Der 3. Fall aus der Leo-Schwartz-Krimireihe
1.
Leo Schwartz machte sich Sorgen um seinen Kollegen Hans Hiebler. Der 52-jährige, 1,80 m große und sportliche Mann, der sonst keine Gelegenheit ausließ, mit Frauen zu flirten, war seit gestern wortkarg und in sich gekehrt. Selbst vorhin in der Kantine, als Leo ihn auf eine neue Kollegin aufmerksam machte, zeigte der keinerlei Interesse. Er aß schweigend, wobei Leo den Eindruck hatte, dass es ihn nicht zu interessieren schien, was er aß, denn das Essen schmeckte furchtbar. Hans entschuldigte sich und brabbelte etwas von frischer Luft und einem Spaziergang. Hans und Spaziergänge?
Leo war gebürtiger Schwabe und lebte nun schon seit drei Monaten in Mühldorf am Inn. Er hatte immer in größeren Städten gelebt und für seine Begriffe befand er sich im tiefsten Bayern, wohin er von Ulm strafversetzt wurde. In seiner Personalakte wurde das natürlich anders formuliert, kam aber aufs Gleiche raus. Nach anfänglichen Schwierigkeiten hatte er sich gut eingelebt und in dieser Zeit auch mit Hans angefreundet. Die beiden verbrachten die Freizeit oft gemeinsam.
Leo gefiel es überhaupt nicht, wie Hans sich verhielt. Er war sicher, dass ihn etwas schwer belastet. Aber was? Mehrmals hatte er ihn darauf angesprochen, bekam aber keine vernünftige Antwort. Leo hatte genug und wollte der Sache nun endlich auf den Grund gehen. Er passte Hans auf dem Parkplatz vor dem Polizeigebäude ab.
„Was ist los mit dir? Und erzähl mir jetzt keinen Blödsinn, denn dass dich etwas beschäftigt, das sieht ein Blinder.“
Hans zögerte. Sollte er Leo die Wahrheit sagen?
„Ich werde dich so lange nerven, bis du mir endlich die Wahrheit sagst. Also, raus mit der Sprache!“
„Gut, wie du willst. Aber du wirst mich für verrückt oder sogar paranoid halten.“
„Erzähl jetzt endlich und schwafle nicht lange rum. Was ist los?“
„Ich habe eine tolle Frau kennengelernt, ihr Name ist Doris. Wir kannten uns sechs Wochen.“
Leo wurde sofort hellhörig. Hans verwendete die Vergangenheitsform und Leo ahnte nichts Gutes.
„Anfangs war meine Doris sehr schüchtern und zurückhaltend, aber wenn man sie aus der Reserve lockte, sehr witzig und amüsant; und dazu unglaublich hübsch, ohne dass sie es selbst wusste. Diesmal war es wirklich etwas anderes, ich habe mich richtig verliebt.“
„Das hört sich doch alles sehr gut an. Wo ist der Haken?“ Leo wurde schlecht.
Hans zögerte einen Moment und Leo sah, dass er Tränen in den Augen hatte. „Gestern wurde Doris tot aufgefunden.“
Leo musste schwer schlucken, damit hatte er nicht gerechnet. Vor allem der Gemütszustand von Hans und wie er von dieser Frau sprach, setzte ihm ganz schön zu.
„Das tut mir echt leid,“ sagte Leo. Etwas Besseres fiel ihm dazu nicht ein. Was hätte er auch sonst auf diese Nachricht sagen sollen?
„Natürlich bin ich sehr traurig über ihren Tod und weiß noch nicht, wie ich das verarbeiten soll. Es tut so weh, dass es mich beinahe zerreißt. Ich weiß nicht, wohin mit meinem Schmerz. Aber das ist es nicht allein, was mich belastet.“
Leo war erschrocken. Was kommt denn noch? Reichte der Tod der Freundin nicht?
„Die Altöttinger Kollegen, die den Fall bearbeiten, haben in Doris‘ Handy meine Nummer gefunden. Den ermittelnden Beamten kenne ich schon sehr lange und er hat mich über ihren Tod informiert. Die Todesursache war dem Arzt zufolge Herzversagen. Und das ist es, was mich nicht zur Ruhe kommen lässt, denn Doris war meiner Meinung nach vollkommen gesund. Sie hat mir gegenüber niemals eine Erkrankung erwähnt, obwohl wir uns stundenlang unterhalten haben und ich sie weiß Gott in- und wendig kannte. Ich bin auf ihrem Hof ein- und ausgegangen und habe dort sehr viel Zeit verbracht. Kein einziges Mal habe ich mitbekommen, dass Doris Medikamente eingenommen hat oder irgendwo welche herumgelegen wären. Ihr ist es auch niemals schlecht gegangen. In meinen Augen war sie ein Mädel vom Land, durch und durch kerngesund, ein richtiges Naturkind. Sie konnte zupacken, war bei schweren Arbeiten absolut nicht zimperlich. Sie war keine dieser Zicken, die sich für alles zu schade sind und sich dumm stellen. Sie war doch gerade mal 40 Jahre alt. Halt mich für verrückt, aber ich glaube nicht an diese Todesursache. Ich bin davon überzeugt, dass sie ermordet wurde.“
Hans sah Leo mit einem verzweifelten, flehenden Blick an; und Leo glaubte ihm seltsamerweise sofort.
„Hast du einen konkreten Verdacht? Eine Vermutung über ein mögliches Motiv?“
„Nein, habe ich nicht. Obwohl ich an nichts anderes mehr denken kann und mir den Kopf zermartere. Natürlich habe ich dem Altöttinger Kollegen sofort gesagt, dass ich nicht an eine natürliche Todesursache glaube, aber das hat ihn nicht interessiert. Der Totenschein zählt. Vermutungen interessieren die Polizei nicht, das brauche ich dir nicht zu sagen. Es gibt keine Ermittlungen in diesem Fall, das Ganze ist bereits abgehakt. Mir sind die Hände gebunden, ich kann nichts tun.“
„Was ist mit Viktoria? Hast du mit ihr schon gesprochen?“
Leo konnte sich die Antwort bereits denken. Seine Vorgesetzte Viktoria Untermaier war eine 47-jährige, 1,65 m große, etwas mollige und sehr attraktive Person, die sich streng an die Vorschriften hielt. Vor allem nach dem Fall auf dem Sinder-Hof bei Tüßling, bei dem sie ihrem Exmann die Nase brach und gerade noch so mit einem blauen Auge davonkam.
„Wo denkst du hin? Viktoria hält mich doch bestimmt für total bescheuert und darüber hinaus für befangen. Die Unterhaltung mit ihr kann ich mir lebhaft vorstellen. Du weißt doch selbst ganz genau, dass sie seit dem letzten Fall nur noch exakt nach Vorschrift handelt und nicht die kleinste Kleinigkeit durchgehen lässt. Bei Doris wurde eindeutig Herzversagen diagnostiziert und der Fall wurde zu den Akten gelegt. Außer meinen Zweifeln gibt es nichts, was eine Mordermittlung rechtfertigen würde. Viktoria legt sich niemals mit den Altöttinger Kollegen ohne hinreichende Verdachtsmomente an. In drei Tagen ist die Beerdigung. Ich bin davon überzeugt, dass Doris ermordet wurde, aber mir sind die Hände gebunden. Was soll ich nur machen?“
Hans brach nun völlig in sich zusammen, hielt sich die Hände vors Gesicht, drehte sich zur Seite und weinte. Leo war klar, dass umgehend gehandelt werden musste und entschied, Hans zu helfen.
„Wenn du Zweifel an der Todesursache hast und davon überzeugt bist, dass deine Doris getötet wurde, dann jammere hier nicht rum und verschwende wertvolle Zeit. Geh der Sache auf den Grund, du bist schließlich Polizist. Und selbstverständlich helfe ich dir.“
„Wirklich? Du glaubst mir und willst mir helfen?“
Hans war gerührt und erleichtert. Er hatte bereits schon darüber nachgedacht, auf eigene Faust zu ermitteln, aber alleine würde er das niemals schaffen. Vor allem zweifelte er ab und an schon selbst an seinem Geisteszustand und malte sich die schrecklichsten Szenarien und Möglichkeiten aus. Er konnte an nichts mehr denken und war kurz vorm Durchdrehen. Seine Doris wurde getötet und davon war er überzeugt. Jetzt, da er Leo an seiner Seite wusste und er sich mit dem Problem nicht mehr allein auseinandersetzen musste, ging es ihm etwas besser. Seit der Todesnachricht fühlte er sich, als würde ein schwerer Steinbrocken auf seine Brust drücken und er drohte, daran zu ersticken. Anfangs mochte er Leo eigentlich nicht besonders. Er war strafversetzt worden, den Grund kannte er immer noch nicht. Leo kam aus Ulm, wo er scheinbar eine ziemlich große Nummer war. Er ging ihm mit seinem schwäbischen Dialekt auf die Nerven, inzwischen fand er ihn lustig und hatte sich daran gewöhnt. Beruflich hatte sich Leo sehr schnell ins Team eingegliedert, war überhaupt nicht überheblich und hatte sich als sehr guter Polizist, Kollege und Freund entpuppt. Anfangs hatte Hans sich neben dem Dialekt fast für Leos Aussehen etwas geschämt, denn dieser trug immer Jeans, eine alte braune Lederjacke, immer das gleiche Paar braune Cowboystiefel, dazu entweder ein einfarbiges Hemd oder ein T-Shirt mit dem Aufdruck einer Rockband, von welchen er bislang nicht eine einzige kannte. Bei den Kollegen war ein regelrechter Wettbewerb entbrannt: Wer die nächste Rockband erkannte, hatte gewonnen. Zu dem ganzen Outfit war Leo ziemlich groß, nämlich 1,90 m, und dazu noch sehr dünn. Und über allem thronten die rappelkurzen, grauen Haare. Hinter vorgehaltener Hand machten sich anfangs einige Kollegen über Leo lustig, aber das hatte sich schnell gelegt. Einige schwäbische Ausdrücke und Bezeichnungen hatten sich sogar bereits in den täglichen Sprachgebrauch eingeschlichen und waren für alle normal geworden.
Nach der Aussage von Leo war Hans euphorisch.
„Du willst mir wirklich helfen? Dir ist klar, dass das illegal ist und wir uns auf sehr dünnem Eis bewegen? Wenn das rauskommt, dann ist nicht nur Viktoria stinksauer, sondern auch unser Chef. Aktionen hinter deren Rücken können beide überhaupt nicht leiden. Wenn du mir wirklich helfen willst, musst du dir das gut überlegen. Du hast schon einen Makel in deinem Lebenslauf, einen zweiten kannst du dir nicht leisten.“
„Das weiß ich. Du bist nicht nur mein Freund, sondern auch ein sehr guter Polizist. Wenn du wirklich der Meinung bist, dass da etwas nicht stimmt, dann glaube ich dir. Einen Mord unaufgeklärt unter den Teppich zu kehren ist so gar nicht mein Fall, das würde mir überhaupt nicht gefallen. – Pass auf Hans! Sieh dich nicht um! Frau Gutbrod beobachtet uns schon geraume Zeit, sie steht oben am Fenster. Außerdem ist die Mittagspause längst vorbei. Komm heute nach Dienstschluss zu mir, dort können wir reden. Und bei der Gelegenheit kannst du Tante Gerda mal wieder besuchen, sie hat dich schon vermisst, ständig erkundigt sie sich nach dir.“
„Alles klar, bis heute Abend. Und zu niemandem ein Wort.“
„Natürlich nicht.“
Leo wohnte in der ausgebauten Wohnung auf dem Hof von Tante Gerda, Hans‘ alter Tante. Der Hof befindet sich in idyllischer Lage vor Altötting. Hier in der Abgeschiedenheit konnten Leo und Hans in Ruhe sprechen, ohne belauscht oder gestört zu werden.
Hans ging es sehr viel besser. Erstens hatte er Leo an seiner Seite und war nun nicht mehr allein. Und zweitens bekam er die Chance, herauszufinden, wer seine Doris auf dem Gewissen hatte.
Mit Argusaugen hatte Hilde Gutbrod Leo und Hans beobachtet. Sie hatte die beiden immer im Auge und wartete darauf, dass sie sie beim Chef hinhängen konnte. Sie war beleidigt. Schwartz und Hiebler hatten ihre Nichte Karin verschmäht, für die sie dringend einen Mann suchte. Keine ihrer Einladungen wurde von den beiden angenommen und Frau Gutbrod war zwischenzeitlich davon überzeugt, dass sie im letzten Moment immer eine Ausrede parat hatten, um der Einladung nicht nachzukommen. Sie sah auf ihre Uhr: Gerade mal 8 Minuten über der Zeit. Das war zu wenig, um sie beim Chef anzuschwärzen, aber sie würde die beiden weiter beobachten. Die 60 Jahre alte, sehr schlanke und viel zu modern gekleidete Frau mit der jugendlichen Kurzhaar-Frisur, in der seit zwei Tagen lilafarbene Strähnen leuchteten, ging wieder an ihren Schreibtisch im Vorzimmer von Rudolf Krohmer, dem Chef der Polizeiinspektion Mühldorf. Auch die Arbeit lenkte sie nicht von ihrer Vermutung ab, dass mit den beiden Kollegen etwas nicht stimmte. Sie hatte Schwartz und Hiebler genau beobachtet. Sie war sich sicher, dass die beiden etwas im Schilde führten, denn die ganze Körpersprache und die Art, wie sie miteinander sprachen, waren überdeutlich. Sie musste unbedingt herausbekommen, was hier los war.
Der Nachmittag erschien für Hans endlos lange. Er konnte es kaum erwarten, ausführlich mit jemandem über seine Doris zu sprechen. Aber noch mehr brannte er darauf, mit Leo einen Plan zu entwickeln und endlich damit anzufangen, herauszubekommen, wer seine Doris ermordet hatte.
Tante Gerda kam freudestrahlend auf ihren Neffen Hans zugelaufen, als er gegen 19.00 Uhr in den Hof fuhr. Innig umarmte und herzte sie ihn und das tat ihm sehr gut. Sie machte ihm Vorwürfe, warum er sich so lange nicht hatte blicken lassen, obwohl Hans erst vor zwei Wochen hier war, was für seine Tante aber viel zu lange war. Sie sah ihren Neffen an. Und was sie sah, gefiel ihr nicht.
„Du siehst nicht sehr gut aus, mein Junge. Was bedrückt dich?“
Sie sah ihm in die Augen und wusste sofort Bescheid, denn ihr konnte man nichts vormachen, in Herzensangelegenheiten kannte sie sich aus.
„Alles in Ordnung, mach dir keine Sorgen.“
Hans streichelte den Hund Felix, der ihn ständig ansprang und endlich auch beachtet werden wollte. Felix war der neue Begleiter von Tante Gerda. Den Hund hatte Leo in erbärmlichem Zustand bei einem der letzten Fälle befreit und der lebte seitdem ein glückliches Leben. Felix wurde von Tante Gerda nicht nur verwöhnt, sondern hatte auch völlige Narrenfreiheit; er konnte tun und lassen, was er wollte. Inzwischen schlief er sogar bei Tante Gerda im Bett und lag auf der teuren, neuen Couch, die sich seine Tante kürzlich geleistet hatte.
„Ich bin mit Leo verabredet,“ sagte Hans knapp und Tante Gerda verstand sofort, dass die beiden allein sein wollten und etwas zu besprechen hatten. Sie kannte nicht nur ihren Neffen Hans sehr gut, sondern hatte in den letzten Monaten auch ihren Mieter Leo sehr gut kennengelernt, den sie ebenfalls in ihr Herz geschlossen hatte. Man brauchte ihr nichts sagen, sie sah es in den Augen der beiden: Hans hatte ein Problem und Leo wollte ihm dabei helfen. Um was es dabei ging, würde sie noch früh genug erfahren. Tante Gerda war eine sehr weise Frau, die jede Menge Erfahrungen gesammelt hatte. Hinter ihr lag ein sehr bewegtes Leben, von dem kaum jemand etwas wusste, nicht einmal Hans und dessen Familie; und dabei sollte es auch bleiben. Sie war weit gereist und hatte viel erlebt. Aber jetzt, im hohen Alter, hatte sie sich vor sechs Jahren diesen kleinen Hof gekauft und sich zur Ruhe gesetzt.
„Setz dich Hans. Erzähl nochmals ausführlich und in Ruhe von deiner Doris. Ich werde dir zuhören und erst später Fragen stellen.“
Leo hatte eine Flasche Wein geöffnet und lehnte sich mit seinem Glas in den bequemen Sessel zurück. Die kleine Wohnung im ersten Stock, die über eine Außentreppe zu erreichen war, war sehr geschmackvoll und gemütlich eingerichtet. Hier sah es fast so aus, wie in seiner alten Wohnung in Ulm, die er nur ungern aufgegeben hatte. Er war hier nicht mehr fremd, wozu vor allem Tante Gerda und beitrug. Die Umgebung um den Hof erinnerte Leo an seine geliebte Schwäbische Alb, die er unzählige Male mit dem Rucksack durchlaufen hatte und die er neben seinen Ulmer Freunden und Kollegen sehr vermisste. Erst vor zwei Wochen war er in Ulm gewesen und hatte ein Wochenende dort verbracht. Dabei hatte er sich eingestehen müssen, dass er sich abgenabelt hatte und nicht mehr nach Ulm gehörte.
Hans war nervös und wusste zunächst nicht, wo er anfangen sollte. Leo drängte nicht, sondern wartete geduldig.
„Ich habe Doris vor knapp sechs Wochen in einem Supermarkt in Mühldorf kennengelernt. Sie war zu klein, um an den Kaffee oben im Regal zu gelangen und ich habe ihr meine Hilfe angeboten. Später an der Kasse haben wir uns wiedergesehen. Du kennst mich, das war natürlich kein Zufall. Ich habe sie auf eine Tasse Kaffee eingeladen, was sie zunächst abgelehnt hatte, sie schien Angst vor mir zu haben. Verständlich, es laufen schließlich genug kaputte Typen rum. Ich gab nicht auf, diese Frau konnte ich mir nicht entgehen lassen. An einem Stand vorm Supermarkt habe ich Kaffee in Pappbechern gekauft und wir haben bei den Einkaufswägen den Kaffee getrunken und uns dabei blendend unterhalten. Daraufhin haben wir uns zum Abendessen verabredet. Was soll ich dir erzählen, du weißt doch selbst, wie so was läuft. Seit der Zeit waren wir unzertrennlich. Doris war wirklich etwas ganz Besonderes: intelligent, witzig, ein bisschen melancholisch und schüchtern, aber sehr zuverlässig und einfach sehr, sehr warmherzig. Keine von den oberflächlichen Tussen, die sich nur für banale Dinge interessieren. Wenn sie lachte, dann hatte sie so kleine Grübchen in den Wangen und kiekste ein wenig. Ihr war das peinlich, ich fand das umwerfend. Sie war wunderschön. Nichts an ihr war gekünstelt, alles war echt. Ich war mir bei ihr sicher, dass sie mich niemals anlügen oder mir etwas vormachen würde. Man konnte mit ihr über alles Mögliche sprechen, sie war in vielen Bereichen intelligenter und belesener als ich, konnte überhaupt nicht kochen und war etwas chaotisch. Was soll ich noch sagen, außer, dass ich sie sehr geliebt habe?“
Hans hielt kurz inne und musste tief durchatmen, denn vor Leo wollte er unter keinen Umständen erneut losheulen. Das heute auf dem Parkplatz der Polizei war ihm im Nachhinein sehr peinlich. Aber die Bilder in seinem Kopf wurden durch seine Beschreibungen so lebendig, als würde Doris direkt vor ihm stehen und ihn anlächeln Es tat so weh, dass sie nicht mehr da war, nicht mehr mit ihm lachte und er sie nicht mehr anfassen konnte.
Leo hatte Hans noch nie so reden hören, er muss Doris sehr geliebt haben. Hans hatte sich in den letzten Wochen rar gemacht und hatte immer blendende Laune. Leo hatte sich nichts dabei gedacht, schließlich war Hans einer der Typen, die mit einem sonnigen Gemüt gesegnet waren.
„Was war Doris von Beruf? Was weißt du über die Familienverhältnisse?“ Leo brauchte alle Informationen, die er kriegen konnte.
„Von Beruf war sie Krankenschwester und arbeitete im Krankenhaus Altötting. Der Schichtdienst war problematisch, aber wir haben das irgendwie hinbekommen und jede freie Minute genossen. Doris war nie verheiratet und hatte auch keine Kinder, obwohl sie sich immer welche gewünscht hatte. Ihre Eltern waren tot, starben kurz hintereinander. Sie hat den Hof geerbt, der seit Generationen in Familienbesitz ist. Ich weiß, dass sie einen Bruder hat, den erwähnte sie einmal beiläufig; seinen Namen habe ich vergessen. Die beiden hatten seit Jahren keinen Kontakt mehr. Warum, kann ich dir nicht sagen. Mehr weiß ich über die Familienverhältnisse nicht. Genaueres erfahren wir eventuell aus der Polizeiakte.“
Hans zog aus seiner Jackentasche ein Bündel Papiere hervor.
„Woher hast du die?“ Leo war sofort aufgesprungen. „Sag mir jetzt bitte nicht, dass du die Unterlagen geklaut hast?“
„Wie es der Zufall will, musste ich heute zu den Altöttinger Kollegen. Ich wusste ja, wer den Fall bearbeitet hatte. Bei einer günstigen Gelegenheit konnte ich die Unterlagen, na sagen wir mal, kurz ausleihen. Aber keine Angst, das sind nur Kopien, die Originale sind wieder an ihrem Platz. Bis auf die Fotos, die habe ich mitgehen lassen. Wenn ich die kopiert hätte, hätten wir darauf nur wenig erkennen können.“
„Du bist doch komplett irre! Was, wenn dich jemand gesehen hätte?“
„Keine Sorge, das hat niemand mitbekommen. Sich jetzt noch darüber aufzuregen, ist Zeitverschwendung. Ich habe die Informationen, die wir brauchen, und damit basta. Ich habe die Unterlagen selbst noch nicht gelesen, ich bin von der Altöttinger Polizei direkt hierhergefahren.“
Leo war entsetzt, welche Risiken Hans auf sich nahm. Schon alleine die Tatsache, die Unterlagen zu entwenden und dann auch noch Kopien davon anzufertigen: Der blanke Wahnsinn! Allerdings bestätigte das nochmals, wie sehr Hans davon überzeugt war, dass seine Doris umgebracht wurde.
Beide lasen den Inhalt der Unterlagen, die sehr nichtssagend waren. Die wenigen Fotos, die von der Toten gemacht wurden, versetzten Hans einen Stich im Herzen und er musste sich zusammenreißen. Seine Freundin tot zu sehen, war für ihn kaum zu ertragen. Leo halfen die Fotos sehr, um sich ein Bild von der Toten und von dem Tatort zu machen: Doris Stöger lag auf dem Küchenboden. Sie trug einen Bademantel und ein Nachthemd, offensichtlich war sie gerade aufgestanden. Aus dem Bericht des Arztes Dr. Brunnmeister, der seine Praxis in Burgkirchen hatte, war zu lesen, dass der Tod gegen 7.00 Uhr früh eingetreten war.
„Wurde denn nicht überprüft, ob bei Doris eine Herzerkrankung vorlag? In den Unterlagen ist darüber nichts vermerkt. Und was weißt du über diesen Arzt?“
„Eine eventuelle Herzerkrankung wurde nicht überprüft, den Altöttinger Kollegen reichte die Erklärung des Amtsarztes auf dem Totenschein. Dieser Dr. Brunnmeister, der mir bis dato völlig unbekannt war, ist 65 Jahre alt und Allgemeinmediziner. Er hat seine Praxis in Burgkirchen. Er wurde von den Kollegen zur Feststellung des Todes gerufen, da er Bereitschaft hatte. Schau mich nicht so an, Leo, ich habe mich bereits über diesen Arzt erkundigt, aber noch nicht mit ihm gesprochen, keine Sorge. Bei ihm sollten wir unbedingt nachhaken. Ich verstehe nicht, warum er auf ein Herzversagen kommt und die Leiche nicht in die Pathologie bringen ließ. Eine solche Todesursache bei einer scheinbar gesunden 40-jährigen ist doch äußerst ungewöhnlich.“
Leo las die Unterlagen mehrmals und besah sich die Fotos wieder und wieder, während Hans ein Glas Rotwein nach dem anderen trank. Leo hatte schließlich eine Idee, zwar etwas absurd, aber durchaus im Bereich des Möglichen.
„Die Beerdigung findet in drei Tagen statt. Wo ist die Leiche?“
„Was weiß ich, wahrscheinlich bei einem Bestattungs-Unternehmen. Moment! Den Gesichtsausdruck kenne ich. Was hast du vor?“
„Ich kenne jemanden, der uns eventuell helfen kann. Diese Person muss ich nur noch von meinem Plan überzeugen. Drück mir die Daumen.“
Hans verstand kein Wort und beobachtete verwirrt, wie Leo sein Telefon in die Hand nahm und wählte.
„Christine? Hier ist Leo, ich brauche deine Hilfe.“
Leo schilderte den Fall ausführlich, wobei sich Hans beinahe am Wein verschluckte. Heute Mittag auf dem Parkplatz der Polizeiinspektion hatten sie vereinbart, kein Wort über die Angelegenheit zu verlieren. Warum erzählte er die ganze Geschichte? Und wer war diese Christine?
Leo bemerkte, was in Hans vorging, aber darum wollte er sich später kümmern. Jetzt musste er Christine überzeugen, ihnen zu helfen. Sie brauchten dringend die Hilfe seiner Freundin Christine Künstle aus Ulm, mit der er nicht nur viele Jahre zusammengearbeitet hatte, sondern auch sehr gut befreundet war und immer noch ist. Christine ist Pathologin, 62 Jahre alt und versteht verdammt viel von ihrem Job, den sie mit Leib und Seele ausübt.
Sie unterbrach Leo bei seinen Schilderungen nicht. Sie schätzte ihn nicht nur als Mensch, sondern als hervorragenden Polizisten und Menschenkenner. Wenn er seinem Kollegen Hans glaubte, dann musste etwas an der Sache dran sein.
„Was sagst du dazu Christine?“ endete Leo seine Schilderung.
„Ich denke, ich kann dir folgen. Es ist gut, dass du mich angerufen hast. Ich bin unterwegs.“
Sie hatte aufgelegt, für sie war alles besprochen. Sie rief ihren Vorgesetzten Michael Zeitler an, der dazu auch noch ihr Bruder war, was die Sache natürlich vereinfachte. Sie erklärte sich nicht lange, sondern nahm einfach Urlaub. Für wie lange, konnte sie noch nicht sagen, sie würde sich wieder melden. Zeitler hatte keine Chance gegen seine Schwester und genehmigte den unbefristeten Urlaub. Warum auch nicht? Christine war in den letzten Jahren keinen Tag krank gewesen und hatte schon seit Monaten keinen Urlaub mehr gehabt. Sie lebte nur für ihren Beruf. Er hatte sich bereits Sorgen um sie gemacht, schließlich war sie nicht mehr die Jüngste. Die Pathologie würde auch ein paar Wochen ohne sie auskommen.
Christine packte rasch alles was sie brauchte in ihren Kleinwagen und fuhr eine Stunde nach dem Telefongespräch mit ihrem vollgeladenen Wagen los. Auf der Fahrt durch die dunkle, kalte Nacht dachte sie darüber nach, dass Leos Hilferuf ein willkommener Grund war, ihn endlich in seiner neuen Heimat zu besuchen. Bislang kam immer etwas dazwischen, was meist berufliche Gründe hatte. Sie telefonierten zwar regelmäßig und sandten sich Fotos und Emails, aber sie vermisste ihn und freute sich sehr, ihn endlich wieder in ihre Arme schließen zu können, auch wenn sie ihn erst vor zwei Wochen gesehen hatte. Das war ein schönes Wochenende gewesen, denn Leo hatte bei ihr übernachtet und so konnten sie sehr viel Zeit miteinander verbringen. Aber sie vermisste ihn bereits schon, als er um die Ecke bog. Bis heute konnte sie die Tatsache nicht akzeptieren, dass Leo damals die Schuld wegen des verpatzten Falles auf sich nahm und deshalb gehen musste. Sie wollte ihn in ihrer Nähe wissen, jederzeit mit ihm sprechen können. Leo war eine ihrer wichtigsten Bezugspersonen in Ulm gewesen; und dann war er plötzlich weg. Dieser Zustand gefiel ihr überhaupt nicht und sie konnte sich bis heute nicht daran gewöhnen, dass Leo nicht mehr in Ulm war.
Jetzt war es nicht mehr weit, bis sie ihn wiedersah. Mit jedem Kilometer kam sie ihm näher. Leo war ihr allerbester Freund. Ein Freund, von denen es in der Welt nicht viele gibt. Ihm konnte sie blind vertrauten, ihm alles anvertrauen, er hatte sie noch niemals enttäuscht. Sie war sich absolut sicher, dass Leo sie niemals im Stich lassen würde, das galt natürlich auch umgekehrt. Zwischen ihnen war eine Verbindung und eine Freundschaft, wie Christine es in ihrem ganzen Leben vorher noch niemals erlebt hatte. Sie wischte sich eine Träne von der Wange und wechselte den Sender, denn diese Schmusesongs machten sie nur noch melancholischer. Countrymusik! Die brachte sie auf andere Gedanken!
Sie fuhr über die A8, die zum Glück um die Uhrzeit leer war. Das Autofahren langweilte sie schrecklich, die Musik lenkte sie ab. Um München musste sie sich konzentrieren, um die richtige Ausfahrt nicht zu verpassen. Leo hatte ihr im letzten Jahr zu Weihnachten ein Navigationsgerät geschenkt, aber trotz mehrfacher Einweisung konnte sie bis heute nicht damit umgehen. Es war zwar eingeschaltet, aber den Ton hatte sie abgedreht, da er sie nervte.
Nach knapp drei Stunden fuhr sie mit ihrem kleinen, grünen Wagen in den Hof und stieg aus. Sie war endlich an ihrem Ziel angekommen. Es war kurz vor 23.00 Uhr, trotzdem hupte sie, da sie nicht wusste, wo Leo hier wohnte. Sofort öffnete sich die Haustür und eine ältere Frau trat mit einem pinkfarbenen Jogginganzug heraus, gefolgt von einem zottligen Mischlingshund, der die Fremde freudig begrüßte und ständig an ihr hochsprang.
„Mein Name ist Christine Künstle, ich suche Leo.“ Sie kraulte den Hund liebevoll, sie wusste von seinem Schicksal und wie er hierher kam.
„Das freut mich, ich bin die Gerda. Natürlich weiß ich, wer Sie sind. Leo hat mir schon viel von Ihnen erzählt.“ Tante Gerda war irritiert. Warum hatte ihr niemand mitgeteilt, dass Christine Künstle zu Besuch kam? Und das mitten in der Nacht? Was war hier los?
Leo hatte das Hupen natürlich auch gehört und konnte es kaum glauben, als seine Freundin Christine leibhaftig vor ihm stand. Auch er hatte sie schmerzlich vermisst. Leo und Christine waren beide Menschen, die nur sehr schwer Vertrauen und absolute Offenheit zuließen. Er nahm die kleine, stämmige Frau ganz fest in seine Arme, hob sie hoch und wirbelte sie übermütig durch die Luft. Christine schrie und jauchzte.
„Jetzt ist es aber mal gut Leo, du benimmst dich wie ein kleines Kind,“ sagte sie gerührt über die ungestüme Freude und wischte sich eine Träne aus dem Gesicht. „Kümmere dich bitte um mein Gepäck. Wo ist die Toilette? Ich muss dringend pinkeln.“
Leo zeigte ihr den Weg in seine Wohnung und lud mit Hans‘ Hilfe den Wagen aus, in dem jeder noch so kleine Winkel ausgenutzt worden war. Unglaublich, was in diesen kleinen Wagen so alles reinpasste! Nachdem alles verstaut war und Christine sich frisch gemacht hatte, setzte sie sich zu den beiden und nahm das Glas Weißwein, das Leo ihr eingeschenkt hatte. Christine trank keinen Rotwein, sie hasste ihn sogar regelrecht.
„Ich bin Christine. Du bist dieser Hans, von dem Leo erzählt hat? Deine Freundin ist gestorben und du glaubst nicht an Herzversagen?“ Christine wählte die Du-Form. Hans war Leos Freund und somit auch der ihre.
„Das ist richtig. Hier ist die Polizeiakte.“
Christine schlug die Akte auf und sah Hans vorwurfsvoll an.
„Kopien? Ich frage lieber nicht, woher die Unterlagen stammen.“
„Besser nicht.“
Christine las die wenigen Unterlagen und besah sich die Fotos sehr genau. Dabei runzelte sie mehr und mehr die Stirn, was Leo sehr gefiel. Christine schien etwas entdeckt zu haben. „Gut. Wo ist die Leiche?“ fragte sie schließlich.
„Das kann ich erst morgen herausfinden.“
„Steht eine Verbrennung an oder ist eine Erdbestattung geplant?“
„Keine Ahnung.“
„Gehen wir vom ungünstigsten Fall einer Verbrennung aus. Die Frau ist gestern verstorben und der heutige Tag ist bereits gelaufen. Wir haben also nur zwei Tage Zeit, um uns die Leiche vorzunehmen. Verdammt knapp.“
Hans war irritiert, denn noch hatte er nicht verstanden, warum Christine hier war und was sie und Leo vorhatten. Langsam verstand er und ihm wurde schlecht.
„Ihr wollt doch nicht…Sagt mir nicht, dass ihr die Leiche…“
„Junger Freund,“ sagte Christine an Hans gewandt, der nur wenige Jahre jünger war als sie. „Du zweifelst an einem natürlichen Tod. Es liegt auf der Hand, dass ich mir die Leiche ansehen muss, um die Todesursache herauszufinden. Was dachtest du denn?“
„Eine Obduktion? Wo? Wie?“
„Das Wie ist kein Problem, ich bin voll ausgerüstet und habe alles mitgebracht. Und das Wo werden wir schon noch klären. Irgendwo werden wir schon ein geeignetes Plätzchen finden.“
„Aber das ist doch illegal! Wenn das einer rausfindet, können wir alle unsere Jobs vergessen!“
„Das ist mir klar. Dir nicht?“
Hans war sprachlos und sah Leo an. Auch ihm war das Risiko also bewusst, das die beiden für ihn und für die Aufklärung der Todesursache seiner Doris eingingen.
„Nein, das kann ich nicht erlauben,“ sagte Hans bestimmt. „Ihr könnte eure Jobs nicht wegen mir aufs Spiel setzen. Das ist meine Angelegenheit und ich werde ab sofort alleine ermitteln.“
Statt einer Antwort lachten Leo und Christine.
„Dazu ist es jetzt zu spät, junger Freund. Wir sitzen in einem Boot. Wir ziehen die Sache entweder gemeinsam durch, oder lassen sie fallen. Entscheide dich!“ Christine trank einen Schluck Wein und sah Hans an. Sie konnte sehen, wie er innerlich mit sich kämpfte.
„Ich danke euch,“ sagte er nur.
„Gut, dann wäre das geklärt. Ich für meinen Teil bin hundemüde und möchte so schnell wie möglich ins Bett. Morgen liegt viel Arbeit vor uns, dazu sollten wir alle ausgeschlafen und fit sein. Wo ist mein Bett? Wo kann ich schlafen?“
„Mein Schlafzimmer steht dir zur Verfügung, ich schlafe auf der Couch. Aber erst muss ich noch das Bettzeug frisch beziehen.“
„Spar dir die Arbeit. Die lange Fahrt ist für eine Frau in meinem Alter ganz schön anstrengend, zumal ich in der Dunkelheit nicht sehr gut sehe. Ich leg mich sofort hin. Gute Nacht.“
Leo hatte ihr gesamtes Gepäck bereits im Schlafzimmer abgestellt. Ohne ein weiteres Wort war Christine verschwunden.
„Es ist unfassbar, was ihr für mich aufs Spiel setzt.“
„Dazu sind Freunde da. Hör auf darüber nachzugrübeln. Wir wissen um die Risiken. Wir sind alt genug und haben uns entschieden, dir trotzdem zu helfen. Ich denke, Christine hat Recht, für heute ist es genug.“
„Stimmt. Und wenn ich mir die beiden leeren Rotwein-Flaschen so ansehe, ist es auch ratsam, dass ich nicht mehr mit dem Auto fahre und bei Tante Gerda übernachte. Zum Glück hat die Gute immer ein Bett für mich frei.“ Inständig hoffte er darauf, endlich etwas Schlaf zu finden. Seit er vom Tod seiner Doris erfahren hatte, konnte er kein Auge zutun.
Christine schnarchte bereits selig, als es sich Leo auf seiner Couch gemütlich machte. Trotz der Umstände bezüglich des Todes von Hans‘ Freundin war er überglücklich, dass er seine Freundin endlich wieder an seiner Seite hatte und schlief selig ein.
2.
Um 6.30 Uhr rief Tante Gerda. Sie freute sich über den unerwarteten Besuch und hatte für alle Frühstück gemacht, was freudig angenommen wurde. Christine war ein Morgenmuffel und heute ganz besonders mies gelaunt, da sie nach eigenen Aussagen überhaupt nicht geschlafen hatte. Eine glatte Lüge, denn Leo hatte sie selbst schnarchen gehört, und das mehrfach.
Hans sah schlecht aus, er hatte tiefe Ringe unter den Augen. Trotz des Rotweins hatte er nur sehr wenig geschlafen. Die Gedanken an Doris und das schlechte Gewissen wegen Leo und Christine, die wegen ihm viel riskierten, ließen ihn nicht zur Ruhe kommen. Sobald er die Augen schloss, tauchten Bilder und Szenen von seiner Doris auf, die so lebendig und real waren, dass er sie beinahe greifen konnte. Er hatte sich dazu durchgerungen, Tante Gerda einzuweihen und ihr die ganze Geschichte zu erzählen. Warum sollte er sie nicht einweihen?
Tante Gerda war sehr betroffen und bot selbstverständlich ihre Hilfe an.
„Bitte sag mir sofort, wenn du meine Hilfe brauchst, egal, was es ist. Du tust mir so unendlich leid. Ich hätte deine Freundin gerne kennengelernt, sie war bestimmt ein ganz besonderer Mensch.“
Obwohl sich Tante Gerda alle erdenkliche Mühe gab, es Christine Recht zu machen, war diese wortkarg und mürrisch. Beim Trinken des Kaffees verzog sie angewidert ihr Gesicht und nachdem sie den Brotkorb lange inspiziert hatte, entschied sie, nichts zu essen. Was war los mit ihr? Auch bei den Unterhaltungen beteiligte sie sich nicht, ganz egal, welches Thema sie auch anschlugen. Sie starrte nur vor sich hin, obwohl jeder bemüht war, sie ins Gespräch zu integrieren. Leo war gar nicht wohl; er musste mit ihr ein ernstes Wort sprechen, denn in wenigen Minuten mussten er und Hans zur Arbeit fahren. So konnte er die beiden Damen unmöglich sich selbst überlassen. Er hatte Angst um Tante Gerda, denn dieser warmherzige, liebevolle Charakter war Christine hilflos ausgeliefert. Unruhig rutschte er auf seinem Stuhl hin und her. Er überlegte, ob es wirklich eine so eine gute Idee war, dass er sie um Hilfe bat und sie nun hier war.
„Christine, ich möchte mich mit dir unterhalten – unter vier Augen.“ Leo war aufgestanden und ging zur Tür.
Diese sah ihn nur an und machte keine Anstalten, ihm zu folgen. Die Stimmung war sehr angespannt.
„Würdest du bitte mitkommen?“ wiederholte Leo.
Wieder sah sie ihn nur an und lehnte sich zurück.
„Du hast dich verändert Leo. Du bist weich geworden und nicht mehr so gerade heraus, wie ich es immer an dir geschätzt habe. Wenn du mir etwas zu sagen hast, dann sag es, und zwar hier vor deinen Freunden. Ich werde mit Sicherheit nicht in die Kälte rausgehen. Also, raus mit der Sprache.“
Diese Frau reizte ihn bis aufs Blut und er entschied, ihrem Wunsch zu entsprechen.
„Wie du willst. Ich finde, du benimmst dich Tante Gerda und Hans gegenüber sehr unhöflich und ich verstehe nicht, warum du das machst. Ich kenne dich ganz anders. Ich habe Angst, euch beide hier alleine zu lassen, denn Tante Gerda ist dir nicht gewachsen. Was ist nur los mit dir?“
Ihm pochte das Herz bis zum Hals. Er konnte nicht einschätzen, wie sich Christine nun verhalten würde. Auf der einen Seite freute er sich sehr, sie wiederzusehen und sie brauchten ihre Hilfe. Aber auf der anderen Seite schämte er sich auch für ihr Verhalten; so mochte er sie überhaupt nicht.
„Jetzt bist du wieder so, wie ich dich kenne Leo: Ehrlich und gerade heraus. Ich mag es nicht, wenn man mir Honig ums Maul schmiert und herumschleimt, sondern die Dinge beim Namen nennt. Wir bewegen uns hier alle, und damit ist Tante Gerda eingeschlossen, auf sehr, sehr dünnem Eis und wir müssen uns alles sagen können und dürfen. Es hat mich sehr bestürzt, dass Hans seine Tante erst jetzt von der Geschichte unterrichtet hat und dass wir uns hier beim Frühstück über absolut banale und unwichtige Dinge unterhalten, wenn weit Wichtigeres ansteht. Gerda, ich lass die Tante weg und werde Sie einfach duzen,“ wandte sie sich nun an die 72-jährige Frau, die hier in Rüschenbluse und Latzjeans am Tisch saß, „du kannst mich nicht täuschen. Du bist nicht die Bilderbuch-Oma, die es liebt, Menschen zu bedienen und sich zu unterwerfen. Du bist eine Frau, die mitten im Leben steht und die es verdammt nochmal verdient hat, dass man normal mit ihr umgeht.“
„Danke Christine; ich darf doch Christine sagen?“
„Klar.“
„Es stimmt. Ich habe gerne Menschen um mich, aber man muss mich nicht vor allem Bösen beschützen. Ich würde gerne miteinbezogen werden und bin für alle Schandtaten bereit.“ Sie grinste und bekam rote Bäckchen.
„Sehr gut. Das ist sehr wichtig, denn das, was auf uns zukommt, wird kein Zuckerschlecken. Wir können jede Hand brauchen und Gerda gehört dazu.“
„Du meinst, wir sollen sie aktiv in alles einbeziehen?“ rief Hans erschrocken. „Das geht doch nicht, das kann ich Tante Gerda nicht zumuten.“
„Deine Tante Gerda ist doch kein verschrecktes Blümchen. Sieh sie dir doch genau an! Sie hat viel erlebt und kann mehr verkraften, als du ihr zutraust.“ Jetzt wandte sich Christine direkt an Tante Gerda. „Ich bin mir sicher, dass du es früher doll getrieben hast und auch heute nichts anbrennen lässt. Liege ich damit richtig?“
Hans war geschockt, aber Tante Gerda strahlte übers ganze Gesicht. Sie fühlte sich keineswegs ertappt, sondern war sofort begeistert von dieser Frau, die sehr ehrlich war und die Menschen richtig einschätzte.
„Ja, damit liegst du absolut richtig. Früher waren herrliche Zeiten. Aber auch ich werde älter und ruhiger, was nicht bedeutet, dass ich mich aufs Altenteil zurückgezogen habe. Ich liebe meinen alten Hof und lebe gerne hier. Wenn wir gerade dabei sind, ehrlich miteinander zu sein: Ich habe seit ein paar Monaten einen Freund, mit dem ich enger zusammen bin und von dem niemand etwas weiß. Warum ich so ein Geheimnis um ihn mache, weiß ich auch nicht.“ Sie war rot geworden und sah Hans an. „Sei nicht enttäuscht von mir Hans, ich bin auch nur ein Mensch. Ich würde es sehr gerne sehen, wenn ich aktiv in euer Team gehöre.“
„Tante Gerda,“ rief Hans beinahe empört, „was redest du denn da?“
„Hör doch auf, du Heuchler!“ schrie ihn Christine an. „Warum sollte deine Tante nicht auch ein bisschen Spaß im Leben haben? Sie ist zwar über 70, aber noch lange nicht tot. Sieh dir deine Tante doch an. Sie strotzt vor Vitalität und hat außer ihrem biederen Aussehen nun so gar nichts von einer alten Oma, bei der sich alles nur um Krankheiten dreht. Sieh dich mal in einer Arztpraxis oder einfach nur auf der Straße um. Zu diesen Menschen, die mit ihrem Leben abgeschlossen haben und hauptsächlich nur noch an sich selbst und ihre Krankheiten denken, passt deine Tante Gerda absolut nicht dazu. Siehst du das denn nicht? Was hast du gegen ein bisschen Spaß im Leben? Du treibst es doch bestimmt auch ziemlich bunt, das sehe ich dir doch an der Nasenspitze an. Oder liege ich falsch?“
„Nein, ich bin bestimmt kein Heiliger. Aber ich kann mir das bei meiner Tante einfach nicht vorstellen, und ich will es auch nicht.“ Hans schien beinahe angewidert.
„Und warum spielen Sie Ihrem Neffen so ein Theater vor?“
„Das weiß ich auch nicht. Wahrscheinlich, weil die Menschen von mir erwarten, dass ich immer lieb und nett bin und dazu ein ruhiges, harmloses Leben führe.“
Tante Gerda war nachdenklich geworden. Sie verstand langsam, was Christine mit ihrer Standpauke bezwecken wollte.
„Das ist genau das, was ich meine. Ihr sprecht zwar miteinander, aber ihr kennt euch eigentlich nicht, weil ihr nicht ehrlich zueinander seid. Normalerweise geht mich das alles nichts an, ihr könnt euch gegenseitig etwas vormachen und vorspielen, solange und sooft ihr wollt. Aber wenn wir das hier gemeinsam durchziehen, gehen wir ab sofort offen und ehrlich miteinander um. Wir sagen uns alles, auch wenn es noch so peinlich und unangenehm ist, oder den anderen verletzten würde. Können wir uns darauf einigen?“
Sie bekam reihum Zustimmung und Leo nahm sie in den Arm. Genau so kannte und liebte er sie. Natürlich hatte sie Recht, er hatte sich verändert. Seit er hier in Mühldorf angekommen war, war er sehr vorsichtig gewesen und wollte sich mit niemandem anlegen oder unangenehm auffallen. Warum war ihm das selbst nicht aufgefallen?
„Dann wäre das geklärt. Wie wollen wir nun weiter vorgehen? Ich brauche die Leiche, ohne die wird eine Obduktion schwierig.“
„Sobald wir im Präsidium sind, werden wir umgehend in Erfahrung bringen, wo sich die Leiche befindet. Dann brauchen wir einen Plan, wie wir die Leiche in die Finger bekommen.“
„Hast du dir schon Gedanken darüber gemacht, wie und wo die Obduktion vonstattengehen soll?“ fragte Tante Gerda mit glühend roten Bäckchen. „Wir brauchen einen geeigneten Ort und du brauchst bestimmt Handwerkszeug, oder wie man das nennt. Das dürfte das größte Problem werden.“
„Mein Handwerkszeug, wie du es nennst, habe ich natürlich mitgebracht. Und wir werden hier im Haus bestimmt einen geeigneten Raum für die Obduktion finden, nicht wahr Gerda?“
Die war sofort begeistert.
„Natürlich, ich hätte da sogar schon eine Idee. Ich habe noch eine Frage: Dürfte ich eventuell bei der Obduktion zusehen oder sogar dabei helfen? Ich finde das alles sehr aufregend. Endlich ist hier mal etwas los.“
„Sicher kannst du mir behilflich sein. Aber nur, wenn dir nicht schlecht wird und du dich davor nicht ekelst. Leo konnte ich nie für die Pathologie begeistern, aber ich freue mich, wenn du dabei bist. Hans, du lässt die Polizeiakte hier? Ich möchte mir nochmals alles in Ruhe ansehen. Vor allem den Bericht des Arztes.“
Hans holte sofort die Unterlagen aus seiner Jacke und gab sie Christine, wobei er ihr das eine oder andere erklärte und mir ihr durchsprach.
Durch Christines Ansprache war die Luft sauber und die Stimmung hervorragend. Alle zogen jetzt an einem Strang. Das war genau das, was Christine Künstle erreichen wollte. Sie nannte die Dinge nun mal gerne beim Namen und wollte mit den Menschen in ihrem unmittelbaren Umfeld ungezwungen und frei umgehen. Und natürlich setzte sie absolute Ehrlichkeit voraus. Wenn sie bemerkte, dass sie belogen wurde, konnte sie sehr, sehr unangenehm werden. Leo beobachtete die momentane Szene um ihn herum und war sehr stolz auf Christine. Sie wusste, wie man ein Team zusammenhält und motiviert, trotz ihrer ruppigen und gewöhnungsbedürftigen Art.
Aber zuerst mussten sie irgendwie die Leiche in die Finger bekommen, was sehr schwierig werden würde. Leo war nicht wohl bei dem Gedanken. Wie sollten sie das anstellen? Auch Hans hatte bereits darüber nachgedacht.
Auf dem Weg in die Polizeiinspektion Mühldorf klangen Christines Worte in Leos Kopf wider. Sie hatte Recht, er hatte sich tatsächlich verändert, denn er war hier lange noch nicht richtig angekommen und verhielt sich noch nicht frei und ungezwungen, wie es seine Freundin von ihm in Ulm gewohnt war. Er nahm sich fest vor, daran zu arbeiten bzw. dahinterzukommen, warum das so war.
„Christine ist eine tolle Frau. Man kann ihr wirklich bedingungslos vertrauen, denn selten habe ich eine so ehrliche, direkte Person kennengelernt. Obwohl ich nicht gerade scharf darauf war, diese Seite von Tante Gerda zu erfahren,“ sagte Hans.
„Ja, sie ist wirklich eine tolle Frau. Und was Tante Gerda betrifft, bist du wirklich nicht fair. Auch sie hat ein Privatleben und vielleicht solltest du dir Gedanken darüber machen, ob du dir nicht selbst ein Bild erschaffen hast und sie einfach so sehen willst.“
„Sicher, da hast du nicht ganz Unrecht. Aber Tante Gerda hat auch ihren Teil dazu beigetragen. Ich habe vorhin mit ihr gesprochen und wir wollen in Zukunft anders miteinander umgehen. Christine hat den Nagel auf den Kopf getroffen.“
3.
Es war für Hans kein Problem herauszufinden, wo sich der Leichnam von Doris Stöger befand: Im Bestattungsunternehmen Garkammer in Altötting. Er musste höllisch aufpassen, dass seine Vorgesetzte Viktoria und vor allem die neugierige Hilde Gutbrod nichts von den Recherchen mitbekamen. Frau Gutbrod schlich um ihn und Leo herum, als ob sie etwas ahnen würde. Hinter jeder Ecke tauchte sie urplötzlich auf und kam unter fadenscheinigen Vorwänden immer wieder in ihr Büro und hielt sich dort länger auf, als es nötig gewesen wäre. Von dem Kollegen Werner Grössert ging offensichtlich keine Gefahr aus, denn der war stark erkältet und auch deshalb mit sich selbst beschäftigt.
Draußen auf dem Parkplatz sprachen Hans und Leo während der Mittagspause miteinander, wie sie nun weiter vorgehen wollten.
„Ich habe einen Transporter gemietet, der steht für uns bereit. Aber wie kriegen wir nun die Leiche in unsere Hände? Hast du eine Idee?“
„Alleine haben wir keine Chance. Wir brauchen jemanden, der die Angestellten im Bestattungs-Unternehmen ablenkt, während wir beide uns um die Leiche kümmern.“
Leo war skeptisch, ob es tatsächlich so leicht wäre, an die Leiche von Doris zu kommen. Was wäre, wenn die Leiche sich überhaupt nicht direkt in diesem Bestattungs-Unternehmen befand? Aber irgendwo mussten sie ansetzen und ihr Glück versuchen.
„Christine könnte die Angestellten ablenken, sie ist genau die Richtige dafür. Ich weiß zwar nicht, ob das gelingen wird, aber einen Versuch ist es wert.“
Leo rief Christine an und erklärte das Vorhaben.
„Klar bin ich dabei, das dürfte kein Problem werden.“ Von ihrer Seite aus war alles für eine Obduktion vorbereitet. Je schneller sie an die Leiche kam, desto eher konnte sie mit ihrer Arbeit beginnen. Sie notierte sich die Adresse des Bestattungsunternehmens Garkammer. Sie vereinbarten, sich dort gegen 17.30 Uhr zu treffen. Kurz vor Feierabend waren vielleicht nicht mehr alle Mitarbeiter vor Ort. Vor allem war es dann bereits dunkel, was für den Abtransport der Leiche von Vorteil wäre.
„Dann wäre das geklärt,“ sagte Hans nicht ohne Sorge. „Ich bete, dass das auch alles so klappt, wie wir uns das vorstellen. Vorher muss ich die Fotos aus den Unterlagen der Altöttinger Kollegen wieder zurückbringen. Das dürfte aber weitaus einfacher werden, als die Unterlagen zu kopieren und zu klauen.“
„Ich schlage vor, dass wir das heute erledigen, noch bevor wir die Leiche holen. Mir wäre viel wohler, wenn die Unterlagen wieder komplett wären.“
„Die Unterlagen hat Christine.“
Leo rief Christine an und bat sie, die Unterlagen im Laufe des Tages in Mühldorf vorbeizubringen.
„Das mache ich gerne. Gerda und ich wollten zur Beruhigung unserer Nerven sowieso eine Shoppingtour machen. Bis später!“
„Wir bekommen die Unterlagen im Laufe des Tages. Ich würde mir gerne das Haus deiner Doris ansehen.“
„Das ist kein Problem, ich habe einen Hausschlüssel und versiegelt wurde nichts. Lass uns das morgen erledigen, heute habe ich keine Nerven mehr dafür. Die Beschaffung der Leiche bereitet mir schon genug Magenschmerzen. – Erzähl schnell etwas anderes und tu so, als hätte ich einen Witz gemacht, schnell.“
Leo verstand nicht, tat aber, was ihm Hans geheißen hatte. Frau Gutbrod stand plötzlich neben den beiden. Jetzt verstand er.
„Was machen Sie beide hier? Läuft hier eine Verschwörung?“
Sie versuchte, ihre Frage lustig klingen zu lassen, aber an ihrem Gesichtsausdruck merkten sie sofort, dass sie es ernst meinte und sehr misstrauisch ihnen gegenüber war. Diese Gutbrod war wirklich die Pest. Probleme mit ihr konnten sie jetzt nicht auch noch brauchen.
„Aber nein, wo denken Sie denn hin, liebe Frau Gutbrod. Wir würden doch niemals Geheimnisse vor Ihnen haben. Wir haben uns über Fußball unterhalten, das Pokalspiel letztes Wochenende. Da hat doch dieser Fußballspieler…“ weiter kam Leo nicht, denn Frau Gutbrod interessierte sich nicht für diesen in ihren Augen primitiven Sport und winkte ab. Trotzdem blieb sie misstrauisch, denn mit den beiden stimmte etwas nicht. Vor allem diese geheimen Treffen auf dem Parkplatz waren sehr ungewöhnlich. Auf jeden Fall wird sie die beiden weiter im Auge behalten und sie beobachten. Sie war sich sicher, dass sie etwas im Schilde führten, das spürte sie ganz deutlich. In Gedanken versunken stöckelte sie mit ihren viel zu hohen roten Schuhen, die sie zu einem gelben Minikleid trug, davon.
„Wir müssen aufpassen, die Gutbrod ist nicht blöd. In Zukunft dürfen wir solche Unterhaltungen nicht mehr hier auf dem Parkplatz oder auf dem Flur führen. Ich glaube, wir verhalten uns viel zu auffällig.“
„Du hast Recht, keine heimlichen Unterhaltungen mehr. Wir beide sind offenbar als Ganoven völlig ungeeignet. Wir besprechen uns ganz öffentlich in der Kantine ohne Namen und Details zu nennen.“
Christine war um 14.00 Uhr im Polizeipräsidium eingetroffen. Sie hätte die Unterlagen abgeben können, wollte sie Leo aber persönlich übergeben.
„Bleibt es bei dem Plan?“ fragte sie Leo, als sie ihm die Unterlagen in einem verschlossenen Umschlag übergab.
„Es bleibt dabei. Sei bitte pünktlich. Sollte etwas dazwischen kommen, melde ich mich bei dir.“
Nicht nur Hilde Gutbrod hatte die Szene beobachtet. Werner Grössert war Leo gefolgt und stand auf der Treppe. Wer war die Frau? Und was war in dem Umschlag?
Viktoria stand am Fenster. War das nicht Tante Gerda in dem Wagen mit dem Ulmer Kfz-Kennzeichen? Wem gehörte der Wagen? Sie hätte das Kennzeichen überprüfen können, entschied sich aber dagegen. Wie hätte sie das auch rechtfertigen sollen? Als Leo mit einem Umschlag in der Hand zurückkam, bemühte sie sich, sich nichts anmerken zu lassen. Sie bemerkte den Blick zwischen Leo und Hans. Was führten die beiden im Schilde? Hätte sie fragen sollen? Nein! Sie war beleidigt. Dass zwischen den beiden etwas lief, war klar. Aber was?
Auch Werner hatte den Blick zwischen Leo und Hans bemerkt. Was lief da ab?
Je näher der Feierabend kam, desto nervöser wurden Leo und Hans. Viktoria ließ die beiden nicht mehr aus den Augen. Vor allem Leo war ihr gegenüber sehr verkrampft und lächelte so künstlich, dass man sich echt verarscht vorkam. Männer, dachte sie und lächelte. Sie würde die beiden auf jeden Fall beobachten und war sich sicher, dass sie in kürzester Zeit herausfinden würde, was mit den beiden los war. Auch Werner Grössert ging es auf die Nerven, wie sich die beiden benahmen und war sauer, denn offensichtlich wollten sie ihn nicht ins Vertrauen ziehen. Der 38-Jährige sah trotz seiner Erkältung wie immer wie aus dem Ei gepellt aus, sein neuer Anzug hatte bestimmt wieder ein Vermögen gekostet.
Leo mochte und schätzte Werner sehr. Werner wäre eine wichtige Hilfe in ihrem Vorhaben gewesen. Leo überlegte mehrfach, ihn anzusprechen, aber er traute sich nicht. Wie würde sich das auch anhören? Er hätte ihm sagen müssen, dass sie im Begriff waren, eine Leiche zu klauen, die dann im Haus von Tante Gerda obduziert wurde. Nein, das klang doch völlig verrückt. Werner würde dabei niemals mitmachen. Oder doch?
Es war 16.30 Uhr und sie konnten zum Glück pünktlich Feierabend machen. Hans und Leo verließen das Büro und somit auch den Parkplatz nur wenige Minuten versetzt, um nicht den Eindruck zu erwecken, dass sie das gleiche Ziel hatten. Wenig später parkten sie bei der Autovermietung in Mühldorf, die Formalitäten waren rasch erledigt.
Sie fuhren umgehend los. Nachdem sie die Unterlagen geholt hatten, steuerten sie die Polizeiinspektion Altötting an, um endlich diese Fotos wieder in der Originalakte verschwinden zu lassen.
„Hast du dir schon überlegt, wie du das anstellen willst?“
„Keine Sorge, das dürfte kein Problem werden. Ich kenne viele der Altöttinger Kollegen, mit einigen war ich auf der Polizeischule. Ab und zu schau ich bei ihnen vorbei, das ist nichts Ungewöhnliches. Ich weiß genau, wo die Akte ist. Wenn jemand da ist, lenk ich ihn ab; und schwuppdiwupp sind die Fotos wieder da, wo sie hingehören. Das wird ein Kinderspiel. Jetzt mach dir doch nicht immer so viele Gedanken, ich weiß schon, was ich tue.“
Leo war überrascht, dass Hans sich überhaupt keine Sorgen um das Ganze machte. Er parkte vor der Polizeiinspektion Altötting und Hans verschwand darin. Tatsächlich kam er nach knapp 15 Minuten wieder zurück.
„Alles erledigt, die Fotos sind wieder an ihrem Platz und keiner hat etwas gemerkt. Du kannst losfahren,“ sagte Hans und Leo fiel ein Stein vom Herzen. Die erste Hürde war bereits genommen.
Um 17.20 Uhr standen sie nervös vor dem Bestattungsunternehmen Garkammer, in dem zum Glück nicht viel, oder besser gesagt, so gut wie kein Betrieb war. Der Parkplatz war leer und die ersten Lichter wurden gelöscht. Hans hatte aus dem Internet erfahren, dass die Firma Garkammer bis um 18.00 Uhr geöffnet hatte und ließ sich dies telefonisch bestätigen. Sie hätten bis Geschäftsschluss genug Zeit für ihr Vorhaben. Es war inzwischen schon sehr dunkel und dazu auch noch saukalt. Im Radio lief gerade die Meldung, dass am Alpenrand heute Nacht die ersten Schneefälle zu erwarten wären, was für Ende November niemanden überraschte. Trotzdem spürten die beiden die Kälte nicht. Sie hielten Ausschau nach Christines Wagen, der nun endlich auf den Parkplatz einbog. Christine stieg aus und sah sich nicht um, sondern ging festen Schrittes direkt in das Bestattungsunternehmen. Hans und Leo konnten durch das große Fenster beobachten, wie sie von einem Angestellten begrüßt wurde. Das war das Zeichen für die beiden. Sie starteten den Transporter und fuhren an die Rückseite des Firmengebäudes.
Mit klopfenden Herzen stiegen die beiden aus. Zu ihrem Glück war die Tür des hinteren Ausganges nicht geschlossen, sie quietschte aber wie verrückt. Sie schlichen sich hinein und befanden sich offensichtlich in einem Lager, denn um sie herum waren jede Menge Materialien in den Regalen. Sie verständigten sich nur mit Handzeichen und gingen weiter. Sie kamen in einen Gang, von dem links und rechts je ein Raum abging. Gerade aus, am Ende des Ganges, musste der Verkaufsraum sein, in dem sich Christine mit einem Mann unterhielt. Sie konnten sie sprechen hören. Wo sollten sie mit ihrer Suche nach Doris anfangen? Sie wählten den Raum auf der rechten Seite. Langsam öffneten sie die Tür. Der Raum war stockdunkel und Hans schaltete seine Taschenlampe ein, während Leo sofort die Tür hinter ihnen schloss. Vor ihnen standen fünf Särge auf Tischen, hier waren sie hoffentlich richtig. Leo schaltete das Licht ein. Der Raum war ansprechend gestaltet: Wandvertäfelungen in dunkler Eiche, ein Holzboden in passender Farbe, mehrere Kerzenständer mit dicken, weißen Kerzen, die aber noch nie angezündet wurden, Kunstpflanzen in den Ecken und vor den Särgen. Hier wurde offensichtlich mit Besuch gerechnet, denn sonst hätte man sich nicht solch eine Mühe gemacht.
Hans und Leo vermuteten sofort, dass sich in den Särgen Leichen befinden mussten.
„Was meinst du?“ flüsterte Leo.
„Vielleicht haben wir Glück und Doris liegt hier in einem der Särge. Wir müssen sie öffnen.“
Leo nickte, er hatte denselben Gedanken. Einen nach dem anderen machten sie auf, wobei sie streng darauf achteten, trotz der Eile keinen Lärm zu machen. Bei dem vierten Sarg hatten sie Glück. Hierin lag Doris Stöger, die für die Beerdigung bereits zurecht gemacht wurde. Hans versetzte der Anblick seiner Doris einen Stich in Herz und Magen. Er schreckte zurück, wobei er an einem Sarg hängenblieb, der dadurch mitsamt dem Tisch ein kleines Stückchen über den Holzboden verschoben wurde, was einen Höllenlärm verursachte. Leo sah ihn streng an, denn durch solch eine Unachtsamkeit konnte der ganze Plan schief gehen.
Sie achteten nicht darauf, ob jemand auf sie aufmerksam geworden war und machten rasch weiter. Wenn man sie hier jetzt mit dem offenen Sarg entdecken würde, wäre es sowieso zu spät. Wie hätten sie das erklären sollen? Vorsichtig nahmen sie den Deckel ganz ab, legten ihn sorgsam und lautlos auf den Boden, und nahmen die Leiche vorsichtig heraus. Nun legten sie die Leiche ebenfalls auf dem Boden ab, während sie den Deckel wieder vorsichtig auflegten.
Jetzt war höchste Eile geboten, denn sie konnten nun Christines Stimme immer deutlicher hören, die sie dadurch eindeutig warnen wollte. Hans nahm die Leiche auf die Arme und so schnell wie möglich gingen sie auf dem gleichen Weg zurück, auf dem sie gekommen waren. Es hätte nicht viel gefehlt, und sie wären Christine und dem Angestellten direkt in die Arme gelaufen. Christine hatte die beiden gesehen und spontan tat sie so, als hätte sie Schmerzen an der Hüfte, schrie auf und hielt sich an dem Angestellten fest, der natürlich sofort den Kopf zu ihr drehte und sich um sie kümmerte. Hans und Leo waren keine zwei Meter von ihnen entfernt.
Die beiden rannten zur Hintertür. Die quietschende Tür war noch ein Problem, das sie meistern mussten. Leo entschied, darauf jetzt keine Rücksicht zu nehmen, dafür war keine Zeit. Er riss die Tür auf, hielt sie für Hans und Doris auf, rannte zum Transporter, öffnete die Tür und Hans konnte die Leiche hineinlegen. Während Hans die Tür des Transporters lautstark zuschlug, startete Leo bereits und fuhr langsam los. Hans sprang auf den Beifahrersitz und nun drückte Leo das Gas durch und sie fuhren mit quietschenden Reifen davon. Sie schwitzten beide wie verrückt, waren völlig aufgeregt und blickten ständig in die Rückspiegel. Niemand verfolgte sie und sie konnten kaum glauben, dass das alles tatsächlich geklappt hatte. Aber noch mehr waren beide überrascht davon, dass sie wirklich eben eine Leiche gestohlen hatten.
Der Angestellte des Bestattungs-Unternehmens hatte davon überhaupt nichts mitgekommen. Natürlich hatte er die quietschende Tür gehört, dachte sich aber nichts dabei. Warum auch? Christine spielte ihre Rolle hervorragend und schrie genau an den richtigen Stellen.
„Sie sind ein sehr netter Mensch, Sie haben sehr viel Mitgefühl mit einer alten Frau,“ schmeichelte ihm Christine.
„Mein Beruf ist nicht nur einfach ein Beruf, sondern meine Passion. Wenn Sie mir bitte folgen wollen?“ Der Mann ging nun genau in den Raum, aus dem vor wenigen Minuten die Leiche gestohlen wurde. Er wunderte sich, dass das Licht brannte. Und wie schlampig stand der Sarg im Raum? Sofort rückte er ihn zurecht, denn Schlampereien duldete er nicht. Morgen musste er mit seinem Auszubildenden ein ernstes Wort sprechen! Er führte seinen Rundgang mit Christine fort und zeigte ihr das ganze Unternehmen. Nach einer ausführlichen Beratung konnte Christine endlich gehen.
Als Hans und Leo auf den Hof von Tante Gerda einbogen, fiel die erste Anspannung von ihnen ab. Tante Gerda kam aus dem Haus.
„Hat alles geklappt? Habt ihr die Leiche?“
„Wir haben sie,“ sagte Leo nicht ohne Stolz. „Wo ist Christine?“
„Sie ist noch nicht da.“
Lange Minuten voll trüber Gedanken und Schreckensszenarien vergingen. Was war mit Christine passiert? War sie aufgeflogen? Endlich sahen sie einen Scheinwerfer, der sich näherte. Es war Christine, die ihren Wagen mitten in der Einfahrt parkte.
„Na endlich,“ rief Leo und nahm sie in den Arm. „Wir haben uns schon Sorgen gemacht. Du hast sehr gut reagiert. Als wir dich hörten, mussten wir uns beeilen. Eine Minute später, und wir wären aufgeflogen.“
„Das hätte echt schief gehen können. Ich bin beinahe in Ohnmacht gefallen, als ich euch gesehen habe. Außerdem ging mir mit diesem Langweiler langsam der Gesprächsstoff aus. Ich musste mir nicht nur den ganzen Laden ansehen, sondern auch mehrere Angebote unterbreiten lassen, weshalb ich nicht früher kommen konnte. Aber nun ist alles gut. Ich bin stolz auf uns, das hat super geklappt.“
„Ich danke dir Christine. Ohne dich hätten wir das ganz bestimmt nicht geschafft.“ Hans nahm sie in den Arm und merkte, dass sie stark zitterte.
„Wo ist die Leiche?“ wollte Christine wissen.
„Hinten drin.“
„Bringt sie rein. Ich habe mit Gerda bereits alles vorbereitet.“
„Willst du dich nicht erst von dem Schrecken erholen?“
„Nein. Wir dürfen keine Zeit mehr verlieren. Je eher die Obduktion durch ist und die Leiche wieder an ihren Platz zurück kann, desto besser. Rein mit ihr. Hopp-Hopp.“ Sie lief energisch voraus. Endlich ging es los und sie konnte sich an die Arbeit machen. Das vorhin in dem Bestattungs-Unternehmen war nichts für sie. Viel zu viel Aufregung und viel zu viele Gefahrenquellen. Da machte sie doch lieber ihre Arbeit, wo sie schrittweise vorgehen konnte und alles absolut harmlos und geordnet ablief. Bei ihrer Arbeit fühlte sie sich sicher. Außerdem war sie bei der Arbeit der Chef und alles lief so, wie sie es wollte.
Hans ließ es sich nicht nehmen, seine Doris auf den Armen ins Haus zu tragen, Leo folgte ihnen. Sie landeten in der Waschküche. Leo blickte ungläubig um sich: Die beiden Damen hatten tatsächlich während des Tages die niedliche Waschküche, in der auch Leo seine Waschmaschine untergebracht hatte, für ihre Zwecke umfunktioniert. Auf drei Sägeböcke hatten sie mehrere Holzbretter gelegt, die sie anschließend verbrennen wollten, um eventuelle Spuren zu beseitigen. Der Fliesenboden konnte problemlos gesäubert werden. Neben dem provisorischen Tisch standen zwei Gartentische, die mit Lacktischdecken in bunten Farben und Mustern abgedeckt waren. Darauf lagen sauber aufgereiht jede Menge glänzende Instrumente. Zwei Stehlampen aus dem Wohnzimmer wurden zweckentfremdet, um den Arbeitsbereich besser ausleuchten zu können. Christine zog sich ihren Kittel an und Tante Gerda hatte sich eine saubere Schürze umgebunden. Wenn das hier nicht so ernst gewesen wäre, hätte Leo laut loslachen können, denn das Bild war einfach zu komisch und unwirklich.
„Ihr beiden habt hier nichts zu suchen, Gerda und ich machen das schon. Raus hier!“
Leo hörte das sehr gerne, denn mit Obduktionen wollte er absolut nichts zu tun haben. Aber Hans wäre sehr gerne dabei gewesen, was Christine dann schließlich nach einer heftigen Diskussion genehmigte. Allerdings nur unter der Voraussetzung, dass er kein Wort von sich gab und ihm auf keinen Fall schlecht wurde.
Leo machte Kaffee und setzte sich in die gemütliche Wohnstube. Der kleine Felix lag auf der neuen Couch, er schlief tief und fest – und schnarchte. Aufgrund des Geruchs in der Küche schloss er darauf, dass der kleine eben erst sein Fresschen bekommen hatte, das natürlich nur vom Feinsten war.
Leo trank einen Becher Kaffee und dachte über das nach, was vorhin passiert war. Für ihn war das immer noch unfassbar und kaum zu glauben. Schließlich entschloss er sich, vor die Tür zu gehen, denn die Geräusche, die aus der Waschküche deutlich bis zu ihm drangen, wollte er nicht hören.
Er ging ein paar Schritte in die Dunkelheit und sog die kalte Luft tief in seine Lungen, was ihm sehr gut tat. Plötzlich hörte er ein Geräusch links von sich, nahe der Treppe, die zu seiner Wohnung führte.
„Hallo?“ rief er in die Dunkelheit. Er spürte, dass hier jemand war und griff instinktiv nach seiner Waffe.
„Kommen Sie raus oder ich schieße,“ rief er laut. Das klang zwar ziemlich abgedroschen wie aus einem schlechten Kriminalfilm, aber bedrohlich. In dem Schlamassel, in dem sie sich befanden, konnten sie keine Zeugen gebrauchen. Außerdem war sein Nervenkostüm sehr angespannt.
Er wartete einen Moment mit der Waffe in der Hand. Dann vernahm er ein leichtes Hüsteln.
„Kommen Sie jetzt raus oder ich schieße. Noch einmal werde ich das nicht sagen,“ wiederholte er nun drohender. „Ich werde ohne zu zögern in die Dunkelheit schießen.“
„Bitte nicht,“ hörte er eine zaghafte und ängstliche Stimme, die er sofort erkannte.
„Frau Gutbrod? Kommen Sie sofort her! Das glaube ich nicht! Was zum Teufel machen Sie hier? Und warum verstecken Sie sich? Es hätte nicht viel gefehlt und ich hätte geschossen.“
„Das glaube ich nicht.“ Ihre Stimme klang sehr verunsichert, obwohl sie bemüht war, selbstsicher und bestimmt aufzutreten. Die Situation war ihr sehr peinlich und sie wusste nicht, was sie jetzt als Erklärung vorbringen sollte. Sie musste Zeit gewinnen, damit ihr etwas Plausibles einfiel.
„Natürlich hätte ich geschossen. Was glauben Sie denn, welches Gesindel sich hier herumtreibt.“ Das war gelogen, denn hier raus verirrte sich kaum jemand, vor allem nicht nachts. Aber das ging diese Gutbrod nichts an. Leo ging an die Haustür und schaltete die Außenbeleuchtung ein. Die Frau kam nun langsam aus der Dunkelheit auf ihn zu. Frau Gutbrod lächelte verlegen und versuchte krampfhaft nach einer Rettung aus ihrer Lage. Aber ihr wollte einfach nichts Gescheites einfallen, womit sie sich erklären konnte.
„Jetzt reden Sie schon! Was wollen Sie hier? Und erzählen Sie mir jetzt nicht, dass Sie mich besuchen wollten, denn dann hätten Sie sich angekündigt und wären hier nicht in der Dunkelheit rumgeschlichen und hätten sich versteckt. Also, raus mit der Sprache.“ Leos Ton war schärfer geworden. Vor allem, weil sich das hier schier endlos in die Länge zog und er sie wieder loswerden wollte, bevor der ganze Plan durch diese blöde Kuh aufflog.
„Sie waren so abweisend und komisch. Und dann diese heimlichen Gespräche mit Herrn Hiebler, die ich mehrfach beobachtet habe. Ich wollte der Sache nachgehen und herausbekommen, was Sie beide im Schilde führen.“
„Wie bitte? Das kann doch nicht Ihr Ernst sein! Dass Sie neugierig sind, habe ich längst bemerkt, aber das übersteigt doch das normale Maß. Sind Sie denn komplett durchgeknallt?“
Es war einen Moment still geworden. Leo war geschockt, obwohl er zugeben musste, dass er von der Ehrlichkeit überrascht und gleichzeitig auch beeindruckt war. Vom Haus her drangen Geräusche in die Dunkelheit und Stille, von denen Leo umgehend ablenken musste.
„Wir führen absolut nichts im Schilde. Wir haben uns angefreundet und verbringen unsere freie Zeit ab und an gemeinsam. Außerdem ist eine sehr gute Freundin aus Ulm gerade zu Besuch. Ich weiß nicht, warum ich mich Ihnen gegenüber erklären muss, ich kann mich unterhalten, mit wem ich will. Und in meiner Freizeit kann ich auch tun und lassen, was ich für richtige halte. Ich brauche keinen Aufpasser und fühle mich von Ihnen kontrolliert und beobachtet, das ist ja schon krank. Haben Sie keine Freunde oder Hobbys, womit Sie sich ihre Zeit vertreiben können?“
„Ich dachte, der Transporter und die Heimlichkeiten…“
Leo wurde schlecht. Er hatte noch nicht darüber nachgedacht, wie lange Frau Gutbrod bereits hinter ihnen her war. Sie konnte ihnen mit ihrer Neugier sehr gefährlich werden. Wie zum Teufel sollte er aus der Nummer wieder rauskommen? Noch während er krampfhaft überlegte, half ihm Frau Gutbrod.
„Sie sind doch ein vernünftiger Mensch, Herr Schwartz. Mir ist bewusst, dass ich mich total lächerlich gemacht habe und völlig überzogen, dämlich und unüberlegt handelte. Ich bin viel zu weit übers Ziel hinausgeschossen. Ich möchte mich bei Ihnen entschuldigen. Ich schäme mich sehr. Das musste mir bei meiner Neugier irgendwann passieren. Außer Ihnen weiß doch niemand über mich und das Ganze hier Bescheid. Was halten Sie davon, wenn wir das hier vergessen und so tun, als wäre nie etwas passiert? Ich bitte Sie inständig. Wenn das rauskommt, bin ich blamiert und geliefert. Bitte überlegen Sie doch und lassen das Ganze auf sich beruhen. Und ich stehe in Ihrer Schuld. Ich appelliere an Ihre Gutmütigkeit.“
Ihre Stimme klang flehend und sie tat ihm fast leid. Aber er war auch überglücklich über diese Wendung und gerne hätte er sie noch etwas zappeln lassen, aber er musste sie sich so schnell wie möglich vom Hals schaffen.
„Und Sie versprechen mir, dass Sie mich in Zukunft in Ruhe lassen?“
„Versprochen.“
„Einverstanden. Ich möchte Sie nie wieder hier herumschleichen sehen. Sollte ich mitbekommen, dass Sie mich privat belästigen, werden Sie mich von einer anderen Seite kennenlernen. Machen Sie, dass Sie hier so schnell wie möglich verschwinden, bevor ich es mir anders überlege!“
„Ich lasse Sie in Ruhe, ganz fest versprochen. Ich danke Ihnen. Sie sind ein feiner Mensch.“
Sie hatte seine Hand fest gedrückt und er spürte, dass sie für sein Entgegenkommen wirklich dankbar war. Sie lief los und nach wenigen Augenblicken hatte er sie aus den Augen verloren. Trotz der Dunkelheit fand Frau Gutbrod den Weg und ihren Wagen, denn nach wenigen Minuten fuhr ihr Wagen am Hof vorbei. Wo hatte sie den geparkt? Sie mussten in Zukunft besser aufpassen.
Er schüttelte den Kopf, während er die Außenbeleuchtung wieder ausschaltete. Trotz der Kälte und der Dunkelheit setzte er sich auf die Bank neben der Haustür, atmete abermals tief durch und dachte nach. Das war doch besser gelaufen, als gedacht. Was hatte Frau Gutbrod alles gesehen und mitbekommen? Konnte er sich auf ihr Wort verlassen? Würde sie wirklich ihren Mund halten? Wenn sie von der Leiche etwas mitbekommen hätte, hätte sie es bestimmt an die große Glocke gehängt. Von ihr hatten sie bestimmt nichts mehr zu befürchten. Was war das nur für ein verrückter Tag!
Gerade, als er im Begriff war, ins Haus zurückzugehen, hörte er abermals ein Geräusch, das wieder aus der Richtung kam, in der er Frau Gutbrod fand.
„Das darf doch nicht wahr sein! Können Sie denn keine Ruhe geben? Kommen Sie raus, Frau Gutbrod.“
Keine Reaktion. Aber Leo spürte, dass da jemand war. Er griff abermals zu seiner Waffe.
„Kommen Sie raus Frau Gutbrod, diesmal schieße ich wirklich. Ich habe die Nase voll von Ihrer Neugier und ihren dämlichen Aktionen. Was glauben Sie eigentlich, wer Sie sind? Ist man denn nirgends vor Ihnen sicher?“
Leo war jetzt stinksauer. War diese schreckliche Person wirklich zurückgekommen?
„Du wirst auf keinen Fall schießen. Steck die Waffe wieder weg.“
Die Stimme war ihm vertraut und es verschlug ihm fast die Sprache.
„Viktoria?“
„Ja, ich bin es. Steck jetzt die Waffe weg.“
Leo langte hinter sich und schaltete die Außenbeleuchtung ein. Als er Viktoria erkannte, steckte er sprachlos die Waffe weg. Was war denn heute nur los?
„Deine Unterhaltung mit Frau Gutbrod war aufschlussreich. Aber noch interessanter ist die Tatsache, dass du mit Hans eine Leiche geklaut hast. Was geht hier vor? Und versuch nicht, dich rauszureden. Ich will die Wahrheit hören und sonst nichts.“
Sie wusste es, sie wusste es wirklich. Leo konnte sich aus der Nummer nicht mehr rausreden und war verzweifelt. Die ganze Aktion würde nicht nur vollkommen in die Hosen gehen, sondern auch Konsequenzen nach sich ziehen. Viktoria war als seine Vorgesetzte dazu verpflichtet, den Vorfall zu melden. Er und Hans waren geliefert. Ohne ein Wort gab er ihr zu verstehen, dass sie ihm ins Haus folgen sollte.
Sie setzten sich in die Wohnstube, wo sie freudig von Felix begrüßt wurden. Der Hund war offensichtlich gerade erst aufgewacht, denn ab und zu gähnte er herzhaft, während Viktoria ihm über den Kopf streichelte. Ein super Wachhund! Zwei unbefugte Personen auf dem Hof und der Hund schlief seelenruhig weiter!
Leo sah, dass Viktoria fror und stellte einen Stuhl direkt vor den warmen Kachelofen. Eigentlich war sie an ihrem Zustand ja selbst schuld, warum trieb sie sich auch so lange draußen in der Kälte rum. Aber das war jetzt auch schon egal. Er schenkte ihr heißen Kaffee ein und setzte sich ihr gegenüber. Es blieb ihm nichts anderes übrig, er musste beichten und alles erzählen. Die anderen waren mit der Obduktion der Leiche beschäftigt und er wollte sie nicht unterbrechen. Jetzt war eh schon alles egal.
„Ich denke es ist besser, ich fange ganz von vorn an. Es geht um Doris Stöger aus Kastl. Sie starb vor zwei Tagen.“
Viktoria sah ihn nur an und überlegte angestrengt. Doris Stöger aus Kastl? Der Fall war ihr überhaupt kein Begriff.
„Doris Stöger war die Freundin von Hans. Sie wurde vorgestern in ihrem Haus tot aufgefunden. Laut Totenschein des Arztes starb sie an Herzversagen. Die Altöttinger Polizei war für den Fall zuständig und hat ihn geschlossen. Es wurde nicht weiter ermittelt, da Fremdeinwirkung ausgeschlossen wurde.“
„Herzversagen?“ Viktoria wusste, dass das als häufigste Todesursache angegeben wurde, obwohl sie selbst mehrmals daran gezweifelt hatte, aber schließlich war sie keine Ärztin. „Also gibt es keinen Fall Doris Stöger?“ Leo nickte und fuhr fort.
„Hans hat die Todesursache sofort angezweifelt. Doris war in seinen Augen kerngesund. Dass sie an einer Herzerkrankung litt, war ihm neu.“
„Vielleicht hat die Frau ihm gegenüber nichts davon sagen wollen?“ Viktoria wusste immer noch nicht, worauf Leo hinauswollte.
„Hans ist davon überzeugt, dass Doris ermordet wurde. Natürlich hat er versucht, die Altöttinger Polizei davon zu überzeugen, aber leider erfolglos. Und wir wollten der Sache auf den Grund gehen, noch bevor die Beerdigung über die Bühne geht und wir nicht mehr so ohne weiteres an die Leiche rankommen.“
„Deshalb habt ihr gedacht, ihr klaut einfach die Leiche? Und wie geht es dann weiter? Was wollt ihr jetzt unternehmen?“
„Natürlich wollen wir herausbekommen, woran Doris gestorben ist.“ Jetzt war es soweit, jetzt kam der unangenehmste Teil der ganzen Geschichte.
„Sag mir jetzt bitte nicht, dass ihr die Leiche obduzieren lassen wollt. Wie um alles in der Welt wollt ihr das anstellen?“
„Die Obduktion läuft bereits. Es dauert nicht mehr lange, dann wissen wir definitiv, woran Doris gestorben ist.“
Viktoria glaubte nicht, was sie da hörte. Bislang hatte sie nur beobachtet, dass Hans und Leo eine Leiche aus dem Bestattungsunternehmen geklaut und hierher gebracht haben. Mehrfach hatte sie überlegt, die beiden daran zu hindern, entschied sich aber dagegen.
„Was meinst du damit, dass die Obduktion läuft? Ich verstehe dich nicht.“
„Meine Freundin und ehemalige Kollegin Christine Künstle aus Ulm ist Pathologin. Sie ist hier und hilft uns dabei.“
„Wie bitte?“ Ihr fiel beinahe die Kaffeetasse aus der Hand. „Du willst mir jetzt nicht erzählen, dass die Obduktion der Leiche hier im Haus vorgenommen wird. Sag, dass das nicht wahr ist!“
„Doch. Hier nebenan in der Waschküche ist die Obduktion bereits im Gange. Christine hat alle Instrumente, die sie dafür braucht, von zuhause mitgebracht. Hans und Tante Gerda assistieren.“
„Seid ihr denn alle wahnsinnig geworden? Hörst du dir eigentlich zu? Ihr könnt doch nicht einfach eine Leiche klauen und sie in einer Waschküche obduzieren. Das könnte euch alle den Kopf kosten, ist euch das eigentlich klar?“
Viktoria war völlig außer sich und schrie beinahe. Dass hier etwas Verbotenes vor sich geht, davon war sie überzeugt. Aber das ging dann doch zu weit. Sie war aufgesprungen, lief durch die Wohnstube und dachte angestrengt nach. Vor allem musste sie erst einmal verdauen, was sie eben gehört hatte.
„Versteh doch Viktoria, uns blieb nichts anderes übrig. Hans ist absolut überzeugt davon, dass seine Freundin Doris getötet wurde, aber die Kollegen wollten nichts davon wissen. Die Akte wurde geschlossen, obwohl Hans mehrfach seine Bedenken geäußert hatte. Er hat sich von der Akte Kopien gemacht und die entsprechenden Fotos ausgeliehen. Ich habe alles gelesen und mir angesehen. Auch ich bin davon überzeugt, dass da etwas nicht stimmt. Dir wollte er sich nicht anvertrauen, da er befürchtete, du könntest ihn für völlig verrückt halten. Außerdem ist mit dir doch nach der ganzen Sache beim Sinder-Hof nicht mehr zu reden. Du gehst nur noch genau nach Vorschrift und kontrollierst alles doppelt und dreifach. Aus dir ist ein Kontrollfreak geworden, der auf keinen Fall irgendwie negativ auffallen möchte. Was wäre denn passiert, wenn Hans mit seinen Bedenken zu dir gekommen wäre? So, wie du drauf bist, hättest du dich doch niemals mit den Kollegen in Altötting oder geschweige denn mit unserem Chef angelegt. Du hättest Hans für völlig verrückt gehalten und ihn weggeschickt. Was hättest du denn an seiner Stelle getan? Versuche doch, dich in seine Lage zu versetzen!“
„Ich kann Hans ja irgendwie verstehen. Aber warum machst du da mit? Hast du nie die Konsequenzen überdacht?“
„Hans hat mir gegenüber seine Bedenken geäußert und natürlich habe ich ihm sofort geglaubt. Er ist nicht nur ein sehr fähiger Polizist, sondern inzwischen auch ein guter Freund, den ich nie im Stich lassen würde. Natürlich helfe ich ihm, dafür sind Freunde schließlich da. Was interessieren mich da die Konsequenzen? Ich konnte ihn in seinem Schmerz nicht alleine lassen und musste ihm helfen. Übermorgen ist die Beerdigung, da ist es zu spät.“
Leo war sehr ehrlich und auch laut geworden, die Standpauke hatte sie offensichtlich verdient. War sie wirklich so geworden, wie Leo sie eben geschildert hatte? Es stimmt, dass sie nach dem Vorfall auf dem Sinder-Hof, bei dem sie ihrem Exmann die Nase brach und nochmal mit einem blauen Auge davongekommen war, vorsichtig geworden war. Aber überkorrekt und ein Kontrollfreak? Nein, so sah sie sich selbst überhaupt nicht!
Natürlich war ihr aufgefallen, dass Hans sehr bedrückt war. Sie hatte sich nicht darum gekümmert und das bedauerte sie jetzt sehr. Aber es verletzte sie tief, dass Hans kein Vertrauen zu ihr hatte. Warum hatte er sich nicht an sie gewandt und sie ins Vertrauen gezogen? Hätte sie ihm geglaubt oder ihm gar geholfen? Wahrscheinlich hatte Leo absolut Recht mit seiner Einschätzung, was sie betraf. So, wie sie sich in letzter Zeit verhielt, konnte sie sich selbst nicht leiden. Und ja, es ist sehr wahrscheinlich, dass sie im Todesfall von Doris Stöger nichts unternommen hätte.
Was, wenn Hans bezüglich der Todesursache wirklich Recht hatte? Vielleicht war ja doch etwas dran und seine Freundin wurde tatsächlich ermordet? Warum sonst würden die beiden zusammen mit Tante Gerda und Leos früherer Kollegin so eine Aktion starten und so viel riskieren? Wer war diese Kollegin eigentlich? Leo hatte noch nie von ihr erzählt. Hatte er nicht gesagt, sie sei Pathologin? An der Sache musste etwas dran sein!
„Wo ist die Akte?“ sagte sie schließlich. Sie musste sich selbst ein Bild machen.
Leo reichte ihr die wenigen Unterlagen.
„Das sind nur Kopien. Die Original-Fotos waren bis heute Abend dabei, sie sind inzwischen wieder an ihrem Platz bei der Altöttinger Polizei.“
Sie verdrehte die Augen. Was hier bisher riskiert wurde, war kaum zu glauben! Wortlos nahm sie die Unterlagen, setzte sich wieder an den Kachelofen und begann zu lesen, wobei Leo sie keine Sekunde aus den Augen ließ. Endlich sah er eine Reaktion auf ihrem Gesicht und dann sah sie ihn an. Darauf hatte Leo gewartet, denn die Informationen, die er von Hans hatte, standen nicht in der Akte. Vielleicht bestand ein Funken Hoffnung, Viktoria doch noch zu überzeugen.
„Hans ging wochenlang bei Doris Stöger ein und aus. Dabei hat sie weder eine Herzerkrankung erwähnt, noch hat er gesehen, wie sie Medikamente einnahm. Es lagen auch nirgendwo Medikamente herum. Er ist fest davon überzeugt, dass sie kerngesund war.“
„Habt ihr mit diesem Dr. Brunnmeister schon gesprochen?“
„Nein, wir wollten erst die Leiche obduzieren. Dann wissen wir die tatsächliche Todesursache.“
„Gut, warten wir ab.“
Schweigend saßen sie beisammen und warteten. Eine unangenehme und unwirkliche Situation. Sie saßen hier am warmen Kachelofen und tranken Kaffee, während nebenan in der Waschküche eine Leiche obduziert wurde. Noch war alles möglich. War Doris Stöger wirklich eines natürlichen Todes gestorben? Waren Hans und Leo bis auf die Knochen blamiert und hatten keinen Job mehr? Auch Christine würde einen Riesenärger bekommen. Wurde Doris getötet, dann hatten sie einen neuen Fall und waren Viktoria ausgeliefert und würden vermutlich ebenfalls ihre Jobs verlieren. Leo überlegte krampfhaft, wie er seine Freundin Christine aus der ganzen Geschichte raushalten konnte, denn sie stand kurz vor der Pensionierung und hatte am meisten zu verlieren. Er beschloss, zu handeln.
„Egal was passiert: Könntest du bitte meine Freundin Christine Künstle aus der ganzen Sache raushalten? Ich habe sie zur Mithilfe überredet, sie wollte mir nur einen Gefallen tun.“
„Wie soll ich das machen? Wie soll ich dem Staatsanwalt und vor allem Krohmer gegenüber erklären, wer die Obduktion der Leiche vorgenommen hat? Sie steckt mitten drin und ich kann sie aus der Sache nicht raushalten.“
„Ich bitte dich, ich flehe dich an.“
„Wer soll wen wo rauslassen? Wer ist die Frau? Und was zum Teufel hat sie hier zu suchen?“
Die beiden drehten sich erschrocken um und sahen Christine Künstle an, die in einem völlig verschmutzten Kittel in der Wohnstube stand..
„Das ist meine Vorgesetzte Viktoria Untermaier. Sie stand vor dem Haus und hat uns beobachtet. Sie weiß Bescheid. Ich konnte nicht anders und habe ihr alles erzählt. Das ist meine Freundin und Pathologin aus Ulm, Christine Künstle.“
Christine ging auf Viktoria zu, diese war aufgestanden. Die beiden Frauen standen sich nun direkt gegenüber und sahen sich in die Augen. Sekundenlang sprach niemand ein Wort, die Anspannung konnte man beinahe mit den Händen greifen. Leo war völlig hilflos, wollte eigentlich vermittelnd eingreifen, hielt es aber dann doch für besser, sich zurückzuhalten. Zwischenzeitlich waren auch Hans und Tante Gerda dazukommen, erschraken beim Anblick von Viktoria. Was machte sie hier? Wieviel hatte sie mitbekommen? Sie beobachteten die beiden Frauen, die sich immer noch schweigend gegenüberstanden.
Bis schließlich das laute Bellen von Felix die Stille durchbrach.
„Kluger Hund,“ sagte Christine, die immer noch Viktoria fest im Blick hatte, „wenigstens einer von uns, der alle Sinne beieinander hat.“
Auf diese Bemerkung hin musste Viktoria lachen. Auch von den anderen fiel nun die Anspannung ab und sie setzten sich an den Esstisch; es gab einiges zu besprechen.
„Was nun?“, unterbrach Tante Gerda die wieder eingetretene Stille.
„Ja, Frau Untermaier, was nun? Sie sind am Zug.“ Christine ließ sie immer noch keine Sekunde aus den Augen, was diese aber keineswegs einschüchterte.
„Bevor ich meinen Senf zu all dem hier gebe, möchte ich erst wissen, was bei der Obduktion rausgekommen ist. Also sind Sie am Zug, Frau Künstle.“
„Das Herz der Verstorbenen war völlig in Ordnung, ebenso die anderen lebenswichtigen Organe. Eine Schande, dass sie nicht gespendet wurden. Bereits bei der Sichtung der Fotos hatte ich eine Vermutung, die sich durch die Obduktion bestätigt hat: Die Todesursache ist eindeutig eine Kohlenmonoxid-Vergiftung. Bei Gelegenheit nehmen Sie sich die Fotos vor, da fällt Ihnen bestimmt auf, dass da was nicht stimmt. Auf den Fotos sind deutlich hellrote Totenflecken zu erkennen, die eigentlich düsterrot bis livide violett sein müssten. Die der Toten sind, wie bereits erwähnt, aber hellrot. Das kann man auch schon an der Färbung der Nagelbetten erkennen.“
„Ich werde mir die Fotos später ansehen. Fahren Sie fort.“
Viktoria war wirklich sehr interessiert, denn diese Frau Künstle beschrieb und erklärte so, dass auch sie es verstehen konnte.
„Durch die Obduktion hat es sich bestätigt: Sie ist definitiv an einer Kohlenmonoxid-Vergiftung gestorben.“
„Was natürlich auch durch einen Unfall verursacht sein könnte.“
„Selbstverständlich. Aber das herauszufinden, ist Ihre Arbeit. Und wenn die Altöttinger Kollegen den Bedenken von Hans nachgegangen wären und er mehr Vertrauen zu Ihnen, seiner Vorgesetzte und eigentlichen Ansprechpartnerin gehabt hätte, wäre es gar nicht so weit gekommen. Alles wäre seinen offiziellen Weg gegangen und die beiden hätten nicht diese riskanten Umwege beschreiten müssen. Ja, sehen Sie mich nicht so an. Ich gehöre zu denjenigen, die immer aussprechen, was sie denken. Bei der Toten hätte man niemals eine natürliche Todesursache ohne Obduktion feststellen dürfen, das ist ein Skandal! Und man hätte auf den Lebensgefährten hören müssen, zumal er bei der Mordkommission arbeitet. Hans ist kein Stümper und hat schließlich jahrelange Berufserfahrung. Außerdem hätte zumindest einem der Anwesenden am Fundort der Leiche auffallen müssen, dass die Totenflecken nicht stimmen können. Sie sollten Hans und Leo keine Vorwürfe machen, sondern ihnen dankbar sein, dass sie ihren Job gemacht haben.“
Christine konnte sich die Standpauke nicht verkneifen. Sie ärgerte sich darüber, dass eine solche Todesursache von einem niedergelassenen Arzt einfach so ohne weitere Recherche hingenommen wurde, obwohl von ihrer Sicht aus genügend Hinweise vorlagen, der Sache nachzugehen.
Wieder war Stille eingetreten, denn Viktoria würde sich diese Bemerkung bestimmt nicht einfach so gefallen lassen. Zur allgemeinen Überraschung lachte sie aber laut los.
„Sie sind mir so eine Marke Frau Künstle, Sie lassen wirklich keine Gelegenheit aus, Ihre Meinung zu sagen. Ja, sie haben Recht. Man hätte die Leiche unter den gegebenen Umständen auf jeden Fall obduzieren müssen. Was meine Person betrifft, liegt es hauptsächlich an mir, dass Hans sich mir gegenüber nicht erklärt hat. Ich muss zugeben, dass ich ihm nicht geglaubt und der Sache auch nicht nachgegangen wäre. Wir müssen an unserer Zusammenarbeit und dem Vertrauen arbeiten – mea culpa.“
„Respekt, eine Schuld zuzugeben spricht von wahrer Größe.“ Christine war begeistert, aber noch war sie Frau Untermaier gegenüber vorsichtig. Sie wusste noch nicht, was sie vorhatte und wie sie weiter vorgehen wollte. Noch waren sie nicht aus dem Schneider und hatten die Frau nicht auf ihrer Seite.
„Ich gebe einen Schnaps aus,“ rief Tante Gerda schließlich, die unendlich froh war, dass sich die Wogen langsam glätteten; außerdem brauchte sie nach dieser Obduktion dringend einen Schnaps.
„Eine sehr gute Idee! Du warst mir eine sehr große Hilfe Gerda, ehrlich. Für einen Laien hast du dich sehr professionell verhalten. Auch du hast dich sehr wacker geschlagen Hans, Respekt.“ Christine musste beiden ein Lob aussprechen. Sie hätte nicht geglaubt, dass die Obduktion so reibungslos verlaufen würde.
Die allgemeine Stimmung war tatsächlich etwas entspannter, auch Felix hatte sich wieder in die Ecke der Couch verzogen.
„Jetzt wissen wir immer noch nicht, wie es nun weitergeht,“ meinte Leo. Alle Augen lagen nun auf Viktoria.
„Wenn ich ehrlich bin, bin ich überfragt. Ihr habt da ein Durcheinander verursacht, das ich nun irgendwie wieder hinbiegen muss. Ich weiß noch nicht, wie ich das anstellen soll.“
Sie war ratlos und durcheinander. Nach all den Information musste sie erst einmal in Ruhe überlegen, wie sie das wieder auf die Reihe bringen sollte. Es waren mehrere Faktoren, die ihr Magenschmerzen bereiteten: Erst einmal muss die Obduktion nachträglich legal beantragt und genehmigt werden. Wobei sie noch nicht wusste, wie sie diese hier in der Waschküche erklären sollte. Und dann auch noch mit einer Pathologin, die nicht in den Zuständigkeitsbereich gehörte. Ein Gespräch mit den Altöttinger Kollegen war unausweichlich und würde unangenehm werden, denn die hatten fahrlässig und überaus schlampig gearbeitet. Irgendwie musste sie diesen Fall übernehmen, ohne die Kollegen zu beleidigen. Wie sollte sie das alles anstellen? Wo sollte sie anfangen? Zuerst musste sie mit ihrem Vorgesetzten Krohmer sprechen und ihm das alles hier irgendwie beibringen. Und das so geschickt wie möglich, damit keiner irgendwelche Konsequenzen befürchten musste. Sie würde alles dafür tun, um ihre Kollegen und diese Christine Künstle zu schützen. Das Gespräch mit Krohmer musste einfach gut verlaufen, damit sie gemeinsam überlegen konnten, wie sie weiter vorgehen sollten. Mit Krohmer im Rücken wäre das Problem sehr viel geringer. Ihm würde mit seinen Beziehungen schon eine Lösung einfallen. Krohmer war die perfekte Anlaufstelle!
„Sie kriegen das hin, Frau Untermaier, das sehe ich Ihnen an der Nasenspitze an. Gerda, bitte noch einen Schnaps.“ Für Christine war alles besprochen und sie war gespannt darauf, wie die Sache weiterging. Dass sich Viktoria auf ihre Seite schlagen und ihnen helfen würde, davon war sie von dem Moment an überzeugt, als sie die Blicke zwischen Viktoria und Leo bemerkte. Aber für sie selbst würde das keine Konsequenzen nach sich ziehen, das lag für sie auf der Hand. Später musste sie dringend mit ihrem Bruder sprechen und ihm klarmachen, dass sie auf jeden Fall ihren Urlaub verlängern und bis zur Lösung des Falles hierbleiben möchte. Wie lange das dauern würde, stand noch in den Sternen. Aber sie baute auf Leo und die Mühldorfer Kriminalpolizei und war in der Beziehung sehr entspannt.
Hans war die ganze Zeit über erstaunlich ruhig geblieben und Leo machte sich Sorgen, denn er trank zwar den einen oder anderen Schnaps mit, war aber sehr blass um die Nase.
„Geht es dir gut?“
„Nein, überhaupt nicht. Diese Obduktion hat mir ziemlich zugesetzt und ich mache mir die größten Vorwürfe, dass ich euch alle unnötig in eine dumme Situation gebracht habe. So wie es aussieht, stimmt zwar die Todesursache im Totenschein nicht, aber eine Kohlenmonoxid-Vergiftung ist meines Erachtens nach ein Unglücksfall. Bis vorhin noch hätte ich schwören können, dass sie ermordet wurde.“
„Jetzt reiß dich mal zusammen Hans,“ mischte sich Christine ein, „bislang wissen wir die Todesursache, das war der erste Schritt. Du lagst mit deiner Vermutung völlig richtig. Eine Kohlenmonoxid-Vergiftung muss kein Unglücksfall sein, auch dahinter kann ein Mord stecken. Das herauszufinden ist dein Job. Aber zuerst muss die Leiche wieder dahin zurück, wo sie hingehört, das wäre dann der zweite Schritt. Deine Vorgesetzte scheint mir clever genug, dass sie die ganze Scheiße irgendwie so hinbiegt, dass sie wieder sauber aussieht. Und dann kann man einen Schritt nach dem anderen weiter gehen und herausfinden, was wirklich passiert ist. Jetzt zu resignieren und den Kopf hängen zu lassen, ist absoluter Blödsinn. Außerdem hast du uns da nicht mit reingezogen, sondern wir sind alle erwachsene Menschen, die selbst entschieden haben. Prost.“
Christine hatte bereits tierisch einen im Tee, aber trotzdem war sie bei klarem Verstand. Das war der Vorteil bei ihr: Dadurch, dass sie überall und immer genau das sagte, was sie dachte, brauchte sie auch im angeheiterten oder gar betrunkenen Zustand keine Befürchtungen haben, etwas auszuplaudern, was ihr später leid tat.“
„Wie lange hast du nicht geschlafen?“ fragte sie Hans.
„Seit ich von Doris‘ Tod gehört habe, schlafe ich kaum noch.“
„Du legst dich hin und schläfst erst mal, du bist ja völlig übermüdet. Körper und Geist brauchen Ruhe, sonst funktionieren sie nicht richtig.“ Sie stand auf, kramte in ihrer Tasche die im Flur stand und drückte Hans zwei Tabletten in die Hand. „Nimm die, die werden dich zur Ruhe bringen. Schlaf gut.“
Hans ging wirklich. Nicht, weil er Christines Ratschlag befolgen wollte, sondern um allein zu sein. Ohne sich mit Leo abzusprechen, ging er in dessen Wohnung und legte sich auf die Couch. Er nahm die Tabletten. Er würde alles nehmen, um endlich den tausend Gedanken wenigstens für einen Moment entfliehen zu können, die ihm seit der Todesnachricht durch den Kopf gingen. Die Tabletten wirkten schnell. Kaum, dass er sich hingelegt und zugedeckt hatte, sank er in einen traumlosen Schlaf.
Die anderen saßen noch lange beieinander und verstanden sich immer besser.
„Sie sind in Ordnung, Frau Künstle,“ sagte nun Viktoria, die zwischenzeitlich auch nicht mehr ganz nüchtern war, „ich kann Sie eigentlich ganz gut leiden. Und natürlich werde ich mich darum kümmern, dass da keiner irgendetwas zu befürchten hat. Ich bin nämlich eine gute Chefin, wissen Sie? In letzter Zeit vielleicht weniger, aber das ändert sich in Zukunft. Prost Christine, ich bin die Viktoria.“
Leo hatte nach Hans gesehen, der selig tief und fest schlief.
„Was hast du ihm gegeben? Sind das legale Medikamente? Oder muss ich dir die Drogenfahndung auf den Hals hetzen?“ Alle lachten, auch Christine, die Leo keine Antwort gab. Natürlich war sie im Besitz einiger verschreibungspflichtiger Medikamente, die sie über einen Bekannten bezog. Aber was ging das die Polizei an?
Sie saßen noch lange beieinander und tranken Schnaps und Bier, bis Leo Christine und Viktoria, die am meisten tranken, ins Bett brachte. Er beschloss, beiden sein eigenes zu überlassen, das zum Glück groß genug war. Er schlief in Tante Gerdas Gästezimmer, das eigentlich für Christine gedacht war.
Leo war kein großer Trinker und hielt sich mit Alkohol stets zurück. Er mochte es nicht, wenn er keine Kontrolle mehr über sich hatte. Noch lange lag er wach und dachte über das nach, was seit gestern früh passiert war und fand ein Wort dafür: Verrückt!…
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