Der 16. Fall aus der Leo-Schwartz-Krimireihe
1.
Jacob Winzl kam langsam zu sich. Sein Kopf dröhnte und die Glieder schmerzten. Um ihn herum war alles ruhig. Er spürte sofort, dass hier etwas nicht stimmte. Er öffnete die Augen. Durch einen Spalt des mit dicken Vorhängen zugezogenen Fensters drang nur wenig Tageslicht ins Zimmer und schemenhaft nahm er Stück für Stück seine Umgebung wahr. Er lag auf einem schäbigen, dreckigen Metallbett. Außer der uralten Matratze gab es ein versifftes Kissen und eine alte Wolldecke; beides warf er sofort angeekelt auf den Boden. Von der Wand links von ihm strahlte ihn eine nackte Schönheit an. Nach einem kurzen Moment der Freude erkannte er, dass die Frau nicht real war, sondern Teil eines riesigen, billigen Fotokalenders, wie sie zu Hauf in Werkstätten und Spinden hingen. Seine Blicke wanderten weiter. Die uralte Tapete hing an einigen Stellen von der Wand. Neben dem Bett stand ein Eimer, daneben sechs Liter Wasser in Plastikflaschen. Sonst war in dem kleinen Raum nichts. Was sollte die Scheiße?
Das Handy! Er griff in die Hosentasche und suchte nach seinem Smartphone, das er immer bei sich trug. Es war weg. Er schloss die Augen und rieb sich den Kopf, denn die Schmerzen und das Pochen wurden immer stärker. Jacob war sich sicher: Wenn er jetzt die Augen aufmachte, entpuppte sich alles als ein dummer Traum. War er gestern nicht beim Feiern gewesen?
Jacob öffnete die Augen und musste feststellen, dass er immer noch denselben Traum träumte. Wach endlich auf! Er rieb sich die Augen und setzte sich auf, was aufgrund der Kopf- und Gliederschmerzen ein Kraftakt war. Was zum Teufel war hier los? Ein übler Scherz seiner Freunde? Oder ein Racheakt einer verrückten, enttäuschten Frau? Nein, mit solchen Frauen hätte er sich nie eingelassen. Er entschied, aufzustehen, was ihm nicht gelang. Erst jetzt bemerkte er, dass sein linker Fuß mit einer dicken Kette ans Bett gefesselt war. In Panik zog er daran, versuchte, mit zitternden Händen die Kette irgendwie aufzubekommen. Vergessen waren die Schmerzen und er achtete auch nicht darauf, dass sein Fuß durch die Aktion malträtiert wurde. Das Blut lief den Knöchel herunter, aber das war jetzt nicht wichtig. Er zerrte und zog, schlug um sich und bemerkte nicht, dass die Wunde am Knöchel immer größer wurde. Erschöpft und ohne etwas erreicht zu haben gab er auf.
Die Panik war verflogen, Wut stieg in ihm auf. Nicht mehr lange, und man würde ihn aus seiner misslichen Lage befreien und alles löste sich auf. Das hier war kein Scherz mehr und das würde auf jeden Fall rechtliche Konsequenzen nach sich ziehen. Gut, auch er machte seine Späße, aber die gingen nie so weit!
Wie war er hierhergekommen? Denk nach! Er war nach einer durchzechten Nacht nach Hause gebracht worden. Von wem? War das nicht Charly gewesen? Doch, sie war es ganz bestimmt! Wie immer hatte sie ihn vor der alten Tanne abgesetzt. Dann war er über das Grundstück zum Haus gelaufen. Was war dann passiert? Jetzt fiel es ihm wieder ein. Jemand kam von hinten und hatte ihm ein Tuch vors Gesicht gehalten. An mehr konnte er sich nicht mehr erinnern. Da hatte sich jemand einen dummen Scherz mit ihm erlaubt. Er war für Scherze immer zu haben, aber das ging zu weit! Beleidigt legte er sich wieder aufs Bett und wartete auf den- oder diejenige, die ganz sicher sehr bald durch diese Tür kommen würde.
Jacob wartete und behielt die Tür im Auge, aber nichts passierte. Es wurde kalt. Wo war diese verdammte Decke? Es kostete ihn sehr viel Mühe und Geschick, die Decke zu erreichen und er deckte sich rasch zu. Er musste dringend pinkeln. Aber wie? War dafür der Eimer gedacht? Das durfte doch nicht wahr sein! Er wartete noch, bis er es nicht mehr aushielt, langte nach dem Eimer und erleichterte sich. Das war menschenunwürdig! Er konnte sich nicht daran erinnern, dass er jemals so sauer war.
Plötzlich tauchten vor ihm an der Wand Bilder auf. Eine Frau mit einem Kleinkind vor einem See, im Wald und vor einem Auto. Das waren ältere Bilder. Wo wurden die gemacht? Die Frau war ihm völlig unbekannt. Woher zum Teufel kamen die Bilder? Und was sollte der Scheiß? Jacob drehte sich um und entdeckte eine kleine Öffnung weit über dem Bett, durch die die Bilder an die Wand projiziert wurden. Er versuchte, an diese Öffnung zu gelangen, was ihm misslang: Die Kette am Fuß hinderte ihn daran. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als sich die Bilder anzusehen. Er versuchte, sich an die Frau zu erinnern. Hatte er etwas mit ihr? Das konnte nicht sein, dafür waren die Bilder zu alt. Wie hätte er sich an sie erinnern sollen? Die Frauen sahen sowieso alle gleich aus und er konnte sie noch nie auseinanderhalten. Er war schon oft in eine peinliche Situation geraten und hatte sich angewöhnt, den Frauen alle Kosenamen zu geben. Tat ihm diese Frau das hier an, die fortwährend in die Kamera lächelte? Oder waren es doch seine Freunde, die ihm übel mitspielten und das Ganze auch noch lustig fanden? Wieder und wieder tauchten dieselben Bilder vor ihm auf, die ihm alle nichts sagten. Er kannte weder die Frau, noch das Kind, noch irgendeine Umgebung. Wurden die Bilder überhaupt hier aufgenommen? Anfangs langweilte er sich, dann nervten ihn die Bilder mehr und mehr. Nach einigen Stunden konnte er die Bilder nicht mehr sehen. Wann hörte das alles endlich auf? Wann wurde er endlich aus dieser misslichen Lage befreit?
2.
„Sie kennen Alfred Winzl?“ stellte Rudolf Krohmer, Leiter der Polizeiinspektion Mühldorf den Gast im Besprechungszimmer vor. Alle kannten den 63-jährigen Winzl nicht nur aus den Medien. Die Firma Winzl war in Ampfing ansässig und handelte seit den 70er-Jahren mit Schrott und Metall. Alfred Winzl hatte mit einem kleinen Schrottplatz angefangen und die Firma durch viel Geschick und mit sehr viel Fleiß Stück für Stück zu einem ansehnlichen Unternehmen aufgebaut, das mittlerweile fast 60 Mitarbeiter beschäftigte. Niemand mochte den kleinen, untersetzten Mann mit dem schütteren Haar und dem billigen Anzug, denn Winzl nahm kein Blatt vor den Mund und legte sich mit allen und jedem an. Er war zwar ein knallharter Geschäftsmann, konnte sich aber nicht benehmen. Oder wollte er nur nicht? Was wollte Winzl bei der Kriminalpolizei? Sein Gesichtsausdruck verhieß nichts Gutes.
„Herr Winzl ist hier, weil er vermutet, dass sein Sohn Jacob entführt wurde. Das hier fand er heute in seinem Briefkasten. Es ist nur eine Kopie, das Original ist bereits bei der Spurensicherung.“
Tatjana Struck schnappte sich das Blatt und las es aufmerksam durch. Das war keines dieser Schreiben, die aus Buchstaben verschiedener Zeitungen und Illustrierten zusammengeklebt wurden. Das hier war anders.
„Das darf doch nicht wahr sein,“ rief die 36-jährige Frau aus, die auch heute wieder einen dicken, selbstgestrickten Pullover trug, der schon bessere Zeiten gesehen hatte. Sie gab das Schreiben an ihren 55-jährigen Kollegen Hans Hiebler weiter, den auch heute wieder ein betörender Herrenduft umgab. Je mehr Hans las, desto mehr verzog sich sein Gesicht. Was sollte dieser Blödsinn? Wortlos gab er das Schreiben an den 40-jährigen Werner Grössert weiter, der wie immer wie aus dem Ei gepellt in einem sündhaft teuren Anzug erschienen war. Werner überflog das Schreiben und gab es schließlich an Leo Schwartz weiter, der schon ungeduldig wartete. Warum hatte der Chef nicht einfach vier Kopien gezogen? Nicht nur Leo war ungeduldig, sondern auch Alfred Winzl, der ständig auf die Uhr blickte. Ihm schien das alles viel zu lange zu dauern und er begann, mit den Fingern auf den Tisch zu trommeln, was Krohmer überhaupt nicht mochte. Krohmer hatte mit Absicht nur eine Kopie von dem Schreiben gezogen, um die jeweiligen Reaktionen seiner Leute mitzubekommen. Wie würden sie auf den Inhalt reagieren? Hielten auch sie das für einen Scherz? Noch stand die Reaktion von Leo Schwartz aus, der sich die Zeit nahm, die wenigen Worte mehrfach zu lesen und gab dabei Geräusche von sich, die seinen Unmut erahnen ließen. Der 51-jährige Schwabe warf das Schreiben auf den Tisch.
„Das ist doch völliger Schwachsinn. Da erlaubt sich einer einen Scherz. Das kann man doch nicht ernst nehmen,“ sagte er wütend.
Hans war derselben Meinung.
„Ohne Ihnen zu nahe treten zu wollen Herr Winzl, müssen Sie zugeben, dass Ihr Sohn Jacob kein Heiliger ist. Wie oft wurde er von der Polizei aufgegriffen und kam mit dem Gesetz in Konflikt? Wie oft hat er sich auf Kosten anderer einen Scherz erlaubt und ist dabei weit übers Ziel hinausgeschossen? Wenn Sie mich fragen, ist das hier ein weiterer Versuch Ihres Sohnes, andere zum Narren zu halten.“ Hans hatte selbst schon mit Jacob zu tun und hielt ihn, gelinde gesagt, für ein richtiges Arschloch. Arrogant, überheblich, hinterfotzig und immer darauf aus, sich über alles und jeden lustig zu machen.
„Das ist eine Unverschämtheit,“ schrie Alfred Winzl und wollte auf Hans losgehen, aber Krohmer hielt ihn zurück.
„Sie wissen genau, dass Herr Hiebler nicht falsch liegt. Auch ich bin geneigt, das alles für einen Scherz zu halten.“ Krohmer hatte von einem tragischen Fall wegen Mobbings gehört, in dem Jacob Winzl einer der Drahtzieher war. Das Opfer wollte sich das Leben nehmen, was die Mobber aber wenig interessierte. Angewidert verzog Krohmer das Gesicht. Vielleicht wollte sich jemand an Jacob rächen oder ihm einen Denkzettel verpassen?
„Ja, Sie haben ja Recht. Mein Jacob ist kein Kind von Traurigkeit und er ist wahrlich kein Sohn, auf den man stolz sein kann. Ich wäre nicht hier, wenn ich nicht davon überzeugt wäre, dass er tatsächlich entführt wurde. Ich habe bereits gestern einen Zettel mit verwirrendem Inhalt im Briefkasten gefunden, den ich nicht beachtet habe. Dummerweise habe ich ihn auf dem Weg in die Firma aus dem Fenster geworfen.“
„Was stand auf dem gestrigen Zettel?“
„Das weiß ich nicht mehr. Es war ein zweizeiliger Vers mit mehreren Zahlen, ähnlich dem Zettel hier. Für mich klang das nach wirrem Zeug, das ich nicht ernst nahm. Ich bin auch davon ausgegangen, dass sich jemand einen dummen Scherz erlaubt hat, sonst hätte ich den Zettel doch nicht weggeworfen.“ Winzl kramte in seiner Tasche und zog ein Handy hervor. „Das gehört meinem Sohn. Es lag zusammen mit dem Papier im Briefkasten. Der Verlauf seiner Kontakte endet abrupt vor zwei Tagen. Das passt nicht zu meinem Sohn, ohne sein Handy kann er nicht leben. Ihm muss etwas zugestoßen sein. Bitte glauben Sie mir und suchen Sie nach ihm.“
„Gehen wir also davon aus, dass Jacob entführt wurde,“ fasste Leo zusammen, „dann bleibt uns nichts anderes übrig, als den Anweisungen des Schreibens zu folgen.“ Leo gefiel das überhaupt nicht, denn das klang nicht nach einer normalen Entführung, sondern nach einem Hollywood-Film der übelsten Sorte.
„Widmen wir uns dem Hinweis. Vielleicht finden wir Jacob rasch und können so dem Ganzen ein Ende setzen,“ mutmaßte Krohmer. Laut las er vor:
„Da hörte er einen Gesang, der war so lieblich, dass er stillhielt und horchte.“
Findet den Ort des Geschehens und Ihr werdet Jacob näherkommen.
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Werner Grössert hatte wie immer sein Tablet dabei und gab den Hinweis ein.
„Das ist eine Passage aus Rapunzel von den Gebrüdern Grimm.“
„Das Märchen Rapunzel?“
„Richtig. Hier steht es Wort für Wort. Wenn ihr mich fragt, müssen wir nach einem Turm suchen.“
„Ein Kirchturm? Da suchen wir uns dumm und dämlich. Wisst ihr, wie viele Kirchen es in unserem Zuständigkeitsbereich gibt?“ rief Hans aus.
„Konzentrieren wir uns auf einen einzelnen Turm. Wie viele gibt es davon?“
„Abgesehen von der Burghauser Burg, wo es einige Türme gibt, fällt mir keiner ein,“ sagte Leo, der sich nicht ganz so gut auskannte wie Hans, Werner und der Chef.
Tatjana musste passen, sie war erst wenige Wochen hier. Obwohl sie sich alle Mühe gab, sich mit ihrer neuen Heimat vertraut zu machen, war sie bezüglich der Türme völlig überfragt und musste sich auf die Kollegen und zur Not aufs Internet verlassen.
„Was ist mit dem Wasserturm in Graming?“ rief Hans aus. „Das ist ein einzelner Turm.“
„Zwei fahren nach Burghausen, zwei nach Graming. Ich fahre mit Herrn Winzl nach Hause und warte dort. Vielleicht melden sich die Entführer.“
Krohmer sah seinen Leuten hinterher. Was sollte der Mist? Und was sollten diese unsinnigen Zahlen? Ein Hinweis in dem fraglichen Märchen? Rapunzel! Krohmer hasste Märchen schon seit seiner Kindheit und hatte sich nie mit ihnen auseinandergesetzt, aber jetzt blieb ihm wohl oder übel nichts anderes übrig. Er beschloss, diese Zahlen erst einmal außer Acht zu lassen, denn auch die Kollegen hatten sich nicht weiter darum gekümmert. Krohmer folgte dem nörgelnden Alfred Winzl, der ihm mehr und mehr auf die Nerven ging. Dieser Tag konnte nur beschissen werden! Er hatte sich die Akte Jacob Winzl genau angesehen. Sollte sich herausstellen, dass sich der Rotzlöffel einen Scherz erlaubte, dann würde er alle Hebel in Bewegung setzen und dafür sorgen, dass Jacob eine harte Strafe bekommt.
Winzl war nicht begeistert, dass der Polizeichef ihn in sein Privathaus begleitete. Er mochte keine Besucher und hatte es stets erfolgreich vermieden, Fremde in sein Haus zu lassen. Sein Haus war seine Zuflucht und der einzige Rückzugspunkt, wo er seine Ruhe hatte und er seine Familie schützen konnte. Das hatten nicht nur Fremde, sondern vor allem sein Sohn zu respektieren, der ebenfalls keinen Besuch empfangen durfte. Natürlich gab es diesbezüglich immer Reibereien, Ärger und Vorwürfe, aber das war Winzl egal. Er hatte seine Prinzipien und danach hatte sich sein Sohn zu richten. Seine Frau war mit seinen Vorgaben einverstanden und hatte sich nie beschwert. Warum auch? Hier in Ruhe und Sicherheit leben zu können kam auch ihr zugute.
Lotte Winzl öffnete die Tür und war überrascht, dass ihr Mann einen Gast mitbrachte. Sofort spürte sie, dass etwas passiert sein musste. Wortlos folgte sie ihrem Mann und dem Fremden ins Wohnzimmer, das zu Krohmers Überraschung sehr geschmackvoll eingerichtet war. Er kannte Lotte Winzl nicht persönlich und konnte sich nicht daran erinnern, jemals ein Bild von ihr gesehen zu haben. Sie hielt sich aus der Öffentlichkeit heraus. Oder war es ihr Mann, der das nicht wollte?
„Was ist los Alfred?“ fragte die elegante, schlanke Frau, die so gar nicht zu dem grobschlächtigen Mann zu passen schien. Krohmer war erschrocken. Wusste Frau Winzl noch nichts von der Entführung? Anstatt behutsam und vorsichtig mit seiner Frau umzugehen, knallte ihr Winzl die Information direkt ins Gesicht.
„Jacob wurde entführt. Das ist Herr Krohmer von der Kriminalpolizei Mühldorf,“ sagte er und setzte sich. Er sah seine Frau nicht an, die aber auf weitere Informationen und Erklärungen wartete und ihren Mann anflehte, mit ihr zu sprechen.
Krohmer hasste diesen Winzl. Warum behandelte er seine Frau so? Sie war die Mutter und hatte ein Recht darauf, mehr zu erfahren.
„Ihr Mann hat heute Morgen ein Schreiben im Briefkasten gefunden. Zusammen mit dem Handy Ihres Sohnes.“ Sollte er ihr das Schreiben zeigen? Krohmer suchte den Blickkontakt zu Winzl, der sich ihm entzog. Was war los in dieser Familie? Krohmer entschied, ihr das Schreiben später zu zeigen.
„Jacob? Aber wie…? Warum…?“ stammelte Frau Winzl.
Da Alfred Winzl nicht reagierte, stand Krohmer auf und holte der Frau aus der angrenzenden Küche ein Glas Wasser.
„Bitte beruhigen Sie sich. Meine Leute sind bereits dabei, nach Ihrem Sohn zu suchen. Wann haben Sie Jacob das letzte Mal gesehen? Wo wollte er hin? Mit wem war er zusammen?“
„Jacob hat sich am Samstagabend von mir verabschiedet. Es war schon spät, trotzdem wollte er noch mit seinen Freunden raus. Wenn ich mich nicht irre, hatte er eine Reisetasche bei sich. Was er vorhatte und wohin er wollte, kann ich Ihnen nicht sagen. Junge Leute sagen ihren Eltern nicht mehr, wo sie hingehen, das kann ich verstehen. Er war die ganze Nacht unterwegs, sein Bett war unberührt.“
„Er hatte eine Reisetasche dabei? Kam das öfter vor?“
„Ja, ich denke, dass ich mir sicher bin. Es kam ab und zu vor, dass er mit Freunden ein paar Tage wegfuhr und da hatte er immer eine Reisetasche bei sich. Ich habe mich nie in sein Leben eingemischt und habe ihm gegönnt, dass er sich amüsierte.“
„Er hat sich wie immer herumgetrieben und mein Geld verplempert,“ sagte Winzl wütend. „Anstatt sich um sein Studium zu kümmern, zu lernen und zu arbeiten, hat sich der saubere Herr Sohn viel lieber ein schönes Leben gemacht. Er ist 28 Jahre alt und hat bisher noch nichts geleistet. Jacob könnte mit dem Studium längst fertig sein und könnte mich in der Firma entlasten. Ich bin auch nicht mehr der Jüngste und wäre für Hilfe dankbar. Andere in seinem Alter sind mit der Ausbildung fertig, sind verheiratet und haben Kinder. Aber mein Herr Sohn geht lieber raus und nimmt sich jede Frau, die nicht bei drei auf den Bäumen ist.“
„Alfred!“ sagte Frau Winzl streng. „Jacob ist jung und ungebunden, warum sollte er sich nicht die Hörner abstoßen, bevor er ins Arbeitsleben einsteigt und sich fest bindet? Ich kann ihn gut verstehen. Ich war damals viel zu jung, hätte das Leben lieber genießen sollen. Ich war erst 18 Jahre alt, als ich meinen Mann kennenlernte. Nach wenigen Wochen haben wir geheiratet und unser Jacob wurde geboren.“
Krohmer rechnete mit. Demnach könnte Lotte Winzl höchstens 50 Jahre alt sein. Konnte das wahr sein? Obwohl sie durchaus hübsch war, sah sie mindestens 10 Jahre älter aus.
„Was beschwerst du dich Lotte? Du hast alles, was du dir wünschen kannst. Wir leben hier in einer Idylle in Ruhe und Sicherheit. Du brauchtest nie zu arbeiten, hattest immer Personal und konntest dir jeden Wunsch erfüllen. Und ich schufte den ganzen Tag, damit es meine Familie gut hat. Was willst du mehr?“
„Ich sitze seit meiner Heirat in einem goldenen Käfig und kenne nichts als Leere und Einsamkeit.“
Das hatte gesessen! Winzl starrte seine Frau an und konnte nicht glauben, was sie eben von sich gab. Er hatte das alles für sie getan. Und jetzt dieser Vorwurf!
Krohmer war das zu viel, er brauchte dringend frische Luft. Ohne zu fragen, öffnete er die Terrassentür und trat hinaus. Sein Blick schweifte über den riesigen, gepflegten Garten, in dem es nur so von Vögeln wimmelte. Die Ehe der Winzls war unglücklich, das lag auf der Hand. Jacob war ein Lebemensch und übernahm bis dato keinerlei Verantwortung, das war ihm bereits bekannt gewesen. Er ging wieder zurück ins Wohnzimmer.
„Haben Sie Feinde? Gibt es irgendjemanden, der Ihnen so etwas antun würde?“
„Natürlich gibt es im Geschäftsleben immer wieder Probleme. Aber die würden nie persönlich ausarten oder gar in einer Entführung enden. Nein, mit mir hat das bestimmt nichts zu tun. Da müssen Sie sich im Umfeld meines Sohnes bewegen. Ich sage Ihnen gleich, dass ich die Menschen, mit denen sich Jacob abgibt, nicht kenne.“
„Da bin ich auch überfragt. Mein Mann hat immer verboten, dass Freunde unseres Sohnes in unser Haus kommen dürfen, und daran haben wir uns immer gehalten.“
Winzl starrte seine Frau abermals fassungslos an. Schon wieder ein ungerechtfertigter Vorwurf, der ihn sprachlos machte. Was war los mit seiner Frau?
„Sie haben auf meine Frage noch nicht geantwortet, Frau Winzl. Gibt es jemanden in Ihrem Leben, der Ihnen so etwas antun könnte?“
„Sie meinen mich? Nein!“
„Was ist mit Ihren Freunden oder Bekannten?“
„Ich habe keine Freunde und auch keine Bekannten.“ Frau Winzl sprang auf, rannte ins Badezimmer und schloss die Tür hinter sich. Sie musste jetzt ganz ruhig bleiben und durfte sich nicht verraten, sonst flog alles auf. Jacob war entführt worden und sie ahnte, wer dahintersteckte. Sie hatte sich in den letzten Jahren sicher gefühlt und war mutiger geworden, ging sogar ab und zu raus unter Menschen, was sie immer vermieden hatte. Sie hatte sich damals in Alfred einen verlässlichen Beschützer gewünscht, der ihr Sicherheit bieten konnte. Aber ihr Mann war nicht der strahlende Held. Er war nicht mit ihr, sondern mit seiner Firma verheiratet. Wann hatte er angefangen, sie nicht mehr wahrzunehmen? Wann war ihm die Familie völlig gleichgültig geworden? War das nicht schon immer so gewesen? Sie hatte sich etwas vorgemacht, denn von Anfang an war sie auf sich gestellt und hatte sich verkrochen. Seit drei Jahren verlor sie mehr und mehr ihre Angst und begann, das Leben schrittweise zu genießen. Sie stand kurz davor, ihr erdrückendes, liebloses Zuhause für immer zu verlassen. Und jetzt war alles anders! Sie kramte in ihrem vollen Medikamentenschränkchen und wühlte in der üppigen Auswahl. Medikamente waren zu ihrem Grundnahrungsmittel geworden, ohne sie konnte sie nicht leben, nicht mehr. Vor vielen Jahren hatte sie angefangen, das Teufelszeug zu nehmen. Sie hatte sich schnell daran gewöhnt und nicht nur die Auswahl, sondern auch die Dosen wurden immer größer. Alfred war nicht glücklich darüber, dass sie von diesen Medikamenten abhängig war, besorgte sie ihr aber trotzdem auf dem Schwarzmarkt, da sich die ansässigen Ärzte allesamt irgendwann weigerten, ihr neue Rezepte auszustellen. In dem Punkt war auf Alfred Verlass! Er sorgte immer für Nachschub, sie brauchte es ihm nur sagen. Da ist es! Endlich fand sie das Päckchen mit den starken Beruhigungstabletten und nahm gleich drei davon. Mit zitternden Händen trank sie das Wasserglas leer und setzte sich auf den Badewannenrand. Nicht lange, und sie würde sich besser fühlen. Sie wollte schon lange mit diesem Teufelszug aufhören und schob den Termin immer wieder auf. In Kürze wäre es so weit gewesen und sie hätte ein neues Leben begonnen. Sie wäre von diesen Tabletten losgekommen und hätte endlich angefangen, zu leben. Jetzt war alles anders. Jacob war entführt worden.
Trotz der langsam einsetzenden Wirkung der Tabletten fühlte sie sich schlecht. Sie ahnte, wer hinter der Entführung ihres Sohnes steckt. Vor vielen Jahren hatte sie einen dummen Fehler gemacht und sie dachte, dass der der Vergangenheit angehörte und sie endlich in Ruhe leben könnte. Aber die Entführung Jacobs und die Erinnerungen schlugen ihr hart ins Gesicht.
3.
Mit dem Einverständnis von Alfred Winzl sah sich Krohmer in Jacobs Zimmer um. Es war kleiner, als er es sich vorgestellt hatte, aber es war sehr geschmackvoll mit teuren Möbeln und üppigen Gardinen, die fast den ganzen Raum beherrschten, eingerichtet. Das Bett war gemacht, es war nicht eine Falte zu sehen. Das war das Zimmer eines 28-jährigen Studenten? Der Kleiderschrank war ordentlich, darin befand sich nur Markenkleidung, deren Wert bestimmt Krohmers ganzes Jahresgehalt verschlingen würde. Auf dem Nachttisch lag ein Buch von Goethe, das relativ neu war. Krohmer blätterte darin und stellte fest, dass sich weder ein Einmerker, noch eine Notiz darin befand. Lag das nur zur Dekoration da? In der Schublade waren nur zwei Packungen Tempotaschentücher, sonst nichts. Vielleicht gab der Schreibtisch mehr her, denn noch konnte sich Krohmer von dem jungen Mann kein Bild machen. Wer waren seine Freunde? Wo waren Briefe, Karten, Zettel, irgendwas, das Aufschluss über Jacobs Leben geben könnte? Jacobs Handy war bereits bei der Spurensicherung und bald hatten sie dessen Kontakte in Händen. Vielleicht gab es sogar aufschlussreiche SMS-Nachrichten?
Auf dem Schreibtisch stand ein Laptop. In der Schublade des Schreibtisches fand Krohmer hinter einem Heer von Stiften und Büromaterial ein kleines Notizbuch, das er rasch in seine Jackentasche steckte, denn er hörte Schritte auf dem Gang. Eine ältere Frau steckte neugierig den Kopf in die Tür.
„Wer sind Sie? Was haben Sie hier zu suchen?“ fragte sie unfreundlich.
Krohmer zeigte ihr seinen Ausweis.
„Polizei? Was hat der Junge denn jetzt schon wieder angestellt? Ich habe mich schon gewundert, dass ich ihn gestern und auch heute nicht gesehen habe.“
„Wer bitte sind Sie?“
„Iris Daubner, ich bin die Putzfrau und Mädchen für alles,“ stellte sich die schlanke, 56-jährige Frau vor. Ihre wachen Augen musterten Krohmer von oben bis unten.
„Ich kenne Sie doch. Sie sind der Chef der Kriminalpolizei!“ rief sie erschrocken. „Was ist passiert? Ist Jacob etwas zugestoßen?“
„Laufende Ermittlungen, ich darf Ihnen leider nichts sagen. Wie lange arbeiten Sie schon hier? Wie gut kennen Sie Jacob?“
„Ich arbeite seit über fünf Jahren hier und ich bin angemeldet, wie sich das gehört. Das können Sie gerne überprüfen.“ Sie machte eine kurze Pause und Krohmer lächelte. Er glaubte ihr unbesehen, dass sie angemeldet war, sonst hätte sie es nicht erwähnt. „Bei den Winzls bleibt keiner lange. Jacob macht gerne seine Späße und ärgert jeden. Und der alte Winzl ist ein richtiger Kotzbrocken. Immer hat er etwas zu meckern, mit nichts ist er zufrieden. Frau Winzl ist eine feine Dame, für sie arbeite ich gerne, wegen ihr bin ich auch noch hier.“ Iris Daubner erzählte ausführlich einige Auseinandersetzungen mit Alfred Winzl, die sich ähnelten und Krohmer mehr und mehr langweilten. Diese Frau Daubner war eine sehr gesprächige Frau, die sehr viel Wert auf die genaue Darstellung ihrer Erzählungen legte, weshalb sich die Unterhaltung in die Länge zog. Ungeduldig sah er auf die Uhr.
„Was ist mit Jacob Winzl? Was können Sie mir von ihm erzählen?“ unterbrach Krohmer.
„Der Junge ist im Grunde genommen kein schlechter Mensch, obwohl auch ich unter seinen dummen Späßen und Beleidigungen zu leiden habe. Ich vermeide es, ihm zu begegnen. Frau Winzl hat ihren Sohn nach Strich und Faden verzogen. Der alte Winzl schimpft oft mit seinem Sohn, der Alte ist sehr hartherzig und oft auch grob. Aber man muss ihm hoch anrechnen, was er geschaffen hat. Ich kann mich noch gut an den kleinen Schrottplatz erinnern. Dort haben wir oft gespielt, als ich noch ein kleines Mädchen war. Ja, das waren noch Zeiten damals…“
„Haben Sie Freunde oder Bekannte von Jacob kennengelernt? Oder wissen Sie, wo er sich in seiner Freizeit aufhält?“
Iris Daubner kam einen Schritt näher und sah sich verschwörerisch um.
„Hier ins Haus dürfen keine Fremden, das hat der alte Winzl strikt verboten. Ich möchte niemanden anschwärzen,“ flüsterte sie. „Abgesehen davon, dass Jacob eigentlich nur Freizeit hatte, pflegte er nicht den Umgang, den seine Eltern sich für ihr einziges Kind gewünscht haben. Keine Rowdies oder Asoziale, sondern versnobte Taugenichtse, die sich auf den Lorbeeren ihrer Eltern und Großeltern ausruhen und deren Geld mit vollen Händen rauswerfen. Ich habe Jacob in einer Gruppe dieser unsympathischen jungen Leute gesehen, als ich meine Tochter in München besucht habe. Ich mag Jacob eigentlich sehr gerne, aber inmitten dieser Leute war er peinlich und ich habe mich für ihn geschämt. Sie haben einem Obdachlosen 100 Euro hingehalten und er musste dafür für sie tanzen. Als er tanzte, haben sich die jungen Leute über ihn lustig gemacht. Das macht man doch nicht, das geht nicht.“
„Kennen Sie diese jungen Leute?“
„Von mir erfahren Sie keine Namen, ich bin doch nicht blöd. Nachher erfährt einer, dass die Polizei den Namen von mir hat und dann werden sie mir einen Killer auf den Hals schicken.“ Krohmer musste lachen, die Phantasie und das einfache Gemüt dieser Frau waren erfrischend komisch. „Lachen Sie nicht, das machen die Reichen so, das habe ich oft genug im Fernsehen gesehen. Aber,“ und nun kam sie noch näher. „Sie brauchen sich nur eine Klatschzeitung kaufen oder eines der sündhaft teuren Münchner Lokale aufsuchen, dort finden Sie diese Leute. Ich weiß aus verlässlicher Quelle, die ich Ihnen nicht nenne, dass sie sich regelmäßig in der Münchner Nobeldisco Point X aufhalten. Sie kennen die Disco?“
„Nicht persönlich. Ist Ihnen in letzter Zeit irgendjemand aufgefallen, der nicht hierhergehört?“
Sollte sie es der Polizei sagen? Sollte sie erzählen, dass sie schon mehrfach einen jungen Mann hier gesehen hat, der Frau Winzl besucht? Sie kannte sogar seinen Namen: Miguel! Ein hübscher Mann, ohne Zweifel. Aber sie mochte keine Ausländer, die waren ihr suspekt und machte daher einen großen Bogen um sie. Sollte sie Frau Winzl verraten? Nein! Wenn es sich um den Chef gehandelt hätte, hätte sie geplaudert, denn sie mochte den Mann nicht und sah ihn zum Glück nicht sehr oft. Aber die Chefin war immer gut zu ihr gewesen und war ihr gegenüber auch immer sehr großzügig. Nicht selten steckte sie ihr heimlich einen Schein mehr zu. Seit sie diesen Miguel kannte, war sie wie ausgewechselt und blühte regelrecht auf. Sollte sie ihr das nehmen? Nein, sie würde die Chefin nicht verraten. Warum auch? Der Kriminaler war wegen Jacob hier, und nicht wegen der Chefin. Also schüttelte sie den Kopf.
Krohmer hatte gemerkt, dass die Putzfrau nicht reden wollte, aber er konnte sie nicht dazu zwingen.
„Was ist denn nun passiert? Ist Jacob in Ordnung?“
„Liebe Frau Daubner. Ich würde Ihnen gerne etwas erzählen, darf ich aber nicht. Verstehen Sie das bitte. Sollte Ihnen noch irgendetwas einfallen, melden Sie sich bitte.“ Krohmer gab ihr seine Karte. „Ich möchte mich einstweilen bei Ihnen bedanken. Der Hinweis auf die Diskothek hilft uns weiter.“
„Sie können sich auf mich verlassen, Herr Kommissar. Ich halte Augen und Ohren auf,“ blinzelte sie ihm zu, steckte die Karte in die Schürze und ging davon.
Krohmer nahm den Laptop von Netzteil und ging wieder zurück ins Wohnzimmer, wo sich auch Lotte Winzl inzwischen wieder eingefunden hatte. Schon von weitem hörte er, dass Alfred Winzl seine Frau anbrüllte und ihr heftige Vorwürfe machte. Konnte sich der Trottel nicht benehmen?
„Entschuldigen Sie mein Benehmen von vorhin,“ sagte Frau Winzl mit einem aufgesetzten Lächeln, als sie Krohmer bemerkte. „Ich habe für einen Moment die Fassung verloren. Es ist sonst nicht meine Art, einfach wegzulaufen.“
Krohmer winkte ab, er verstand die Frau nur zu gut.
„Sie müssen wissen, dass meine Frau meint, etwas Besseres zu sein,“ grinste Winzl. „Und jetzt wieder zu Jacob: Haben Sie etwas von Ihren Leuten gehört? Ich hoffe nicht, dass sie am falschen Turm stehen.“
Frau Winzl sah Krohmer und ihren Mann abwechselnd an. Von welchem Turm sprach ihr Mann? Krohmer gab ihr das Schreiben und während sie las, schüttelte sie immer wieder den Kopf. Was sollte der Schwachsinn?
„Das ist aus Rapunzel,“ flüsterte sie.
„Das wissen wir doch längst. Die Polizisten sind schon bei der Arbeit. Denkst du, die sind dumm und warten nur auf deine Hilfe?“ Winzl war echt fies zu seiner Frau und Krohmer hätte nicht übel Lust, ihn mal so richtig zurechtzuweisen. Aber das war eine Ausnahmesituation und Krohmer war sich sicher, dass sich Winzl große Sorgen um seinen Sohn machte.
In den nächsten zehn Minuten herrschte Stille, bis das Klingeln von Krohmers Handy diese unterbrach und Frau Winzl erschrocken zusammenzuckte.
„Chef?“ rief Leo laut, da um ihn herum sehr viel Verkehr war. „Burghausen war nichts, alle Türme wurden abgesucht. Aber mit Graming hatte Hans Recht.“
„Haben Sie den Jungen?“
„Leider nein. Wir haben nur einen neuen Hinweis gefunden. Wieder eine Passage aus irgendeinem Märchen, wir haben keine Ahnung, aus welchem. Wir brauchen entweder eine gute Internetseite, oder jemanden, der sich mit Märchen auskennt.“
„Ich kenne jemanden, der uns ganz sicher weiterhelfen kann. Wir treffen uns im Büro.“
Krohmer verabschiedete sich und hatte alle Mühe, den aufgebrachten Alfred Winzl davon abzuhalten, ihn zu begleiten. Er brauchte Ruhe bei der Arbeit und dabei störte ein Angehöriger, so hart das auch war. Krohmer hatte Alfred Winzl in die Hand versprechen müssen, ihn auf dem Laufenden zu halten. Frau Winzl war immer ruhiger geworden und Krohmer vermutete, dass sie ein Medikament eingenommen hatte. Sollte er einen Arzt rufen? Warum? Alfred Winzl war der Ehemann, soll er sich doch endlich um seine Frau kümmern. Es musste dem Trottel doch auch auffallen, in welchem Zustand sich seine Frau befand.
Im Rückspiegel bemerkte Krohmer Iris Daubner am oberen Fenster. War das nicht Jacobs Zimmer? Schon an der Wohnzimmertür lungerte die neugierige Frau herum und er war kurz davor, sie anzusprechen. Aber die Stimmung im Haus war sowieso schon auf dem Gefrierpunkt, da musste er nicht auch noch die Putzfrau hineinziehen. Außerdem kannte Frau Daubner den Sohnemann und sie machte sich ganz bestimmt ebenfalls Sorgen um ihn.
Im Wagen wählte Krohmer die Nummer seiner ehemaligen, inzwischen pensionierten Sekretärin Hilde Gutbrod.
„Chef? Das ist aber schön, dass Sie sich bei mir melden. Wo brennt’s?“
Krohmer verzichtete auf Floskeln und lange Erklärungen. Die 63-jährige Hilde Gutbrod arbeitete viele Jahre für ihn und kannte ihn sehr gut.
„Hätten Sie Zeit und Lust, der Polizei zu helfen?“
„Gerne. Worum geht es?“
„Um Märchen. Erklärungen gibt es später.“
„Alles klar. Ich bin quasi unterwegs.“
Hilde Gutbrod freute sich riesig, dass der Chef an sie dachte. Seit ihrer Pensionierung hatte sie die Pflegschaft für einen besonderen Jungen, übernommen, und zwar für Martin. Sie lernte ihn während eines Falles kennen, als sie noch bei der Polizei Mühldorf arbeitete. Martins Mutter kam damals ums Leben und der arme Junge war völlig auf sich allein gestellt. Frau Gutbrod sah es als alleinstehende Frau als ihre Pflicht an, Martin unter ihre Fittiche zu nehmen und sich um ihn zu kümmern, zumal sie sowieso vor der Pension stand und nicht wusste, was sie mit der freien Zeit anfangen sollte. Zeit ihres Lebens war sie kinderlos geblieben und hatte nur noch ihre Nichte Karin, die ihr mit ihrem Egoismus und ihrer Gleichgültigkeit auf die Nerven ging. Martin entwickelte sich prächtig. Frau Gutbrod hatte sich um einen Platz für ihn in einer Einrichtung bemüht, die sich um die Fähigkeiten von Behinderten kümmerte. Sie war sich sicher, dass auch in ihrem Martin eine ganz besondere Fähigkeit schlummerte, die man nur herauskitzeln und an die Oberfläche tragen musste. Dank ihrer Hartnäckigkeit und ihrer Beziehungen, die sie vor allem während ihrer Zeit bei der Polizei aufgebaut hatte, kam Martin vor zwei Wochen in dieser tollen Einrichtung unter. Frau Gutbrod war sich sicher, dass sich auch ihr ehemaliger Chef eingemischt hatte. Krohmer war einfach ein Schatz! Es war richtig von ihr gewesen, ihn darauf anzusprechen und auch ihn um Hilfe zu bitten. Diese Einrichtung, die den Namen Haus Schwanenberg trug, befand sich in der Nähe des Starnberger Sees und Martin würde für die nächsten fünf Monate dort bleiben. Während dieser Zeit kam er nur an den Wochenenden nach Hause und daher langweilte sich Frau Gutbrod unter der Woche fast zu Tode.
Es ging um Märchen. Das Warum interessierte sie jetzt nicht. Sie packte ihre alten Bücher in einen Koffer, zog sich mehrfach um, bis sie endlich zufrieden war, und ging ins Bad. Sie warf einen kritischen Blick in den Spiegel. Die ehemaligen Kollegen kannten sie nur als gestylte, gepflegte Frau – konnte sie denen diesen Anblick zumuten? Sie schminkte sich ausgiebig und war mit dem Resultat zufrieden. Dann toupierte sie die zum Glück frisch gefärbten Haare und türmte sie zu einem Ungetüm an Frisur auf. Fertig! Nachdem sie jede Menge Schmuck angelegt hatte, drehte sie sich vor dem großen Spiegel in alle Richtungen. Sie sah für ihr Alter immer noch blendend aus!
„Aus Jacobs Zimmer habe ich dessen Laptop und ein Notizbuch mitgenommen; um beides kümmert sich Fuchs. Das ist die Liste von Jacob Freunden. Fuchs hat es geschafft, den PIN-Code des Handys zu knacken und hat die Liste daraus angefertigt. Ich habe erfahren, dass sich die Freunde regelmäßig in der Münchner Disco Point X aufhalten sollen. Nehmen Sie sich die Freunde so bald als möglich vor,“ sagte Krohmer, der die Liste durchgegangen war. Tatsächlich waren ihm einige Personen persönlich bekannt. Noch bevor er auf den erneuten Zettel zu sprechen kommen konnte, trat Frau Gutbrod ins Besprechungszimmer ein. Alle sahen sie überrascht an. Vor allem der pinkfarbene Koffer, den sie hinter sich herzog, zog alle Blicke auf sich.
„Frau Gutbrod? Welch Glanz in unserer Hütte!“ rief Hans Hiebler aus und umarmte die ehemalige Kollegin. Das mit dem Glanz meinte er wörtlich, denn Frau Gutbrod hatte es mit ihrem hellgrünen Paillettenkleid, den hochhackigen Lackstiefeln und dem üppigen Schmuck völlig übertrieben. Bei jeder Bewegung glitzerte und klimperte es. Auch die anderen begrüßten sie herzlich. Sie wurde trotz ihrer nervigen Neugier, mit der sie viele fast um den Verstand brachte, schmerzlich vermisst.
„Ich habe Frau Gutbrod gebeten, uns als Expertin in Sachen Märchen zu unterstützen,“ erklärte Krohmer. „Ich weiß, dass sie sich sehr gut darin auskennt und alle gängigen Märchenbücher besitzt.“ Krohmer stellte seiner ehemaligen Sekretärin die neue Mitarbeiterin Tatjana Struck vor, da sich die beiden noch nicht über den Weg gelaufen waren.
Frau Gutbrod sah abschätzend an der neuen Kollegin auf und ab. DAS war die Neue? Klein, pummelig, um nicht zu sagen dick. Und dann noch diese fürchterliche, unvorteilhafte Kurzhaarfrisur. Wie alt sie wohl ist? Bestimmt noch keine 40, das sah man an ihrer Haut. Aber warum ließ sie sich so gehen? Aus ihr könnte man etwas machen, wenn man sich Mühe gab. Ein wenig Make-Up und eine neue Frisur würden Wunder bewirken. Und diese Kleidung ging gar nicht! Der dicke, womöglich auch noch selbstgestrickte, farbenfrohe Pullover trug viel zu sehr auf. Die bequemen Schuhe waren nicht geputzt und die Hose saß nicht richtig. Außerdem roch die Frau fürchterlich nach Zigaretten.
„Was ist? Wollen Sie ein Passfoto?“ sagte Tatjana frech, der die Musterung der in ihren Augen überkandidelten Frau missfiel. Ihr ging die Frau jetzt schon auf die Nerven. Warum war sie hier? Waren sie nicht in der Lage, das Rätsel selbst zu lösen? Gegen ihre Anwesenheit zu protestieren würde nichts bringen. Krohmer hatte sie herzitiert und er war nun mal der Chef.
Frau Gutbrod rümpfte die Nase über die tiefe Stimme und die Ausdrucksweise von Frau Struck, die keinen Deut besser zu sein schien als ihre Vorgängerin Viktoria Untermaier. Tatjana Struck hieß die Frau also. Sie hatte den Namen noch nie gehört. Wo kam sie her? Was hatte sie vorzuweisen? Die Neue stand plötzlich auf, kam einen Schritt auf Frau Gutbrod zu und sah ihr direkt in die Augen. Tatjana hasste es, wenn sie angestarrt wurde. Das war doch kein Benehmen! Sekundenlang war es mucksmäuschenstill. Alle waren gespannt, was zwischen den beiden Frauen passieren würde. Nur Krohmer bemerkte nichts. Hilde Gutbrod setzte sich schließlich, und auch Tatjana gab nach. Eins stand fest: Die beiden würden keine Freunde werden.
„Geben Sie Frau Gutbrod das Rätsel. Ich bin gespannt, was es damit auf sich hat,“ drängelte Krohmer.
Frau Gutbrod erschrak, als sie die wenigen Worten überflog. Ängstlich sah sie Krohmer an.
„Was ist los?“
„Das wird Ihnen nicht gefallen Chef, lesen Sie selbst.“
„Den alten Sultan schieß ich morgen tot, der ist zu nichts mehr nütze!“ 20865169
Krohmer war blass geworden, die Sache war offensichtlich ernster, als er angenommen hatte.
„Verstehe ich das richtig? Jacob soll morgen erschossen werden?“
„Nun mal ganz langsam,“ unterbrach Leo, der nicht an einen vorhergesagten Mord glauben wollte. „Bisher haben wir nur einen Satz, mehr nicht. Wie sieht es aus Frau Gutbrod, könnte dieser Satz aus einem Märchen stammen?“ Leo hatte die ehemalige Sekretärin beobachtet, die sofort zu einem Buch griff und hektisch darin blätterte.
„Ich bin mir sicher, dass die Stelle zu dem Märchen Der alte Sultan gehört,“ sagte sie und fand endlich die richtige Zeile. „Hier habe ich es. Ich lag richtig mit meiner Vermutung: Eine Textzeile aus dem Märchen Der alte Sultan. Es ist von den Gebrüdern Grimm und steht an 48. Stelle.“
„Klären Sie uns mit wenigen Worten über den Inhalt auf,“ sprach Krohmer den anderen aus der Seele, die ebenfalls keine Ahnung hatten, worum es in dem Märchen ging.
„Sultan ist ein alter Hofhund, der aufgrund seines Alters erschossen werden soll, da er den Bauern keine Dienste mehr leisten konnte. Sultan hatte die Worte des Bauern gehört und klagte dem Wolf gegenüber sein Leid. Der Wolf hatte Mitleid und heckte mit Sultan einen Plan aus. Dieser bestand darin, dass der Wolf den unbeaufsichtigten Säugling der Bauern stehlen soll. Sultan sollte ihm bellend hinterher und den Säugling retten. Der Plan ging auf und Sultan bekam aus Dankbarkeit sein Gnadenbrot auf dem Hof. Der Wolf kam eines Tages und bat Sultan wegzusehen, wenn er sich ab und zu ein fettes Schaf holen wollte. Aber Sultan dachte nicht daran, er stand loyal zu seinem Herrn und verriet den Wolf. Daraufhin forderte der Wolf ihn zusammen mit einem Wildschwein heraus, wohl wissend, dass der zahnlose, alte Sultan keine Chance hatte. Sultan fand nur in einer dreibeinigen Katze Beistand und ging zum vereinbarten Treffpunkt. Durch den von Schmerzen geplagten Gang der Katze streckte diese den Schwanz nach oben, dadurch vermuteten der Wolf und das Wildschwein, die beiden führen einen Säbel mit sich. Die Katze sah durch den Gang der drei Beine so aus, als sammelte sie auch noch jede Menge Steine auf, die sie dann auf die beiden werfen wollte. Das Wildschwein versteckte sich im Laub und der Wolf sprang auf einen Baum. Das Wildschwein hatte sich nicht ganz verstecken können, ein Ohr ragte heraus. Es bewegte sich und die kurzsichtige Katze dachte, das sei eine Maus. Sie sprang darauf zu und biss herzhaft hinein, worauf sich das Wildschwein erschrak und davonrannte. Als Sultan und die Katze den Wolf auf dem Baum entdeckten, schämte sich der Wolf und bot Frieden für alle Zeit an.“
„Ich muss zugeben, dass das Märchen nicht nur leerreich, sondern auch sehr amüsant ist,“ sagte Krohmer überrascht, der sich aber trotzdem nicht mit Märchen anfreunden konnte. „Könnte mit dem Märchen auch ein Tierheim, ein Gnadenhof oder etwas Ähnliches gemeint sein?“
„Könnte sein. Warum nicht?“
„In unserem Zuständigkeitsbereich haben wir fünf Tierheime und zwei Gnadenhöfe,“ sagte Werner, der die Informationen hierüber im Internet fand. Werner hatte immer ein Tablet bei sich, ohne dies schien er nicht lebensfähig. „Ein Gnadenhof ist bei Winhöring, der andere ist in Landshut.“ Er notierte die beiden Adressen.
„Teilen Sie sich auf und nehmen Sie sich zuerst die Gnadenhöfe vor. Danach sind die Tierheime dran.“
„Was ist mit den Freunden? Sollten wir uns die nicht zuerst vornehmen?“ Tatjana befand, dass das mit den Gnadenhöfen und Tierheimen in eine völlig falsche Richtung führte und sie dadurch nur unnötig Zeit vertrödelten. Aber Krohmer war nun mal der Chef.
„Die Freunde können noch warten, der Hinweis geht vor. Bevor Sie aufbrechen, möchte ich noch über diese Zahlen sprechen. Was haben sie zu bedeuten?“ Krohmer war erschrocken, dass auch auf dem neuen Zettel abermals Zahlen notiert wurden. Und wieder handelte es sich um eine 7-stellige Zahl.
Auch die anderen hatten sich bereits Gedanken darüber gemacht und konnten sich keinen Reim darauf machen. Tatjana hatte sich mit Fuchs darüber unterhalten, der ebenfalls nichts damit anfangen konnte. Er versprach ihr, sich darum zu kümmern.
Krohmer blieb nichts anderes übrig, als das Ehepaar Winzl zu informieren, er hatte sein Wort gegeben. Das würde nicht leicht werden, denn er hatte nichts als den neuen Hinweis, von dem er noch nicht einmal wusste, ob sie damit richtig lagen. Aber das würde sich in Kürze herausstellen. Zuerst wollte er Alfred Winzl anrufen, entscheid dann aber spontan, das Ehepaar Winzl zuhause aufzusuchen, da er in der Gegend noch einen Termin hatte, den er sehr gut damit verbinden konnte.
Krohmer hatte seinen Besuch nicht angemeldet und musste lange klingeln, bis Frau Winzl öffnete. Er war sich sicher, dass jemand zuhause war, denn im oberen Stock hatte sich die Gardine bewegt.
„Herr Krohmer? Entschuldigen Sie, dass Sie warten mussten, ich hatte mich hingelegt. Ich habe Iris nach Hause geschickt, mein Mann ist auch weg. Ich bin hier allein…“
„Verständlich,“ sagte Krohmer freundlich, obwohl ihm die Nervosität der Frau sehr merkwürdig vorkam. Frau Winzl machte keine Anstalten, ihn ins Haus zu bitten, was ihn zusätzlich irritierte. Er informierte Frau Winzl an der Haustür über die wenigen Worte des Schreibens, das seine Leute am Wasserturm in Graming gefunden haben. Auch Frau Winzl sagten die Worte nichts. Sie kannte zwar das Märchen vom alten Sultan, verstand aber den Zusammenhang mit ihrem entführten Sohn nicht. Lotte Winzl war sehr unkonzentriert und zupfte ständig an ihrem eleganten Bademantel. Krohmer spürte, dass sie nicht mit ihm sprechen wollte und entschied wieder zu gehen.
„Wo finde ich Ihren Mann?“
„Wo soll er schon sein? In der Firma natürlich!“ sagte sie schroff. Sie war erleichtert, als sie die Haustür hinter ihm endlich schließen konnte. Zur Sicherheit legte sie die Kette vor.
„Ist er weg?“ fragte der junge Mann, der nackt die Treppen herabstieg.
„Ja.“
„Etwas Wichtiges?“
Sie wollte ihm nicht antworten. Warum sollte sie ihn damit belasten?
Krohmer stieg in seinen Wagen und notierte sich das Kennzeichen des Motorrollers, der hinter dem Gebüsch parkte. Es war offensichtlich, dass der Roller versteckt wurde, ihm aber wegen der auffälligen Farbe nicht entging. Frau Winzl war nie und nimmer allein im Haus.
Alfred Winzl las wieder und wieder den Zettel, dem Krohmer ihm übergeben hatte. Der Firmenchef schien um Jahre gealtert.
„Märchen haben mich noch nie interessiert, dafür hatte ich auch keine Zeit. Können Sie sich vorstellen, wieviel Zeit und Kraft man in eine Firma stecken muss, die man aus dem Nichts aufbaut? Da darf man keine Hobbys haben und sich nicht vergnügen, da muss man Kräfte sammeln und das Augenmerk nur auf die Firma legen. Märchen! Wer hat denn so einen Faible dafür, dass er Spuren legt, nachdem er meinen Sohn entführt hat?“
„Das frage ich Sie, Herr Winzl.“
„Ich kenne niemanden, der sich mit Märchen beschäftigt, dazu bin ich in der falschen Branche. Ich handle mit Schrott und Eisenwaren, und das inzwischen weltweit.“
„Das ist sehr beachtlich. Kommen wir auf die Märchen zurück. Sie gehen von einem Mann als Täter aus?“
„Wenn es um die Entführung geht: Ja. Aber die Märchen sind doch eher etwas für Frauen. Vielleicht ein Pärchen?“
„Mag sein. Haben Sie sich nochmals Gedanken darüber gemacht, wer Jacob entführt haben könnte?“
„Ich denke an nichts anderes, aber mir fällt niemand ein.“
Krohmer überlegte einen Moment, ob er Winzl auf ein eventuelles Verhältnis seiner Frau ansprechen sollte, entschied sich aber dagegen. Die beiden mussten mit dem Verschwinden ihres Sohnes klarkommen, dazu brauchten sie nicht auch noch einen Ehestreit.
Als Krohmer gegangen war, gingen ihm tausend Gedanken durch den Kopf. Es ging ihm schlecht und er fühlte sich außerstande zu arbeiten, was bis dato noch niemals passiert war. Er gab Anweisung, keine Telefonate durchzustellen und ihn nicht zu stören. Wo war sein Sohn? Wer hatte ihn entführt? Er überlegte lange und war sich sicher: Es ging nicht um Jacob, es ging um seine Frau, auch wenn er den Schwachsinn mit dem Märchen nicht verstand. Die alte, längst vergessene Geschichte war mit einem Schlag wieder da. Seinem Sohn konnte er im Moment nicht helfen, darum kümmerte sich die Polizei. Aber er konnte seine Frau beschützen. Zuerst brauchte er Gewissheit, ob er es auch so war, wie er vermutete.
Er stand auf und drehte den Schlüssel im Schloss seiner Bürotür, er konnte keine Zeugen brauchen. Mit zitternden Händen wählte er die tschechische Telefonnummer, die er auswendig konnte.
„Hier Winzl. Diesmal geht es nicht um Medikamente. Ich brauche in einem speziellen Fall Ihre Hilfe.“
„Um was geht es?“
„Um Matej Horak. Der Mann ist Ihnen ein Begriff?“
„Natürlich.“
„Es sieht so aus, als wäre er in Deutschland aufgetaucht. Ich brauche Informationen.“
„Verstehe. Das wird nicht billig.“
„Geld spielt keine Rolle.“
„Das höre ich gern. Ich kümmere mich darum und melde mich wieder.“
Winzl legte auf. Wenn es wirklich so war, dass Horak sie aufgespürt hatte und sich hier in der Gegend aufhielt, dann würde er es sehr bald erfahren.
4.
Leo und Hans fuhren auf den Gnadenhof bei Winhöring und wurden sofort von drei Eseln und einem alten Gaul begrüßt, die neugierig ihre Köpfe über den Holzzaun reckten. Aus dem alten Bauernhaus trat ein älterer Mann zu ihnen. Hans und Leo wiesen sich aus.
„Ich bin Stephan Koch, ich führe den Gnadenhof zusammen mit drei Mitarbeitern und acht Freiwilligen. Was will die Kriminalpolizei? Hat uns wieder jemand angezeigt?“
„Nicht, dass ich wüsste. Wir sind aus einem anderen Grund hier. Ist Ihnen in letzter Zeit irgendetwas Merkwürdiges aufgefallen? Bekamen Sie seltsame Post? Wurde irgendwo ein Zettel angebracht?“
„Deshalb sind Sie hier? Dann war dieser Zettel, den ich gestern an der Haustür fand, doch kein dummer Scherz?“
„Haben Sie den noch?“
„Habe ich in die Mülltonne geworfen. Wenn ich gewusst hätte, dass sich die Polizei dafür interessiert…“
„Wo ist die Mülltonne?“
„Dort hinten. Wollen Sie die etwa durchsuchen?“
„Es wird uns nichts anderes übrig bleiben.“
Stephan Koch sah den beiden Kriminalbeamten hinterher. Obwohl sein Job auf dem Gnadenhof ein richtiger Knochenjob war, der nie endete, beneidete er die beiden Polizisten nicht um ihren Job; er kannte den Inhalt der Mülltonne.
Leo und Hans wühlten mit Handschuhen in der stinkenden, randvollen Mülltonne. Beide schimpften und fluchten, denn die Leute hier benutzten keine Müllbeutel, sondern warfen alles ohne Verpackung in die Tonne.
„Ich habe ihn,“ rief Leo, der schon mehrmals mit einem Würgereiz zu kämpfen hatte. Er hielt einen mit Essensresten und sonstigen undefinierbaren Stoffen durchtränken Zettel in die Luft. Hans nahm eine Tüte und beide versuchen, den Zettel ohne Schaden darin zu verstauen.
„Da kann man kaum etwas lesen,“ sagte Hans und hob den Zettel in der Luft hin und her. „Vielleicht kann Fuchs was damit anfangen.“
Leo informierte Tatjana.
„Da habt ihr ja Glück gehabt, Werner und ich sind völlig umsonst nach Landshut gefahren. Dazu mussten wir uns von dem unfreundlichen Personal auch noch dumm anquatschen lassen. Die haben uns für vollkommen verrückt gehalten und haben uns beschimpft. Es hätte nicht viel gefehlt, und sie hätten uns vom Hof gejagt.“ Werner hörte die Worte seiner Kollegin Tatjana und schüttelte den Kopf. Wenn sie nicht so plump und unfreundlich vorgegangen wäre, hätte das Personal ganz sicher anders reagiert. Tatjana hatte die Angewohnheit, immer mit der Tür ins Haus zu fallen und alle vor den Kopf zu stoßen, was nicht jedem gefiel. Sie war selbst schuld an dem Verhalten!
„Wir bringen den Zettel zu Fuchs,“ sagte Hans, der sich in seinen stinkenden Klamotten sehr unwohl fühlte.
„Auch wenn es schon spät ist, schlage ich vor, dass wir uns die Freunde von Jacob Winzl vornehmen.“
„Meinetwegen. Wie sollen wir vorgehen?“
„Ich nehme an, dass wir die meisten in dieser Münchner Disco antreffen. Der Rest dürfte zuhause sein, es sind Semesterferien. Ich würde freiwillig die Disco übernehmen.“ Tatjana hatte sich noch keine Gedanken darüber gemacht, welchen Part sie übernehmen wollte, es war ihr auch egal. Befragungen sind alle gleich, wobei die Lokalität keine Rolle spielte.
Hans widersprach sofort. Tatjana konnte er sich beim besten Willen nicht in einer Nobeldisco vorstellen.
„Die Disco würde ich zusammen mit Leo übernehmen,“ sagte Hans. „natürlich nur, wenn du nichts dagegen hast. Leo und ich stinken wie die Pest und müssen uns erst restaurieren. Dann fahren wir in aller Gemütsruhe nach München. Vor 23.00 Uhr dürfte im Point X nicht viel los sein. Das wird eine kurze Nacht.“
Tatjana wollte anfänglich protestieren. Sie mochte es nicht, wenn man ihr widersprach. Aber warum sollte sie sich freiwillig die Nacht um die Ohren schlagen?
„Einverstanden. Ich klappere mit Werner die hiesigen Adressen ab. Du rufst mich auf jeden Fall an, wenn ihr in München fertig seid. Ich bin gespannt, was euch erwartet. Viel Spaß in München!“
„Versprochen. Auch euch viel Glück!“
Krohmer hatte nach seiner Rückkehr sofort das Kennzeichen des Motorrollers überprüfen lassen. Er gehörte einem Miguel Sanchez, 31 Jahre alt, gebürtiger Brasilianer und seit elf Jahren in Deutschland; er wurde bisher polizeilich nicht auffällig. Er arbeite in dem Delikatessengeschäft Ried in Ampfing. Für Krohmer lag auf der Hand, dass der junge Mann der Liebhaber von Lotte Winzl war. Warum sonst hätte Frau Winzl dessen Anwesenheit verschweigen sollen? Und warum sonst parkte der Motorroller hinter dem Gebüsch? Nicht, dass Krohmer etwas dagegen hätte oder das Verhältnis verurteilte. Das war Privatsache und musste jeder für sich entscheiden, das ging ihn nichts an. Aber er war sauer, dass Frau Winzl kein Wort darüber verlor und ihm heute dreist ins Gesicht gelogen hatte. Und das, obwohl seine Leute mit Hochdruck nach ihrem Sohn suchten. Er fühlte sich veräppelt und dazu musste er sich die feine Dame nochmals vornehmen. Aber das konnte bis morgen warten, für heute hatte er genug. Er sehnte sich nach einem ruhigen Abend mit seiner Frau vor dem Kamin bei einem guten Glas Rotwein, was leider noch warten musste. Sein letzter Weg für den heutigen Tag führte ihn zur Spurensicherung, denn Fuchs hatte sich bezüglich des Laptops und des Notizbuches noch nicht gemeldet. Fuchs war erstaunt, als Krohmer sein Büro betrat.
„Sie können sich vorstellen, warum ich hier bin?“
„Der Laptop und das Notizbuch,“ maulte Fuchs, der beides bereits untersucht, den Bericht aber noch nicht fertig hatte. Konnte der Chef nicht warten?
„Was haben Sie,“ stöhnte Krohmer müde und setzte sich auf den alten Stuhl, der fast unter seinem Gewicht zusammenbrach. Mehrfach hatten sich Mitarbeiter über die marode Ausstattung des Büros mokiert, aber Fuchs befand eine Renovierung als vollkommen überflüssig. Für ihn war das Büro ein Ort des Schaffens, und keine Wellness-Oase.
„Jacob Winzl hat offensichtlich ein Faible für das weibliche Geschlecht, die Foto-Datenbank ist voller junger Mädchen; keine Namen oder Adressen. Auf der Festplatte befinden sich Arbeiten für die Uni, die gelinde gesagt sehr dürftig sind.“ Fuchs machte keinen Hehl daraus, dass ihm die stümperhaften Arbeiten des Studenten missfielen. So etwas hätte er bei seinen Mitarbeitern nicht durchgehen lassen. Jacobs Arbeiten waren einfach verfasst, voller Fehler und persönlicher Meinungen. Aus vielen Themen hätte man sehr viel mehr machen können. Aber den Inhalt zu bewerten war nicht seine Aufgabe. „Außer der Liste der Freunde, die Ihnen bereits vorliegt, gibt es Adressen und Nummern von vier Ärzten. Diese Liste hier dürfte für Sie von Interesse sein.“ Fuchs übergab seinem Chef das aufgeschlagene Buch. Nummern und dahinter Geldbeträge. Krohmer runzelte die Stirn.
„Das sieht so aus, als ob Jacob nebenher Geschäfte getätigt hatte.“
„So sehe ich das auch. Wobei wir nicht von größeren Geschäften sprechen, die Beträge gehen jeweils kaum über 200 € hinaus. Meist sind sie nur im zweistelligen Bereich.“
„Sonst noch etwas?“
„Das war’s, mehr gibt es nicht.“ Was hatte sich der Chef gedacht? Dass er ihm die Lösung des Falles auf dem Silbertablett servierte? Fuchs nahm das Notizbuch wieder an sich und schrieb seinen Bericht weiter. Er hoffte darauf, dass der Chef selbst bemerkte, dass er mit seinen Ausführungen zu Ende war.
Krohmer wartete noch. Das war tatsächlich alles? Junge Leute arbeiteten heute doch nur noch mit Handys und Computern und speicherten darauf alles möglich ab. Nur Jacob nicht. Warum? Er war enttäuscht, er hatte sich weit mehr versprochen.
5.
Für die anderen war der Feierabend noch lange nicht in Sicht.
Hans und Leo fuhren nach einer langen Dusche und aufgebrezelt wie selten nach München in die Nobeldisco Point X, wo sie hofften, den größten Teil der Freunde anzutreffen. Entgegen seiner sonstigen Gewohnheiten hatte Leo den noblen Anzug aus dem Schrank geholt, den er sonst nur zu ganz besonderen Anlässen anzog. Er drehte sich vor dem Spiegel und war zufrieden. War er sogar ein wenig aufgeregt? Es war lange her, dass er in einer Disco war. Und es war lange her, dass er überhaupt ausgegangen war, weder beruflich, geschweige denn privat. Hans war überrascht über Leos Aussehen, als er ihn sah und verkniff sich eine dumme Bemerkung.
„Warum hast du darauf bestanden, dass wir beide in die Disco fahren,“ fragte Leo, als sie ihr Ziel fast erreicht hatten.
„Weil Tatjana mit ihrem schäbigen Outfit niemals in die Disco reingelassen wird, auch nicht mit ihrem Polizeiausweis. Hast du ihren Pullover gesehen? Darauf prangt ein riesengroßer Elch mit einer 3D-Nase.“
„Das ist modern, das verstehen wir nicht,“ lachte Leo, der sich längst an die verrückte Kleidung der 36-jährigen Frau gewöhnt hatte.
Der Türsteher sah die Polizisten abschätzend an, die Ausweise interessierten ihn nicht. Über das kleine Mikro, das an dessen Revers angebracht war, rief er den Geschäftsführer, der nach wenigen Minuten genervt an der Tür erschien und die beiden zur Seite zog.
„Was will die Kripo hier? Hören Sie: Heute ist Donnerstag und der Laden ist wie immer brechend voll. Ich werde gebraucht! Kommen Sie morgen ab 10.00 Uhr wieder, dann können wir uns in Ruhe unterhalten,“ sagte der chic gekleidete Mann, der sich ihnen als Gernot Prinz vorstellte. Nach dem sächsischen Akzent zu urteilen, den er nicht verbarg, war er ganz sicher kein gebürtiger Münchner.
„Sie haben nicht zugehört,“ sagte Leo gereizt, der solche überheblichen Typen nicht mochte. „Wir wollen nicht zu Ihnen.“
„Nicht?“ Erst jetzt war Prinz aufmerksam und starrte Leo an. „Was wollen Sie dann?“
„Labern wir nicht lange herum. Wir suchen Gäste von Ihnen und dazu wollen wir hier rein.“
„Das geht nicht!“ rief Prinz empört und der kleine, hagere Mann baute sich vor Leo auf, der ihn um zwei Köpfe überragte. „Sie können hier nicht einfach reinmarschieren und meine Gäste belästigen. Suchen Sie ihre Leute, wo Sie wollen, aber nicht bei mir!“
„Gut, wie Sie wollen. Dann werden wir den Laden eben hochnehmen. Was glauben Sie, wie sich das in der Presse macht?“ Leo hatte seinen Spaß daran, den kleinen Mann zu ärgern.
„Wir versprechen, dass wir diskret vorgehen. Niemand wird bemerken, dass die Polizei hier ist,“ beschwichtigte Hans, der die Bedenken des Betreibers sehr gut nachvollziehen konnte.
„Sie haben gewonnen. Suchen Sie, wen und was Sie wollen. Ich verlasse mich auf Sie: Sie verhalten sich unauffällig!“
Prinz war verschwunden und der Türsteher, der optisch dem üblichen Klischee entsprach, ließ die beiden Polizisten mit einem missfallenden Blick hinein. Hans bedankte sich freundlich bei ihm, was den Mann noch wütender machte.
Auf der Suche nach der Freundesgruppe mussten sich Hans und Leo durch riesige Menschenmassen quälen, wobei sie mit überlauter Musik beschallt wurden. Leo spürte den Bass bis in seinen Magen. Endlich erkannten sie die Freunde Jacobs, die im VIP-Bereich bei Champagner zusammensaßen und sich amüsierten. Insgesamt waren hier sechs Personen versammelt, die ganz sicher Jacobs Freunde waren, denn Leo und Hans hatten sich die Fotos aller eingeprägt. Einen davon kannte Hans. Es war Wiegald Schönfeldt, Sohn des Mühldorfer Bauunternehmers Heribert Schönfeldt, der mit ihm zur Schule gegangen war. Wiegald war ein ähnliches Früchtchen wie Jacob Winzl. Leo versuchte, mit einem von ihnen zu sprechen und brüllte ihm ins Ohr, aber der verstand ihn nicht. Erst, als Leo seinen Ausweis vorzeigte und Zeichen gab, ihm zu folgen, verstand der junge Mann und alle sechs, vier Männer und zwei Frauen, folgten ihm und Hans nach draußen vor die Tür. Leo sog die frische Luft tief ein und genoss es, der Enge und der wahnsinnigen Lautstärke entkommen zu sein. Hans hingegen machte die Atmosphäre nichts aus; er verkehrte öfter in Discos und fühlte sich unter Menschenmassen wohl.
„Es geht um Jacob?“ sagte Wiegald, der sich schnell als Anführer der Gruppe herauskristallisierte. „Was hat er angestellt?“
„Jacob ist verschwunden, seine Eltern machen sich große Sorgen.“ Es folgte ein Gegröle und Witze über die Familie Winzl. So groß konnte die Freundschaft also nicht so sein.
„Bitte Leute, die Lage ist ernst. Wir müssen davon ausgehen, dass Jacob entführt wurde. Das Ehepaar Winzl hat ein Schreiben gefunden, das auf eine Entführung hindeutet,“ versuchte Hans, an die Vernunft zu appellieren.
„Blödsinn! Wer sollte ihn entführen? Und warum?“
„Bestimmt nicht wegen dem Lösegeld. So reich sind die Winzls nun auch wieder nicht. Schließlich handeln die nur mit Schrott, quasi Müll, und der ist nicht viel wert.“
Wieder lachten alle und machten Witze über die vermeintliche Entführung. Verstanden die jungen Leute nicht oder wollten sie nicht verstehen? Hans beobachtete die Freunde genau und stellte fest, dass alle unter starkem Alkoholeinfluss standen, wenn nicht sogar illegale Substanzen im Spiel waren. Er hatte nicht übel Lust, alle einem Drogentest zu unterziehen. Aber was brachte das?
„Wann haben Sie Jacob zuletzt gesehen?“
„Vor vier Tagen. Bis dahin waren wir gemeinsam zum Skifahren in Kitzbühel. Mann, war das klasse! Wir haben fünf Tage durchgefeiert und haben es richtig krachen lassen, auch Jacob.“
„Ich habe ihn zuhause abgesetzt,“ sagte eine junge Frau mit starkem Make-up, die sich als Charly Heussler vorstellte. Ihr Vater war ein hohes Tier bei der Bank und trat gerne als Finanzspezialist in den Medien auf. „Sind Sie sicher, dass Jacob entführt wurde? Vielleicht macht er nur ein paar Tage blau?“
„Hätte er das Ihnen gegenüber nicht erwähnt?“
„Schon. Jacobs Eltern haben ein Bekennerschreiben gefunden? Das glaube ich nicht! Wenn Sie mich fragen, übertreiben seine spießigen Eltern maßlos. Sie haben ihren Sohn schon immer über die Maßen behütet. Jacob musste sich noch bis vor vier Jahren regelmäßig bei seinen Eltern melden und Bericht erstatten. Sie wussten eigentlich immer über jeden seiner Schritte Bescheid. Es stand sogar schon zur Debatte, ob für ihn ein Leibwächter engagiert werden sollte, als er in München sein Studium begann. Es gibt sogenannten Helikopter-Eltern, die ihre Fürsorge maßlos übertreiben; aber Jacobs Eltern haben die noch übertroffen. Jacob hat einige Jahre gebraucht, bis sie ihn in Ruhe ließen und er sein Leben endlich genießen konnte. Ich glaube an keine Entführung, Jacob ist bestimmt mit einer neuen Flamme unterwegs. Er lässt nichts anbrennen und nimmt alles mit.“ Das klang etwas verbittert, was die Freunde aber nicht merkten. Die stimmten sofort zu und machten abermals billige Witze auf Kosten Jacobs, die immer mehr unter die Gürtellinie gingen.
Das hier hatte keinen Sinn. Die jungen Leute waren nicht ganz bei sich und eine Befragung schien unmöglich, obwohl Charly Heussler einen sehr vernünftigen Eindruck machte. Aber sie allein hier vor den Freunden weiter zu befragen, machte ebenfalls keinen Sinn. Wiegald Schönfeldt drängte darauf, endlich wieder reinzugehen und weiter zu feiern. Schließlich waren Semesterferien.
„Ich möchte Sie bitten, morgen Nachmittag in Mühldorf zu erscheinen,“ sagte Hans und gab jedem eine Visitenkarte. Er hoffte darauf, dass bis dahin alle wieder bei klarem Verstand waren. Wieder folgten Gelächter, Gegröle und Witze. „Sollten Sie dort nicht auftauchen, wird das für Sie sehr unangenehm werden.“
Jetzt empörte sich die Gruppe und es fielen Wörter wie Scheißbullen, Anwalt, Konsequenzen und ähnliche Drohungen, die Leo und Hans nicht interessierten. Sie gingen zu ihrem Wagen.
„Fürchterliche Schnösel,“ schimpfte Leo und Hans dachte ähnlich.
„Mal sehen, ob ihnen morgen das Lachen vergeht. Wir werden sie getrennt befragen und setzen sie unter Druck. Hast du die Reaktion von dieser Charly bemerkt?“
„Klar! Auf die junge Dame freue ich mich besonders.“
Tatjana und Werner waren ebenfalls nicht erfolgreich. Sie trafen nur drei der Freunde an, die anderen beiden waren unterwegs, vermutlich waren sie Teil der Gruppe, die Hans und Leo in München antrafen. Die Eltern bzw. Vater oder Mutter waren nicht begeistert, dass die Kriminalpolizei vor der Tür stand. Sie schimpften und drohten, nachdem sie sich sofort vor ihre Kinder stellten, ohne zu wissen, um was es ging. Tatjana hatte keine Lust auf die wiederholten Drohungen und lud alle für den nächsten Tag vor.
„Und Sie meinen, dass Sie meinen Sohn so einfach zur Befragung zitieren können? Was glauben Sie eigentlich, wer Sie sind?“ Frau Korbmaier regte sich fürchterlich auf. Noch nie zuvor war die Kriminalpolizei bei ihnen gewesen.
„Ich weiß, wer ich bin,“ sagte Tatjana patzig und stritt mit Frau Korbmaier.
„Warum sagen Sie denn nichts dazu Herr Grössert?“ Es war klar, dass Frau Korbmaier Werner und dessen Eltern kannte, so wie man sich in der gehobenen Gesellschaft im Mühldorfer und Altöttinger Landkreis so kannte. Man traf sich bei Veranstaltungen und in privater Gesellschaft, pflegte so den Umgang untereinander und nutzte diese vor allem für den eigenen Vorteil.
„Sie kennen Jacob Winzl?“ fragte Werner ruhig. Er ließ sich nicht so leicht provozieren wie Tatjana, die bei jeder dummen Bemerkung sofort explodierte. Er blieb ruhig und sachlich.
„Natürlich kenne ich Jacob. Es geht um ihn? Deshalb sind Sie hier? Was ist passiert?“
„Laufende Ermittlungen Frau Korbmaier. Wenn es nicht ernst wäre, wären wir nicht hier. Wir müssen mit Konstantin sprechen.“
„Sie können sich darauf verlassen, dass mein Sohn morgen zu Ihnen kommt. Grüßen Sie Ihre Eltern,“ sagte Frau Korbmaier nicht weniger arrogant. Tatjana würdigte sie keines Blickes.
„So eine arrogante Brut,“ schimpfte Tatjana, als sie im Wagen saßen.
„Was hast du erwartet? Dass die Kriminalpolizei mit offenen Armen empfangen wird? Du darfst nicht vergessen, dass sich die meisten von ihnen den Wohlstand hart erarbeitet haben und zurecht stolz darauf sind, was sie geleistet haben. Natürlich wollen sie ihre heile Welt erhalten und sind nicht scharf darauf, wenn die Kriminalpolizei bei ihnen aus- und eingeht. Was glaubst du, wie schnell sich das hier herumspricht?“
„Trotzdem. Ich bleibe dabei: Das ist eine ekelhaft arrogante Brut!“
„Und trotzdem sind sie auch nur Eltern, die versuchen, ihre Kinder zu schützen.“ Werner hatte Verständnis und war nicht ganz so empfindlich wie seine Kollegin. Warum auch? Das änderte auch nichts an der Situation und verursachte nur schlechte Laune und Magenschmerzen.
Hans meldete sich wie versprochen mitten in der Nacht bei Tatjana und berichtete, dass sie sechs Freunde angetroffen hatten. Sie verglichen die Liste und stellten fest, dass alle Namen auf der Liste standen.
„Zumindest müssen wir niemandem hinterherrennen. Was haben die Befragungen ergeben?“
„Die jungen Leute waren für eine vernünftige Unterhaltung nicht zu gebrauchen. Wir haben sie für Freitagnachmittag in Mühldorf einbestellt.“
„Das passt. Die anderen kommen ebenfalls morgen. Mal sehen, ob was dabei herauskommt.“
Tatjana hatte bereits geschlafen, was sie nie zugeben würde. Sie sah auf die Uhr: 0:24 Uhr. Sie hatte noch die ganze Nacht vor sich.
Sie lag noch lange wach und die Gedanken um ihre Vergangenheit ließen sie nicht wieder einschlafen. Der Entführungsfall nagte mehr an ihr, als sie zugeben würde, denn sie fühlte sich an ihre eigene erinnert. Sie war damals noch so jung und musste Höllenqualen erleiden, unter denen sie heute zumindest seelisch immer noch zu leiden hatte. Wann hörte das endlich auf? Wann konnte sie endlich wie ein normaler Mensch leben? Sie hoffte darauf, dass der Neuanfang in Mühldorf ihr endlich zu einem ruhigen, zufriedenen Leben verhelfen würde. Aber immer wieder wurde sie an früher erinnert. Auch wenn sie sich noch so sehr bemühte, die Gedanken nicht zuzulassen, konnte sie es nicht vermeiden, nachts davon zu träumen. Und seit diesem Entführungsfall wurden die Träume wieder heftiger.
Trotz großer Bemühungen und anfänglicher Annäherung hielt sich Tatjana mit ihrem Privatleben in Mühldorf und den zaghaften Annäherungen zu ihren neuen Kollegen zurück. Beruflich hatten sie sich arrangiert, aber sie hatte immer eine Ausrede parat, wenn es um Verabredungen außerhalb des Präsidiums und der Arbeitszeit mit ihren Kollegen ging. Leo und Hans ließen sie in Ruhe und waren sich sicher, dass sie irgendwann auftauen würde. Werner hatte ihr Verhalten noch nicht bemerkt. Er hatte eine kleine Tochter, die mittlerweile fast ein Jahr alt war. Trotz ihrer Startschwierigkeiten gleich nach der Geburt entwickelte sie sich prächtig. Tatjana nahm sich vor, sich endlich zu öffnen. Sie musste sich Freunde suchen, die nichts mit ihrer Arbeit zu tun hatten und sich endlich ein funktionierendes Privatleben aufbauen. Das war leichter gesagt, als getan, denn sie hatte seit ihrer Entführung die größten Probleme damit, auf Menschen zuzugehen und zu vertrauen.
6.
Jacob Winzl war verzweifelt. Niemand war bisher gekommen und hatte ihn befreit. Wie viel Zeit mag vergangen sein? 3 Tage? 5 Tage? Eine Woche? Die Zeit kam ihm unendlich lange vor. Der Eimer mit seinen Ausscheidungen verpestete die Luft. Sollte er weiter in den Eimer urinieren? Niemand kam und leerte ihn.
Es lag auf der Hand, dass das hier kein dummer Scherz war. Man wollte ihm schaden. Würden die- oder derjenige so weit gehen und das Ganze bis aufs Äußerste treiben? Wer hatte so einen Hass auf ihn, dass man ihm das antat? Ging es um die Rache einer Frau? Gut, er hatte die Frauen nicht immer fair behandelt und war nur auf seinen eigenen Vorteil bedacht. Aber musste man ihn deshalb so quälen? Gedanklich ging er die Namen der Frauen durch und brachte sie mehr und mehr durcheinander. Er konnte sich unmöglich an alle erinnern. Es waren zu viele und sie waren sich zu ähnlich. Frauen, die es nur auf sein Vermögen abgesehen haben, gab es wie Sand am Meer. Er brauchte nicht einmal viel tun, damit sie sich für ihn interessierten, sie kamen von ganz allein. Sie unterschieden sich nicht großartig voneinander und waren deshalb alle austauschbar, ohne dass er sich hätte groß umstellen müssen. Püppchen, die sich den Schönheitsidealen der Medien anpassten und den neuesten Trends folgten. War es seine Schuld? Nein! Er war jung und ungebunden, und konnte schließlich machen, was er wollte. Warum sollte er sich rechtfertigen? Oder ging es nicht um die Frauengeschichten? Wollte sich jemand an ihm rächen, dem er auf den Schlips getreten war? Es stimmte, dass er sich oft Späße auf Kosten anderer erlaubte. War er jemals so weit gegangen, dass man ihn so bestrafen wollte? Er konnte sich nicht daran erinnern. Bei den meisten Späßen war er betrunken oder stand unter Drogen. War er dabei übers Ziel hinausgeschossen? Er konnte sich verdammt nochmal, nicht mehr erinnern! Warum klärte der- oder diejenige das Problem nicht mit ihm persönlich? Auch wenn er sich manchmal als Arschloch aufführte, konnte man doch immer mit ihm reden. Es war auch kein Problem für ihn, sich zu entschuldigen und er würde sich großzügig zeigen.
Je länger er sich die Bilder ansah und sich alle möglichen Fragen stellte, desto mehr befürchtete er, verrückt zu werden. Er versuchte, sich auf die Frau auf den Bildern zu konzentrieren, vielleicht fiel ihm ein Name ein. Die Mutter einer Verflossenen? Eine Lehrerin? Eine Bedienung oder Verkäuferin, über die er sich regelmäßig lustig machte? Verdammt, da gab es viel zu viele Möglichkeiten! Er sah ein, dass er sich Frauen gegenüber oft sehr schlecht benommen hatte. Nicht selten stahl er sich einfach so aus der Affäre und meldete sich nicht mehr, Tränen gingen ihm auf die Nerven. Er hasste es, wenn Frauen versuchten, sich an ihn zu binden. Vor allem hasste er es, wenn Verflossene ihm immer und überall auflauerten und versuchten, ihm ein Gespräch ans Bein zu binden. Er hatte für sich beschlossen, sich vor seinem 35. Geburtstag nicht zu binden, und bis dahin hatte er noch genug Zeit. Jacob schob die Gedanken an einen möglichen persönlichen Bezug zu ihm beiseite und besah sich die Bilder, denen er nicht entkam, neutral. Er stellte sich vor, dass das ein gähnend langweiliger Film mit fremden Darstellen sei; so ähnlich war es ja auch.
Wo waren seine Eltern? Wo waren seine Freunde? Hatten sie ihn bereits vermisst gemeldet? Ganz sicher haben sie das! Seine Eltern machten sich bestimmt schon große Sorgen. Und auf seine Freunde, die ähnlich dachten und handelten, konnte er sich verlassen.
Er schlief immer wieder ein. Der Hunger wurde schlimmer und das Wasser wurde immer weniger. Er musste dringend besser haushalten und begann, die Etiketten der Wasserflaschen mit dem Fingernagel einzuritzen und versuchte, sich an die selbst gesetzte Mindestmenge zu halten. Es waren nur noch zwei volle Flaschen mit je einem Liter übrig. Was passierte mit ihm, wenn das Wasser nicht nachgefüllt wurde, wenn das sein einziger Vorrat war? Wie lange würde es brauchen, bis er verdursten würde? Oder würde er vorher verhungern? Ihm wurde schlecht und er sah das Wasser mit anderen Augen, es war wertvoller als Gold. Wie würde es sein, langsam zu verdursten? Jacob zwang sich, die Gedanken aus seinem Kopf zu bekommen. Die Bilder der unbekannten Frau mit dem Säugling liefen unablässig und er hatte sich fast daran gewöhnt. Er gab auf, den Sinn hinter dem Ganzen zu verstehen und hatte begonnen, sich nur noch auf das zu fokussieren, was wichtig war: Nur noch zwei Liter Wasser! Das allein beschäftigte ihn…
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