sich in einem Schockzustand, aus dem man sie langsam und behutsam herausführen muss!“ Dr. Bentz war sauer. Er hasste es, wenn man sich in seine Arbeit einmischte.
„Dann hätten Sie früher hier sein müssen!“
„Das machen Sie sich zu einfach, Frau Kommissarin. Sie wären dafür verantwortlich gewesen, die Kinder zu separieren.“
„Sie können mich mal. Gehen Sie endlich zu den Jungs und machen Sie Ihre Arbeit!“
Tatjana drehte sich um und ging.
„Dem hast du es aber gegeben“, lachte Hans, der wie alle anderen die Unterhaltung verfolgt hatte. „Was für ein Wichtigtuer.“
„Bereits der dritte heute, der mir blöd kommt. Mal sehen, was der Tag noch bringt.“
3.
Das Zuhause der Toten lag abgelegen am östlichen Rand Mühldorfs. Die Zufahrt war abenteuerlich, denn es ging über einen holprigen Weg voller Schlaglöcher. Diana sah sich um und war erschrocken, denn die Wiesen und Felder waren schon lange nicht mehr bewirtschaftet worden. Alles sah heruntergekommen und verwahrlost aus. Leo Schwartz und Diana Nußbaumer standen vor einem alten Bauernhaus, das schon bessere Tage gesehen hatte. Mit einer solchen Bruchbude hatten beide nicht gerechnet. Es gab keine Klingel, also klopfte Leo – und das viel zu heftig für die morsche Tür, die drohte, nachzugeben.
„Was wollt ihr hier?“ Eine Frau um die siebzig stand vor ihnen. Sie trug eine Latzhose, ein altes, farbverschmiertes T-Shirt und hatte ein buntes Tuch um den Kopf geschlungen. In ihrem Mundwinkel hing eine selbstgedrehte Zigarette.
„Frau Giesinger?“
„Wer will das wissen?“
Die beiden wiesen sich aus. Leo konnte den Alkohol riechen. Unwillkürlich sah er auf die Uhr. Es war noch nicht mal Mittag.
„Was wollt ihr Bullen hier?“
„Es geht um Ihre Tochter“, begann Leo vorsichtig, obwohl er nicht den Eindruck hatte, dass diese unfreundliche Frau zart besaitet war.
„Hermine ist nicht hier. Es sind Osterferien und sie hatte irgendetwas vor. Was, weiß ich nicht mehr, ich habe ihr nicht zugehört. Was ist mit Hermine? Hat sie etwas angestellt? Das kann ich mir nicht vorstellen. Meine Tochter ist immer korrekt und anständig, was ich stets bedauert habe. Sie kommt ganz nach ihrem Vater, von mir hat sie rein gar nichts. Ich bin schon immer ein Freigeist gewesen, der sich an keine Vorschriften hält und der sich nichts vorschreiben lässt. Ich lebe in und durch meine Kunst.“
„Sie sind Malerin?“ Diana sah sofort, dass sie es mit einer dominanten Persönlichkeit zu tun hatten.
„Ich bin Künstlerin. Ich male, lege mich aber nicht nur darauf fest. Sobald ich eine Inspiration habe, muss ich sie umsetzen, egal mit welchem Material. Dabei ist mir der Tag, der Ort oder die Uhrzeit völlig egal. Ich bin ein spontaner Mensch, der sich in seiner Kreativität auslebt. Es gibt Gefühle und Eingebungen, die ich nur in Ton oder Holz ausdrücken kann, oder auch in Bildern. Das kann man nicht erklären, das muss man fühlen. Es ist eine Gabe, die nicht viele haben. Ich habe in Paris, Rom und London gelebt, habe viele Künstler kennengelernt, einige davon habe ich auch geliebt.“ Sie lachte und zog an ihrer Zigarette. „Ich gehöre zu der Generation der 68er und propagiere die freie Liebe, was sich auch auf meine Werke niederschlägt.“ Das laute Lachen hallte auf dem chaotischen Innenhof.
Diana war davon überzeugt, dass diese Frau sehr egoistisch war. So einem Menschen war sie noch nie begegnet und war dementsprechend begeistert. Leo war nur genervt von dem Gehabe und dem Gefasel der Frau, die sich um ihre Tochter offenbar keine Gedanken machte.
„Wir müssen Ihnen mitteilen, dass Ihre Tochter….“ Weiter kam Leo nicht, denn Frau Giesinger unterbrach ihn. Auch wenn offensichtlich war, dass es nicht um sie, sondern um ihre Tochter ging, schien ihr das egal zu sein.
„Kommen Sie, ich zeige Ihnen einige meiner Werke.“ Sie ging ins Haus. Auf dem Flur warf sie ihre Zigarettenkippe einfach auf den gefliesten Boden und ging achtlos weiter. Leo konnte nicht anders. Er hob sie auf, drückte sie aus und steckte sie in einen Blumentopf, in dem schon längst nichts Lebendiges mehr war.
Frau Giesinger führte die Beamten in einen riesigen Raum, der aus mehreren Zimmern bestand, zwischen denen einfach die Wände herausgerissen wurden. Man hatte sich nicht die Mühe gemacht, die offenen Ziegel zu verputzen, was Leo abermals sauer aufstieß. Der riesige Raum war voller Bilder, Skulpturen und Gegenständen aus Holz und Metall, die Leo nicht alle identifizieren konnte. Wenn man einige Bilder genauer betrachtete, konnte man mit viel gutem Willen ein Gesicht oder eine Hand erkennen, aber bei den Skulpturen musste er passen. Für ihn war das alles nur Müll.
Während sich Diana für die Kunstwerke zu interessieren schien, sah sich Leo in dem Raum um. Er registrierte die vielen Tassen, Teller und Gläser, die auf jeder noch so kleinen, freien Ablagefläche abgestellt wurden. In einem Eck stapelten sich Pizzakartons und leere Flaschen. Dass es sich vorwiegend nur um Alkohol handelte, wunderte ihn nicht. Frau Giesinger schien es egal zu sein, was sie trank, denn auf eine Richtung schien sie nicht festgelegt zu sein, auch beim Wein nicht. Er wollte einen Blick aus dem kleinen Fenster werfen, trat aber unwillkürlich zurück, als er die vielen Spinnweben und toten Fliegen sah. Leo hätte kotzen können, was die Künstlerin zu bemerken schien.
„Ich brauche das Chaos für meine Inspirationen. Meine Tochter meckert deswegen schon seit Jahren. Sie ist spießige Beamtin, was weiß die denn schon von Kunst! Ich habe mehrfach versucht, Hermine an die Kunst heranzuführen, wofür sie aber kein Gespür hat, leider. Was glauben Sie, was wir hätten gemeinsam schaffen können? Stattdessen machte sie ihr Abitur und hat studiert. Jetzt unterrichtet sie die Kinder fremder Menschen und ist einem engen Beamtenkorsett gefangen, anstatt das Leben zu genießen. Aber jeder so, wie er will!“ Sie lachte und trank den Wein aus dem Glas in ihrer Hand in einem Zug. Dann ging sie auf die Suche nach der Flasche.
„Was sagen Sie nun zu meinen Kunstwerken? Verstehen Sie etwas davon, oder tun Sie nur so?“ Frau Giesinger hatte die Flasche gefunden und nachgeschenkt. Dann sah sie Diana abschätzend an.
„Ich interessiere mich für Kunst, verstehe aber nicht so viel davon wie Sie, das müssen Sie mir nachsehen. Einige Ihrer Werke sind sehr ansprechend.“
Diana warf Leo einen flehenden Blick zu. Er musste sie aus der Situation befreien, was er sehr gerne machte. Er musste endlich darauf zurückkommen, warum sie hier waren. Diese vermeintliche Kunst war ihm völlig egal.
„Ihre Tochter Hermine wurde heute tot aufgefunden“, sagte er laut.
Frau Giesinger starrte ihn an.
„Hermine ist tot?“ Sie nahm einen Schluck aus der Flasche und füllte das Glas in ihrer Hand. „Aber das geht doch nicht, Hermine darf nicht tot sein. Wer kümmert sich jetzt um mich?“ Tränen liefen ihr übers Gesicht.
Diana war nicht sicher, ob sie der Tochter oder sich selbst galten.
Leo und Diana warteten. Normalerweise gab es jede Menge Fragen von Seiten der Hinterbliebenen, aber die gab es nicht. Frau Giesinger stand nur da. Sie rauchte und trank, zu mehr schien sie nicht fähig zu sein.
„Dürfen wir uns im Zimmer Ihrer Tochter umsehen.“
Frau Giesinger nickte.
„Wo ist das Zimmer?“, hakte Diana nach.
„Ihr Bereich ist in der oberen Etage, ich bewohne das Erdgeschoss.“
Leo ging zur Tür.
„Können wir die Frau allein lassen?“, flüsterte Diana ihm zu.
„Warum nicht? Sie hat ihren Alkohol und ihr Selbstmitleid, mehr braucht sie im Moment nicht.“
Diana war erschrocken, so hart kannte sie Leo bisher nicht. Sie folgte ihm die Treppe nach oben, wo ihnen ein ganz anderes Bild geboten wurde. Hermine Giesinger lebte sehr gemütlich. Alles war ordentlich und sauber, was Leo sehr gefiel. Er hatte schon Angst gehabt, sich auch hier durch Dreck und Chaos wühlen zu müssen. Die Durchsuchung dauerte nicht lange. Leo nahm einige Ordner und Fotos mit.
„Kein Handy und keine Handtasche.“
„Ich habe auch nichts dergleichen gefunden.“
„Lass uns gehen, ich möchte nur noch weg. Ich ertrage Frau Giesinger nicht länger.“
„Was ist denn los mit dir?“
„Diese Frau ist eine Egoistin, die sich einen Dreck für ihre Tochter interessiert hat. Sie auf ihre Kosten gelebt hat und hat sie nur ausgenutzt.“
„Das weißt du doch noch nicht.“
„Wollen wir wetten? Diese Unterlagen werden es beweisen. Das Schicksal ihrer Tochter kümmert sie nicht, sie macht sich nur Sorgen um sich selbst. Das widert mich an.“
„Vielleicht kann sie ihre Gefühle nicht ausdrücken oder ist geschockt von der Todesnachricht, die du ihr nicht gerade schonend mitgeteilt hast.“
„Die Frau versteht nur klare Ansagen, mit Mitgefühl brauchst du bei ihr nicht zu rechnen.“
„Und wie kannst du dir da so sicher sein?“
„Du magst einige Psychologiekurse besucht haben, die sicher nicht schlecht waren. Aber ich habe etwas, das du noch nicht haben kannst: Menschenkenntnis. Ich sage dir, dass sie die erste ist, die sich nach dem Erbe erkundigt. Wollen wir wetten?“
„Bist du heute zum Wetten aufgelegt?“ Diana drehte sich um und ging. Konnte sie sich in der Frau so täuschen? Nein, das war nicht möglich, so kalt konnte keine Mutter sein. Oder doch? Sie brauchte Gewissheit und startete einen letzten Versuch.
„Wir sind soweit fertig. Ich möchte Ihnen mein aufrichtiges Beileid aussprechen, Frau Giesinger. Wenn Sie Ihren ersten Schock überwunden haben und Fragen zum Tod Ihrer Tochter auftauchen, können Sie mich gerne jederzeit anrufen.“ Sie gab ihr eine Visitenkarte, die Frau Giesinger achtlos zur Seite legte. „Sie sollten in Ihrem Zustand nicht allein bleiben. Gibt es Familie oder Freunde, die Ihnen beistehen können?“
„Jaja“, sagte sie nur. Sie suchte nach Leo. „Sie sind doch auch Beamter, oder irre ich mich?“
„Ja, ich bin Kriminalbeamter.“ Leo ahnte bereits, was jetzt kommen würde.
„Ich habe keine Ahnung, wie das Gesetz das bei Tod regelt. Wie lange nach dem Tod werden Bezüge weiterbezahlt? Gibt es da eine einheitliche Regelung oder gelten für Beamte im Schuldienst eigene Richtlinien? Und gibt es einen Zuschuss für die Beerdigungskosten? Verstehen Sie mich nicht falsch, aber ich habe nicht die Mittel für eine Beerdigung, die ja wohl ich übernehmen muss.“
Leo zuckte nur mit den Schultern, drehte sich um und ging.
Diana war erschrocken, mit solchen Fragen hatte sie nicht gerechnet. Leo lag völlig richtig mit seiner Einschätzung.
„Das ist die gefühlskälteste Frau, die ich je getroffen habe. Du hattest Recht, Leo, du hast die Wette gewonnen.“
„Ich wäre sehr froh gewesen, wenn ich mich geirrt hätte, das kannst du mir glauben. Mir tut die Tochter leid, die mit einer solchen Mutter leben musste.“ Leo dachte an seine eigene Kindheit in einem liebevollen Elternhaus. Für ihn war das immer selbstverständlich gewesen, was es aber nicht war. Er hatte das Glück gehabt, seinen Eltern noch zu Lebzeiten dafür danken zu können. Noch immer hatte er das verlegene Gesicht seines Vaters vor Augen. Die Tränen seiner Mutter sah er, bevor sie sie rasch abwischen konnte und das Thema wechselte. Warum konnten nicht alle Eltern so sein?
„Seppilein?“
„Monika? Was willst du?“ Sepp Laubmayer erschrak, als er die Stimme der Frau hörte, der er am liebsten den Hals umdrehen würde: Monika Giesinger. Seit einem kurzen, aber heftigen Verhältnis vor sechsunddreißig Jahren meldete sie sich sporadisch immer wieder. Nicht, weil sie an ihm hing, sondern nur, weil sie Geld wollte. Sepp Laubmayer bereute nur eine Sache in seinem Leben: Dass er sich auf diese Blutsaugerin eingelassen hatte. Seit dieser Erfahrung war er mit der Wahl seiner Geliebten vorsichtiger gewesen, er hatte aus seinem Fehler gelernt.
„Deine Tochter ist tot.“
„Was? Aber….“
„Die Polizei war gerade hier. Hermine wurde ermordet. Sie ist tot! Hast du verstanden?“
„Das ist traurig für dich, Monika, mein aufrichtiges Beileid.“
„Das kannst du dir sparen. Du hast dich nie für deine Tochter interessiert und mir brauchst du kein Theater vorzuspielen. Insgeheim bist du doch froh darüber, dass sie tot ist.“
„Rede doch keinen Blödsinn!“ Sepp Laubmayer musste sich beeilen. Seine Frau kam jeden Moment und sie durfte unter keinen Umständen von Monika und Hermine erfahren. Der kleine Ausrutscher mit Monika fand während dem Mühldorfer Stadtfest statt. Und zum damaligen Zeitpunkt war er schon verheiratet. Jahrelang hatte er nichts von Monika gehört gehabt. Irgendjemand hatte ihm erzählt, dass sie im Ausland sei – und dort sollte sie auch gefälligst bleiben. Vor knapp zwanzig Jahren meldete sie sich zum ersten Mal bei ihm und forderte Geld; für eine Tochter, von der er nichts wusste und mit der er nichts zu tun haben wollte. Monika drohte mit einem Skandal, wenn er ihr nicht finanziell unter die Armen greifen würde. Sie hatte drei Polaroid-Fotos, was ihm bis dato neu war. Diese Fotos durften nicht in die falschen Hände gelangen! Was hätte er tun sollen? Einen Skandal konnte er sich nicht leisten. Nicht als Geschäftsmann und nicht als aussichtsreicher Kandidat für den Mühldorfer Stadtrat, der er vor zwanzig Jahren war. Mühldorf war im wahrsten Sinne des Wortes ein Dorf, da war man mit einem solchen Skandal erledigt. Er dachte keine Sekunde darüber nach, gegen Monika zu kämpfen und zu dem Kind zu stehen. Warum hätte er das tun sollen? Er hatte ein Verhältnis mit dieser lebenslustigen Frau gehabt, und dass daraus ein Kind entstanden war, war eben Pech. Monika wollte Geld und davon hatte er genug, auch wenn ihm jeder Cent leidtat. Wenn diese unsägliche Geschichte herauskäme, wäre er erledigt. Seine Frau würde ihm niemals verzeihen und hätte ihn verlassen – und dabei die Hälfte des Vermögens mitgenommen. Und das alles wegen eines Fehlers in der Vergangenheit, an den er sich nur dunkel erinnern konnte? Er hatte gezahlt, und das nicht wenig. Da alles ganz schnell gehen musste, dachte er nicht an die Polaroids, was sich als großer Fehler herausgestellt hatte. Monika hatte ihm versprochen, dass sie sich nie wieder melden würde, aber sie hielt sich nicht daran. Alle paar Jahre rief sie ihn an, einmal stand sie sogar vor seiner Haustür. Das war vor neun Jahren gewesen. Sie teilte ihm mit, dass sie einen Bauernhof gekauft hätte und ihr Erspartes nicht ganz reichen würde. Ausgerechnet in Mühldorf! Er ließ sich erweichen, ihr noch eine letzte Summe zu geben und hatte ihr das Versprechen abgenommen, ihn nie wieder zu belästigen. Dabei hatte sie ihm versprochen, die Polaroids endgültig zu vernichten – und er hatte ihr geglaubt. Wie hatte er nur so dumm sein können? Sie hatte Wort gehalten und hatte sich nicht mehr gemeldet. Sie hielt sich zurück und ließ ihn in Ruhe. Hermine aber nicht. Irgendwie muss sie herausgefunden haben, dass er ihr Vater war. Sie hatte ihn während eines Einkaufs mit seiner Frau einfach angesprochen und sich vorgestellt. Das war vor einem halben Jahr gewesen. Er hatte sie schroff abgewiesen und davongejagt. Warum konnte man ihn nicht endlich mit dieser alten Geschichte in Ruhe lassen?
„Was willst du?“ Sepp Laubmayer drängelte. Er konnte nicht einfach auflegen, Monika ließ sich nicht abwimmeln. Wenn sie etwas wollte dann bekam sie es auch.
„Das Kind muss beerdigt werden.“
„Aha. Und da kommst du zu mir?“
„Zu wem denn sonst? Es ist deine Tochter.“
„Habe ich nicht schon genug gezahlt? Lass mich endlich in Ruhe! Du wirst keinen Cent mehr bekommen.“
„Überleg dir das gut, Seppilein. Denk an die Polaroids. Die sind zwar farblich nicht mehr ganz so gut, aber man kann dich immer noch gut erkennen.“
„Du hast sie also doch noch! Du verlogene Schlange hast mir versprochen, sie zu vernichten!“
„Du müsstest mich besser kennen.“
„Gut. Wenn ich zahle, dann nur unter einer Bedingung: Ich möchte im Gegenzug die Polaroids haben.“
„Darüber können wir reden, Seppilein.“
Sepp Laubmayer wusste, dass er zahlen musste. Aber wie sollte er das anstellen? Seit er im Ruhestand war gab es nur noch ein Konto, das er sich mit seiner Frau teilte. Seine Frau hatte darauf bestanden und er hatte sich überreden lassen. Er musste sich etwas überlegen. An Hermine verschwendete er keinen Gedanken. Sie war tot – und das war gut so. Wenn sie nicht mehr war, hatte er auch endlich Ruhe vor Monika. Sollte sie dennoch irgendwann auftauchen und weitere Forderungen stellen, hatte sie kein Druckmittel mehr, denn die Polaroids wären in seinem Besitz. Und wer würde einer durchgeknallten Künstlerin ohne Beweise glauben?
Monika Giesinger wählte die nächste Nummer.
„Hallo Peter, hier ist die Moni-Maus.“
„Moni? Ich bin überrascht. Ich dachte, nach der letzten Zahlung würde ich nie wieder von dir hören.“
„Ich habe eine traurige Nachricht für dich: Deine Tochter ist tot.“
Dieses Gespräch verlief nicht ganz so negativ wie das vorherige. Peter war bei weitem freundlicher, allerdings war bei ihm nicht viel zu holen. Es gab vielleicht mal ein paar hundert Euro, während der Sepp stinkreich war und sehr viel mehr locker machte.
„Das tut mir sehr leid, Moni. Schade, dass ich Hermine nie kennenlernen konnte.“ Ein Kennenlernen hatte Monika Giesinger nicht zulassen können, denn sonst hätte Peter den Braten gerochen. Peter war schwarz und Hermine weiß. Es wäre dem Dümmsten aufgefallen, dass da etwas nicht stimmte. Monika hatte ihm vor vielen Jahren einmal ein Foto eines farbigen Mädchens zukommen lassen und Peter war damit zufrieden.
„Das Kind muss beerdigt werden“, sagte Monika leise.
„Und du bist wie immer klamm.“
„Richtig.“
„Ich würde dir gerne helfen, aber mir geht es momentan selbst nicht gut.“ Er erzählte von einem Arbeitsunfall, der Monika nicht interessierte. Während er sprach, öffnete sie eine weitere Flasche. Sie holte eine Packung Debreziner Würste aus dem Kühlschrank und aß eine Wurst nach der anderen. Sie sagte kein Wort, was Peter nicht zu stören schien. Als er eine Pause machte, hakte sie sofort ein.
„Kannst du überhaupt nichts zahlen? Es ist deine Tochter!“
„Ich sehe zu, was ich machen kann. Aber viel wird es nicht werden, sorry.“
Monika war nicht überrascht und wählte die nächste Nummer. Die Namen auf ihrer Liste hatte sie nicht willkürlich in dieser Reihenfolge aufgeschrieben. Sie hatte sieben potenzielle Väter in all den Jahren bei extremer Geldnot sporadisch angezapft, die ihr alle die vermeintliche Vaterschaft abnahmen. Dass keiner von ihnen der leibliche Vater war, behielt sie für sich.
Jean-Pierre war Hermines Vater. Wie hatte sie den Franzosen geliebt! Aber er war schon lange tot. Er starb, als Hermine noch nicht einmal zwei Jahre alt war. Jean-Pierre war kein Freigeist wie sie, sondern sehr zielstrebig und fleißig. Er war Banker und wollte ganz nach oben. Dafür schuftete er Tag und Nacht. Diesen Stress hielt er nur mit Kokain aus – und an diesem Teufelszeug verstarb er. Ob es eine zu hohe Dosis war oder das Kokain verdreckt war, wusste sie nicht. Die Polizisten wollten oder konnten es ihr nicht sagen, und letztendlich war es auch egal. Tot war tot. Monika wischte sich eine Träne aus dem Gesicht. Jean-Pierre war ihre große Liebe gewesen, aber das war lange vorbei. Wie wohl ihr Leben verlaufen wäre, wenn Jean-Pierre auf sie gehört hätte und dieses verdammte Kokain nicht genommen hätte? Sie wischte diese Gedanken beiseite. Es war nun mal so, wie es war, damit musste sie zurechtkommen. Während sie ein weiteres Glas Wein einschenkte, blickte sie auf ihre Überlebensliste, wie sie sie gerne nannte.
Sepp stand ganz oben, denn er war reich. Danach folgte Peter, der spendabel war, wenn er gerade einen Job hatte. Bei den restlichen Namen handelte es sich um arme Schlucker, von denen nicht viel zu holen war. Es gab mal hier und da hundert Euro, aber das war es auch schon. Sie hätte sich ihre Liebhaber sorgfältiger aussuchen müssen! Außer Peter hatte keiner von ihnen jemals Ambitionen gezeigt, zur Familie zu gehören oder die Tochter sehen zu wollen. Auch das überraschte Monika nicht, denn für sie bestand die ganze Welt aus Egoisten, zu denen sie sich auch zählte. Gefühlsduseleien waren ihr zuwider. Seit Jean-Pierre tot war, hatte sie jegliche Gefühle anderen gegenüber ausgeschaltet, auch die zu ihrer Tochter. Wenn sie nur an sich dachte, war sie am besten dran. Deshalb hatte sie Hermine zu ihrer Mutter gegeben, die sich liebevoll um die Kleine gekümmert hatte. Wie hätte sie sich um ein kleines Kind kümmern können? Sie wusste ja oft selbst nicht, wie sie über die Runden kommen sollte.
Vor acht Jahren hatte sie das Glück gehabt, einen Galeristen zu finden, der ihre Kunstwerke nicht nur ausstellte, sondern sogar einige Stücke verkaufen konnte. Auf einen Schlag hatte sie viel Geld in der Hand, das sie diesmal sinnvoll investieren wollte. Sie fand im Internet einen alten Bauernhof in Mühldorf, der zum Verkauf stand. Sie erinnerte sich an das Grundstück und schlug sofort zu. Dass das Haus und alles drum herum in einem derart desolaten Zustand war, interessierte sie nicht. Den Kauf konnte sie mit Sepps Hilfe gerade so stemmen, aber für große Renovierungen hatte sie keinen Cent mehr übrig. Mit dem Galeristen hatte sie sich überworfen. Bei einem Streit hatte sie ihn mit einer Weinflasche angegriffen, weshalb er sich weigerte, weitere Kunstwerke für sie zu verkaufen. Sie war mittellos und hatte einen Zusammenbruch. Da erschien plötzlich ihre Tochter, die ihr wie selbstverständlich half. Nicht nur das, sondern seitdem kümmerte sie sich um sie und war immer für sie da. Das war sehr praktisch, denn Hermine sah zu, dass nicht alles verwahrloste. Sie übernahm dringende Reparaturen und beglich Rechnungen, die längst fällig gewesen waren. Als Hermine dann auch noch anbot, zu ihr zu ziehen, war das ein Glücksfall gewesen. Menschlich konnten sie nichts miteinander anfangen, dafür waren sie zu unterschiedlich. Aber sie hatten einen Weg gefunden, irgendwie miteinander zurechtzukommen. Und jetzt war Hermine tot und sie war wieder allein.
Nach vier Stunden hatte Monika Giesinger endlich alle Telefonate erledigt. Man versprach ihr einige hundert Euro, die für eine Beerdigung nicht ausreichen würden. Sie musste nochmals mit Sepp sprechen, nur er konnte ihr das fehlende Geld geben. Aber das musste bis morgen warten, heute hatte sie keine Kraft mehr dazu. Ihre Situation war beschissen. Nur noch ein einziges Mal konnte sie Gelder von ihren Gönnern fordern, danach waren die Quellen versiegt, das war ihr klar. Wie sollte es dann weitergehen? Von was sollte sie leben? Die Lebenshaltungskosten hatte Hermine übernommen, darüber hatte sie sich in den letzten Jahren keine Sorgen machen müssen. Wie sollte sie jetzt ohne sie überleben? Sie hatte keinen Cent zurückgelegt und auch nie in irgendwelche Versicherungen einbezahlt. Das war ihr zum einen immer zu spießig gewesen, und zum anderen hatte sie kein Geld dafür übrig. Der Weg aufs Sozialamt würde ihr nicht erspart bleiben. Ob sie das fertigbrachte? Sie öffnete die nächste Flasche und weinte bittere Tränen.
Morgen musste sie nochmals mit Sepp sprechen. Und mit dem Nachlassgericht, wo sie heute noch keine Auskunft erhalten konnten. Mit viel Glück hatte ihr ihre Tochter etwas hinterlassen, mit dem sie vielleicht einige Zeit überleben konnte. Wenn nicht, wusste sie auch nicht weiter. Vielleicht war es dann an der Zeit, ihrem armseligen Leben ein Ende zu setzen.
4.
Die Auswertung der Unterlagen, die Leo und Diana vom Hof Giesinger mitgenommen hatten, war sehr aufschlussreich. Hermine Giesinger hatte ihre Unterlagen sauber geordnet, was es den Kriminalbeamten sehr leicht machte. Das Opfer hatte knapp über zwanzigtausend Euro auf dem Konto, außerdem gab es Sparbriefe und einiges an Gold, das in einem Schließfach auf der Bank deponiert war.
„Ich habe ein Testament gefunden“, sagte Leo und grinste. „Das wird der Mutter überhaupt nicht gefallen. Hermine Giesinger hat ihr gesamtes Vermögen den SOS-Kinderdörfern vermacht, die Mutter erbt keinen Cent. Allerdings gibt es eine kleine Sterbeversicherung, wodurch der größte Teil der Beerdigungskosten gedeckt sein dürfte. Sollen wir die frohe Botschaft gleich überbringen?“
„Nein, das hat noch Zeit“, sagte Tatjana. „Das Testament ist vier Jahre alt. Wir wissen nicht, ob das das Gültige ist. Wenn es ein neueres gibt, stehen wir blöd da. Überlassen wir das dem Nachlassgericht.“
„Es gibt einen Kaufbeleg über zwei Handys, es läuft aber nur eins auf ihren Namen.“
„Vielleicht hat sie das andere verloren? Oder verschenkt?“
„Diese Telefonnummer ist sehr interessant“, sagte Hans und gab die Nummer in den Computer ein. „Sie gehört einem Wilhelm Reinhardt, wohnhaft in Teising. Wir haben ihn nicht in der Kartei. Die beiden haben sehr oft miteinander telefoniert, auch nachts.“
„Anrufen oder vorbeifahren?“, wollte Leo wissen, der liebend gerne bei dem schönen Wetter rausgehen würde. Der Winter war lang und sehr kalt gewesen. Endlich war der Frühling angekommen und für Leo begann jetzt die angenehmere Jahreszeit. Nicht mehr lange und er konnte endlich wieder mit einem Glas Wein vorm Haus sitzen und den Sonnenuntergang bewundern.
„Vorbeifahren!“, sagte Hans rasch, dem es ähnlich ging wie Leo.
„Einverstanden. Leo, du nimmst Diana mit“, bestimmte Tatjana, ohne von den Unterlagen aufzublicken.
Hans war enttäuscht. Warum wurde die Neue immer bevorzugt? Und warum war sie es, die Leo begleitete? Warum nicht er?
Als Leo und Diana gegangen waren, musste er seinem Ärger Luft machen.
„Was hast du gegen mich?“
„Du meinst, weil ich möchte, dass Diana Leo begleitet?“
„Was denn sonst?“
„Diana muss Praxiserfahrung sammeln, das müsste dir eigentlich einleuchten.“
„Und warum Leo und nicht ich?“
„Weil ich dir bezüglich Frauen nicht traue. Ja, du hast eine Freundin, das weiß ich. Trotzdem kann ich mich noch gut an die Zeit erinnern, in der keine Frau vor dir sicher war. Ich möchte keinen Ärger im Team haben. Erst, wenn ich davon überzeugt bin, dass du keine Gefahr für Diana bist, werde ich euch beide zusammen losschicken, vorher nicht.“
„Spielverderberin“, maulte Hans. Obwohl er immer noch sauer war, weil er bei dem schönen Wetter zu Büroarbeiten verdammt war, verstand er seine Vorgesetzte. Ja, er mochte schöne Frauen und auch die neue Kollegin gefiel ihm. Trotzdem hatte er eine Freundin, weshalb er sich zurückhielt.
Das biedere Reihenhaus in der Teisinger Innstraße war überhaupt nicht nach Leos Geschmack. Der Vorgarten bestand nur aus einem Steingarten, in dem mittendrin ein hässlicher Gartenzwerg mit einem grimmigen Gesicht stand. Als er sich umsah bemerkte er, dass die Vorgärten der Nachbarn nicht sehr viel anders aussahen. Dass die Bienen immer weniger wurden, wunderte ihn nicht. Wo war das viele Grün geblieben? Wo waren Blumen, Sträucher und Bäume, die den wichtigen Tieren Nahrung boten?
Diana war das Aussehen der Vorgärten egal. Sie drückte auf die Klingel.
„Ja bitte?“ Eine Frau Ende dreißig öffnete die Tür. Sie war wacklig auf den Beinen und hielt sich an ihrer Gehhilfe fest.
„Kriminalpolizei Mühldorf. Mein Name ist Nußbaumer, das ist mein Kollege Schwartz. Wir möchten mit Herrn Wilhelm Reinhardt sprechen.“
„Was wollen Sie von meinem Mann?“ Die Frau sah Diana abschätzend an und verzog dabei das Gesicht.
„Das würden wir ihm gerne selbst sagen. Ist Ihr Mann da?“
„Kommen Sie rein.“
Frau Reinhardt führte die Beamten in ein blitzblankes Wohnzimmer, in dem ein Mann stand, der einen Putzlappen in der Hand hielt.
„Willy, die Polizei für dich! Leg endlich den Lappen weg und setz dich!“, herrschte ihn die Frau an.
Diana war über den schroffen Ton der Frau erschrocken. Aber noch mehr darüber, wie der Mann reagierte. Er lächelte und legte den Lappen auf den Tisch. War das ein Veilchen an seinem rechten Auge?
„Was ist denn da passiert?“, fragte sie den Mann.
„Der ungeschickte Tölpel hat sich an der Tür gestoßen“, erklärte Frau Reinhardt schnell. Ihr Mann nickte nur. „Jetzt hast du doch tatsächlich den Lappen auf den Tisch gelegt! Bist du blöd? Das gibt doch Ränder! Mein Gott! Kannst du denn überhaupt nichts richtig machen?“ Sie sprach betont leise, aber vor allem Leo, der am nächsten stand, verstand jedes Wort. Er hatte die Frau vom ersten Augenblick an richtig eingeschätzt: Sie war eine dominante, cholerische Person, der man es nicht recht machen konnte. Frau Reinhardt bemerkte seine Blicke und lächelte gequält. „Mein Mann muss die Hausarbeit übernehmen, ich bin krankheitsbedingt dazu nicht mehr in der Lage. Ich leide unter starken Schmerzen und vor allem unter Rückenbeschwerden, die die Ärzte einfach nicht in den Griff bekommen. Das sind Schmerzen, die nur sehr schwer zu ertragen sind.“ Es folgte eine ausführliche Beschreibung des Krankheitsbildes, das niemanden wirklich interessierte. Herr Reinhardt schien Mitgefühl mit seiner Frau zu haben und strich ihr übers Haar. Rüde wehrte sie ihn ab.
Leo platzte fast der Kragen. Da Reinhardt in Gegenwart seiner Frau nicht offen sprechen würde, musste er einschreiten. Vor allem konnte er die Frau mit ihrer schrillen Stimme und dem jämmerlichen Unterton nicht mehr länger ertragen.
„Wir möchten Sie bitten, uns zu begleiten“, sagte er zu Reinhardt.
„Mein Mann ist verhaftet?“
„Nein, er wird lediglich befragt.“
„Warum machen Sie das nicht hier? Vielleicht könnte ich auch helfen?“
„Das geht leider nicht.“
„Dann werde ich mitkommen.“
„Das können wir nicht erlauben. Wir bringen Ihnen Ihren Mann wieder unversehrt zurück, versprochen“, sagte Leo und nickte Wilhelm Reinhardt zu. Der fügte sich und nahm seine Jacke, die Schuhe zog er vor der Tür an.
Die Kriminalbeamten konnten die Blicke der Frau förmlich spüren, als sie das Haus verließen.
„Wenn Blicke töten könnten“, flüsterte Diana, die froh war, das bedrückende Haus endlich verlassen zu können. Es war ihr unbegreiflich, wie man derart leben konnte.
Wilhelm Reinhardt sagte die ganze Zeit kein einziges Wort. Es schien, als würde er für den Moment aufatmen und froh darüber zu sein, den Klauen seiner Frau vorerst entkommen zu sein.
„Können wir Ihnen bezüglich Ihrer Frau irgendwie helfen?“, begann Leo die Befragung, als sie in Mühldorf angekommen waren.
„Nein, ich komme zurecht. Meine Frau ist kein böser Mensch“, versuchte Reinhardt seine Frau in Schutz zu nehmen. „Sie ist krank und hat unerträgliche Schmerzen, die kein Arzt in den Griff bekommt. Wie würden Sie reagieren, wenn Sie in ihrer Situation wären? Es macht mir nichts aus, alle Haus- und Gartenarbeiten zu übernehmen und ihre Launen zu ertragen. Wie heißt es so schön? In guten wie in schlechten Zeiten. Meine Frau ist sehr tapfer.“ Wilhelm Reinhardt sprach sehr ruhig und leise.
„Und das Veilchen?“
„Nicht der Rede wert. Warum bin ich hier?“
„Es geht um Hermine Giesinger.“ Mehr sagte Leo nicht.
„Hermine? Was ist mit ihr?“ Reinhardt war erschrocken.
„Sie wurde heute tot aufgefunden.“
„Hermine ist tot?“ Reinhardt zitterte, Tränen liefen über sein Gesicht.
„In welchem Verhältnis standen sie zu ihr?“
„Wir waren Kollegen an der selben Schule. Sie haben sicher die Telefonverbindungen gesehen und wissen daher, dass wir uns sehr nahe standen.“
Leo nickte. Der Mann war nicht dumm.
„Hermine und ich kamen uns im letzten Jahr bei einem Schulausflug näher. Es ist nichts, worauf ich stolz bin, das können Sie mir glauben. Ich habe zuhause eine kranke Frau und vergnüge mich nebenbei mit einer gesunden, vitalen Frau. Bitte verurteilen Sie mich nicht.“
„Das zu bewerten ist nicht meine Aufgabe“, sagte Leo, obwohl er mit Ehebruch überhaupt nichts am Hut hatte. Er war schon immer für klare Verhältnisse und mochte Heimlichkeiten und Lügen nicht, die waren ihm zu anstrengend.
„Hermine hat mich verstanden. Sie hat mir zugehört und gab mir das Gefühl, begehrenswert zu sein. Etwas, das ich in meiner Ehe schon sehr lange vermisst hatte. Wie ist Hermine gestorben?“
„Das wissen wir noch nicht. Fest steht nur, dass sie ermordet wurde.“
„Ermordet? Wer tut so etwas?“
„Im Augenblick sind Sie unser Hauptverdächtiger. Sie und eigentlich auch Ihre Frau.“
„Ich könnte Hermine niemals etwas antun! Und wie kommen Sie auf meine Frau? Warum sollte sie Hermine töten wollen?“
„Wenn sie von dem Verhältnis erfahren hat, hätte sie ein Motiv.“
„Sie wusste es nicht, Hermine und ich waren immer sehr diskret. Außerdem wäre meine Frau gesundheitlich zu einem Mord nicht in der Lage.“
„Einen gar so kranken Eindruck hat sie auf mich nicht gemacht.“
„Das täuscht. Meine Rita ist immer schon sehr tapfer gewesen. Früher war sie ein lebenslustiger Mensch. Diese verfluchte Krankheit hat sie zu dem gemacht, was sie heute ist. Sie kann nichts dafür.“
„Hatte Frau Giesinger Feinde?“
„Nein. Sie war die warmherzigste Frau, der ich jemals begegnet bin.“
„Warmherziger als Ihre Frau es früher war?“
„Wenn ich ehrlich bin: Ja.“
„Sie hatte also keine Feinde. Wie sieht es mit Freunden aus? Mit wem pflegte sie Umgang?“
„Sie kümmerte sich sehr liebevoll um ihre Mutter. Vor acht Jahren fand man Frau Giesinger völlig betrunken am Inn. Es hätte nicht viel gefehlt und sie wäre gestorben. Deshalb ist Hermine von Landshut nach Mühldorf gezogen und hat sich ihrer Mutter angenommen. Trotzdem hat sie es ihr nie gedankt. Die beiden waren wie Feuer und Wasser. Während Hermine sich immer sehr liebevoll um ihre Mutter kümmerte, zeigte die sich stets undankbar und reagierte sehr fies. Es war fast so, als wäre Hermine die Mutter, und nicht umgekehrt.“
„Sie kennen die Mutter persönlich?“
„Nein, wir haben uns nie kennengelernt. Hermine wollte das nicht, sie hat sich für ihre Mutter geschämt. Wir trafen uns in einem Hotel in Landshut, Hermine kannte die Besitzerin sehr gut. Sie können sich vorstellen, dass wir uns nicht häufig treffen konnten, oft waren nur eine Umarmung und wenige Sätze möglich. Trotzdem waren diese Momente für mich sehr, sehr wichtig.“ Ob er der Polizei sagen sollte, dass er seinem Leben ohne Hermine vermutlich längst ein Ende gesetzt hätte? Sie war es, die ihm Mut gab, weiterzumachen. Und jetzt war sie tot.
„Wo waren Sie heute Morgen zwischen acht und zehn Uhr?“
„Zuerst auf dem Friedhof. Dort habe ich auf dem Grab meiner Schwiegereltern nach dem Rechten gesehen. Meine Frau besteht darauf, dass ich jeden Morgen nachsehe, ob alles in Ordnung ist. Nach dem Friedhof war ich beim Einkaufen. Wenn keine Ferien sind, gehe ich natürlich in die Schule und erledige danach die Einkäufe. Aber es sind Ferien, deshalb war ich nach dem Friedhof im Supermarkt und danach ging ich nach Hause.“
„Irgendwelche Zeugen?“
„Mich haben sicher viele gesehen. Außerdem hat meine Frau den Kassenbon.“
„Ihre Frau?“
„Sie verwaltet unsere Finanzen. Wenn ich einkaufen gehe, gebe ich ihr die Kassenbons, die sie dann sofort überprüft.“
„Bitte?“
„Meine Rita mag es nicht, wenn ich Geld für unnütze Dinge ausgebe. Außerdem vertraut sie niemandem. Es ist schon vorgekommen, dass falsche Preise berechnet wurden.“
„Jetzt sagen Sie mir nicht, dass Sie Taschengeld bekommen.“
„Doch.“
„Wieviel?“
„Das muss ich Ihnen nicht sagen, oder?“ Reinhardt schämte sich für die zwanzig Euro, die seine Frau ihm monatlich für private Ausgaben zugestand. Er sparte, wo es nur ging, damit er sich ab und zu eine Kleinigkeit leisten konnte. Hermine gegenüber hatte er das gebeichtet, auch wenn ihm das sehr peinlich gewesen war. Aber was hätte er tun sollen? Er musste ihr die Wahrheit sagen. Ihr war das gleichgültig gewesen. Sie übernahm alle Rechnungen, auch die des Hotels. Sie war es auch, die ihm das Handy geschenkt hatte, mit dem sie in Ruhe telefonieren konnten und von dem Rita nichts wusste. Als sie sich bereiterklärte, auch noch die Telefonrechnungen zu übernehmen, lehnte er ab. Die wenigen Telefonate kosteten nicht viel, die konnte er von seinem Taschengeld bestreiten. Die dazugehörigen Rechnungen nahm er mit und warf sie irgendwo in den Müll. Rita wusste nichts von diesem Handy und dabei sollte es auch bleiben.
„Gibt es irgendetwas, das uns bei den Ermittlungen weiterhelfen kann?“
„Nicht, dass ich wüsste.“
„Wir lassen Sie jetzt nach Hause bringen. Hier ist meine Karte. Sollte Ihnen noch etwas einfallen, melden Sie sich. Auch, wenn Sie Hilfe brauchen, können Sie sich jederzeit an mich wenden, egal zu welcher Uhrzeit.“
Leo und Diana gingen nach draußen. Leo bat einen Kollegen, Reinhardt nach Hause zu fahren. Nur noch wenige Minuten, dann war es so weit und Reinhardt wurde seiner Frau wieder zum Fraß vorgeworfen.
„Was für eine arme Socke!“, sagte Diana, die immer noch erschrocken darüber war, wie es bei den Reinhardts zuging.
„Das kannst du laut sagen! Ich möchte nicht in seiner Haut stecken. Kaffee?“
„Nein, danke.“
„Stimmt ja, du trinkst ja nur Tee.“ Innerlich schüttelte es Leo, denn mit Tee konnte er überhaupt nichts anfangen. Wenn er krank war, ja. Aber als Getränk? Niemals! Während sich die beiden auf dem Flur unterhielten, starrte Reinhardt auf die Akte, die die Kriminalbeamten vergessen hatten. Ob er es wagen konnte? Er kannte keine Details über den Mord an Hermine. Alles, was er wissen wollte, war in dieser Akte. Er nahm seinen Mut zusammen und griff danach. Die Fotos seiner Geliebten schockierten ihn. Als er Stimmen vor der Tür hörte, legte er alles schnell wieder zurück. Ein Foto zu behalten wagte er nicht.
Leo kam mit dem Kollegen herein, der Reinhardt nach Hause fuhr. Dann sah Leo auf die Akte. Hatte er sie vorhin so liegenlassen? Warum hatte er sie nicht mitgenommen, wie sonst auch? Um alles lesen zu können, war die Zeit zu kurz gewesen. Wenn überhaupt, dann hatte sich Reinhardt nur die Fotos der Leiche und des Tatorts ansehen können. Wenn das so war, dann konnte er es nicht mehr ändern.
Auf der Fahrt nach Teising musste Wilhelm Reinhardt weinen. Die Fotos hatten sich fest in seinen Kopf gebrannt. Dieses Loch in der Stirn würde er niemals vergessen können. Hermine war sein einziger Lichtblick gewesen. Die wenigen Momente mit ihr gaben ihm Kraft, alles andere durchzustehen. Ob sie hatte leiden müssen? Wer war so krank, dass er das Leben eines anderen einfach so auslöschte? Hermine war tot! Wie ging es jetzt weiter? Wie würde er sein Leben ohne sie ertragen können?
„Fuchs hat etwas für uns“, empfing Tatjana Leo und Diana.
„Und was hat er?“
„Er besteht darauf, es uns selbst zu sagen. Er wartet im Besprechungszimmer, der Chef ist bereits informiert.“
Nachdem Rudolf Krohmer, der Leiter der Mühldorfer Polizei, auf den neuesten Stand gebracht wurde, konnte Fuchs endlich mit seinen Ausführungen beginnen. Er war nervös, denn er und seine Mitarbeiter hatten etwas gefunden, das für alle von Interesse sein könnte.
„Das Opfer wurde erdrosselt, der Schuss wurde post mortem ausgeführt“, begann er und sah dabei Tatjana an, die dies bereits ausgeführt hatte. „Bei der Patrone handelt es sich um Kaliber 9mm Luger. Bei der Bestimmung der Waffe sind wir noch dran, könnte aber schwer werden. Die Todeszeit muss leicht korrigiert werden, sie liegt zwischen neun und zehn Uhr.“
„Gut. Ist das alles?“ Krohmer trommelte auf den Tisch. Fuchs machte die Sache mal wieder spannender, als sie war.
„Natürlich nicht! Meine Mitarbeiter und ich haben uns die Frage gestellt: Wie kam die Leiche an den Fundort? Der Waldweg wurde im letzten Jahr frisch aufgekiest, weshalb es keine verwertbaren Reifenspuren gibt. Allerdings haben meine Leute Spuren gefunden, die auf eine Sackkarre, eine Schubkarre oder ähnliches hindeuten.“ Fuchs stand auf und schaltete den Beamer ein. „Sehen Sie diese Spuren?“
„Ich sehe nichts“, maulte Leo.
„Strengen Sie sich an, Herr Schwartz! Man hat versucht, die Spuren zu beseitigen, was nicht ganz gelungen ist. Hier, hier und hier – sehen Sie das?“
„Stimmt, jetzt sehe ich es auch“, sagte Krohmer. Er stand auf und trat näher an das Bild. „Vielleicht ein Fahrrad?“
„Nein, das halten wir für ausgeschlossen. Die Spuren verlaufen parallel, weshalb ich auf eine Sackkarre oder eine Schubkarre tippe.“
„Eine Schubkarre hat nur einen Reifen“, sagte Leo, „deshalb fällt diese wohl auch raus.“
„Keineswegs. Es gibt Schubkarren mit Doppelbereifung, auch ich besitze ein solches Modell.“
„Frau Giesinger lebt auf einem Bauernhof. Dort sollten wir uns umsehen.“
„Machen Sie das, Herr Schwartz.“
Es entfachte eine Diskussion über den Sinn und Unsinn solcher Karren – ob mit einem oder zwei Rädern.
„Ich bitte Sie, Kollegen!“, rief Fuchs genervt. „Das können Sie alles später besprechen. Ich habe dafür leider keine Zeit. Dieser Abdruck hier ist der deutlichste, den müssen wir uns näher ansehen. Mit viel Glück können wir das Transportmittel vielleicht finden, aber ich garantiere nicht dafür. Die Spuren sind sehr gering, aber mit dem passenden Original könnte das was werden.“
„Vielen Dank, Herr Fuchs. Noch etwas?“
„Vorerst nicht. Die Todesursache wurde vom Pathologen bestätigt, zur Obduktion fahre ich jetzt sofort nach München. Sobald es etwas fallrelevantes gibt, melde ich mich.“
Rita Reinhardt wartete an der Tür, als ihr Mann ausstieg. Er konnte ihr ansehen, dass sie sehr wütend war.
„Was wollte die Polizei!“, rief sie ihm entgegen.
„Eine Kollegin wurde heute tot aufgefunden.“
„Was hat das mit dir zu tun?“
„Es werden alle befragt, die mit ihr zu tun hatten. Als Kollege gehöre ich dazu.“ Dass seine Frau nicht wissen wollte, um wen es sich handelte, überraschte ihn nicht. Seit Beginn ihrer Krankheit kümmerte sie sich nicht mehr um andere, die schienen ihr gleichgültig geworden zu sein. Reinhardt ging in die Küche und bereitete das Mittagessen zu. Dann deckte er den Tisch und bat seine Frau ins Esszimmer. Lustlos stocherte sie in ihrem Essen herum.
„Du musst etwas Essen, Schatz. Bitte tu mir den Gefallen.“
„Ich kann nicht. Ich habe immer noch deine gierigen Augen vor mir, wie du die Polizistin angestarrt hast.“
„Das habe ich nicht, das bildest du dir nur ein.“ Reinhardt bekam Magenschmerzen. Er wusste, worauf das Gespräch hinauslief. Seine Frau war eifersüchtig auf jede Frau, die ihm vor die Augen trat. Wenn es sich auch noch um sehr hübsche Frauen handelte, war sie nicht mehr zu halten. Es gab Ärger wegen der Nachbarinnen, der Postbotin, der Sprechstundenhilfe – es war eigentlich egal, um wen es sich handelte, sie war auf jede Frau eifersüchtig. Das war der Hauptgrund dafür, dass sich alle Freunde zurückgezogen hatten und es keine sozialen Kontakte mehr gab.
„Denkst du, dass ich dumm bin? Willst du mir weismachen, dass du nicht gesehen hast, wie hübsch diese Polizistin ist? Leugne nicht! Ich habe gesehen, wie du sie angestarrt hast!“
„Das habe ich nicht. Du weißt, dass ich nur Augen für dich habe.“
„Du dreckiger Lügner!“ Voller Hass nahm sie ihren Teller und warf ihn auf ihren Mann. Der duckte sich und konnte ihm nur haarscharf entkommen. Allerdings wurde er von dem Eintopf getroffen, der sich über den Boden und auf dem Teppich ergoss. Rita Reinhardt weinte, während ihr Mann ganz ruhig aufstand und einen Lappen holte…
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