Der 33. Fall aus der Leo-Schwartz-Krimireihe
1.
Die Arbeiten auf der Baustelle für das neue Firmengebäude in der Bürgermeister-Hess-Straße im oberbayerischen Mühldorf am Inn liefen auf Hochtouren, auch wenn die Bauarbeiten außergewöhnlich oft unterbrochen werden mussten. Immer wieder gab es Beschwerden und Anzeigen, denen von Seiten des Bauamtes nachgegangen werden musste und die jedes Mal einen Baustopp verursachten. Außerdem häuften sich Sabotagen, die unnötig viel Zeit und auch Geld kosteten. Die Zeit drängte. Noch vor Wintereinbruch wollte man zumindest die Bodenplatte schaffen, wonach es jetzt noch nicht aussah. Es war bereits Ende November und es wurde von Tag zu Tag kälter. Die Umstände auf dieser Baustelle zerrten an den Nerven aller, vor allem der Bauunternehmer Weinmayer war stinksauer. In der letzten Nacht wurden fünf Reifen an vier verschiedenen Baufahrzeugen zerstochen. Was kam denn noch alles? Außer den heute zerstochenen Reifen gab es in den letzten Wochen leere Tanks, durchgeschnittene Benzinleitungen und gestohlenes Material. Vor drei Tagen wurde sogar ein Säureangriff auf die Türklinken der Bauwagen verübt. Ein Arbeiter hatte sich schwer, zwei andere leicht verletzt. Es schien, als wäre diese Baustelle verflucht, was unter den Bauarbeitern heftig diskutiert wurde. Es handelte sich um gestandene Männer, die es langsam mit der Angst zu tun bekamen. Fast alle hielten es für besser, die Bauarbeiten einzustellen und nächstes Jahr weiterzumachen. Das war auch die Meinung des Vorarbeiters Udo Brauer, der sich erneut an seinen Chef wandte.
„Mit diesen vielen Unterbrechungen schaffen wir deine Vorgaben nicht, Klemens! Wenn wir es jetzt gut sein lassen, können wir im Frühjahr weitermachen. Unsere Leute sind müde, sie wollen nicht mehr. Außerdem halten fast alle diese Baustelle für verflucht.“
„Das interessiert mich nicht, Udo!“, herrschte Klemens Weinmayer seinen Vorarbeiter an, der ihm mit seinem Gejammer schon seit Tagen in den Ohren lag. „Dieser abergläubische Mumpitz ist etwas für kleine Kinder und gehört nicht hierher. Die Arbeiten gehen weiter! In wenigen Tagen steht die Verschalung, den Beton einzugießen ist dann nur noch ein Kinderspiel. Biete den Leuten einen Bonus an. Wenn wir noch vor Weihnachten fertig werden, gibt es für jeden fünfhundert extra.“
„Verstehst du denn nicht? Die Leute können und wollen nicht mehr, daran ändert auch das Geld nichts!“ Udo Brauer war wütend. Seit Anfang diesen Jahres übernahm Klemens Weinmayer jeden Auftrag und peitschte die Leute an. Urlaube wurden gestrichen, stattdessen gab es Sonderzahlungen. Die wurden anfangs gerne angenommen, aber jetzt waren alle Männer ausgelaugt und mit ihren Kräften am Ende. Dazu kam die Angst, die fast jeden im Griff hatte. Schon seit Wochen hagelte es Beschwerden und nicht wenige drohten mit Kündigung, was vor allem an diesen Anschlägen und Ungereimtheiten lag, mit denen das Bauvorhaben immer wieder unterbrochen wurde. Udo Brauer nahm seine Leute sehr ernst, auch wenn er die Ängste für übertrieben hielt. Diese Unterbrechungen waren in seinen Augen keine Kinderstreiche, wie sie Klemens immer wieder abtat. Für Brauer waren das Aktionen, denen man strafrechtlich nachgehen sollte. Aber davon wollte Weinmayer nichts hören. Für ihn gab es nur die Arbeit und die Einhaltung der Termine, sonst nichts – und dafür peitschte er Brauer und somit alle Arbeiter voran.
Brauer verstand seine Leute, denn auch er selbst war fertig und brauchte nach diesem anstrengenden Jahr dringend Erholung. Durch Klemens‘ Uneinsichtigkeit würde sich die Lage auf der Baustelle verschlechtern, denn Brauer hatte seinen Männern versprochen, ihre Wünsche beim Chef anzubringen und für sie zu kämpfen. Er wollte nicht einen gehen lassen, denn gutes Personal war schwer zu finden. Klemens schienen die Befindlichkeiten seiner Leute völlig egal zu sein. Brauer hatte genug. Es musste eine Lösung her, und zwar schnell.
„Was ist nur los mit dir, Klemens? Früher war die Zusammenarbeit mit dir immer sehr angenehm, außerdem hast du deine Leute stets gut behandelt. Davon ist jetzt nichts mehr zu spüren. Du scheinst gehetzt und wirst immer unfreundlicher. Setzt dich jemand unter Druck? Hast du Geldsorgen?“
Klemens Weinmayer sah seinen Vorarbeiter an. Ja, er hatte Geldprobleme, die er nicht nur seiner geschiedenen Frau zu verdanken hatte, die ihn vor vier Jahren verlassen hatte. Seit er allein war, konnte er nichts mehr mit sich anfangen. Er tingelte anfangs monatelang durch Clubs und Bars, die ihn aber nicht zufriedenstellten. Er brauchte mehr – und begann Poker zu spielen. Anfangs ging es nur um kleinere Beträge, aber die reizten ihn irgendwann nicht mehr. Er brauchte den Kick und liebte es, um immer höhere Einsätze zu spielen. Dass er am Anfang des Jahres sein Haus verkaufen musste, fiel ihm nicht schwer, das war für ihn allein sowieso viel zu groß. Ihm genügte eine kleine, wenn auch luxuriöse Wohnung, die er sich leisten konnte. Wie lange noch, stand in den Sternen. Auch die Schmuckstücke und Aktien, die er für sein Altenteil zurückgelegt hatte, musste er bereits im Frühsommer verkaufen. Weinmayer war sich sicher, dass seine Pechsträhne bald vorbei war und dann würde er alles wieder zurückholen. Aber das Glück ließ auf sich warten. Er war seit Monaten bis über beide Ohren verschuldet und brauchte Geld. Wenn er das bevorstehende Bauvorhaben wunschgemäß noch vor Weihnachten fertigstellte, bekam er einen fetten Obolus, den er dringend brauchte. Der Kredithai, von dem er sich in den letzten Monaten mehrfach Geld geliehen hatte, rief immer wieder an und bestand auf die Rückzahlung. Der zwielichtige Dieter setzte ihn ganz schön unter Druck, was ihn zusätzlich vorantrieb.
Klemens Weinmayer atmete tief durch. Dass er nicht vorhatte, die angebotene Sonderzahlung an seine Leute auszuzahlen, behielt er lieber für sich. Ob er Brauer, mit dem er schon seit vielen Jahren zusammenarbeitete, die Wahrheit beichten sollte? Nein. Udo brauchte nichts davon wissen, der biedere Ehemann und Vater einer erwachsenen Tochter würde ihn nicht verstehen. Weinmayer lächelte und schlug einen versöhnlicheren Ton an, denn einen Streit mit seinem Vorarbeiter konnte er sich nicht leisten. Udo war zuverlässig und ein sehr guter Mittler zwischen ihm und den Bauarbeitern, mit denen er sich nicht selbst auseinandersetzen musste. Bauarbeiter gab es wie Sand am Meer, aber einen adäquaten Mann wie Brauer zu finden würde sehr, sehr schwer werden.
„Diese ständigen Unterbrechungen gehen mir auch auf die Nerven, das kannst du mir glauben. An wem bleiben denn diese Unannehmlichkeiten hängen? An mir natürlich! Ich darf nicht nur die Schäden melden und mich mit den Versicherungen herumschlagen. Die Reifen von heute Nacht wird die Versicherung nicht übernehmen, die darf ich selbst bezahlen.“ Klemens lachte wütend und dachte an den Versicherungsvertreter, der ihm beim letzten Schaden angekündigt hatte, in diesem Jahr keine weiteren Schäden mehr aufzunehmen. Er hatte ihm sogar mit der Kündigung der Versicherung gedroht, was Weinmayer nicht riskieren konnte. Mit diesen letzten Schäden würde es schwer werden, bei einer anderen Versicherung unterzukommen. Also blieb ihm nichts anderes übrig, als den Schaden der letzten Nacht aus eigener Tasche zu begleichen, auch wenn er dafür keinen Cent übrighatte. Wie er das anstellen wollte, wusste er noch nicht, aber irgendetwas würde ihm schon einfallen, wie immer. „Als wäre das nicht schon genug, gibt es immer wieder Ärger mit dem Bauamt. Wenn ich das Gesicht von dem Typen schon sehe, könnte ich ausflippen.“ Klemens war immer noch sehr aufgebracht. „Als ich den Auftrag übernahm, gab es Vorgaben, die wir schaffen müssen, verstehst du das denn nicht? Ich kämpfe an allen Fronten und sorge dafür, dass hier alles weiter geht. Bekomme ich einen Dank dafür? Natürlich nicht! Beschwere ich mich und jammere herum? Nein, das mache ich nicht! Alles geht weiter, wie geplant, hast du mich verstanden? Mach dich an die Arbeit!“, sagte Klemens zu seinem Vorarbeiter. „Besorg Ersatz für die Reifen und sieh zu, dass wir die verlorene Zeit wieder aufholen.“
„Einige haben mit Kündigung gedroht. Ich fürchte, dass das nicht nur leere Drohungen waren.“ Brauer gab nicht auf. Verstand Klemens die Lage nicht oder war sie ihm egal?
„Dann lass die Männer doch gehen! Glaubst du, dass ich mich von Bauarbeitern erpressen lasse? Die sollen froh sein, dass sie einen sicheren Arbeitsplatz haben! Arbeitskräfte gibt es zu Tausenden. Wer gehen will, kann gerne gehen, ich weine nicht einem eine Träne nach!“ Klemens Weinmayer ging zu seinem Wagen. Warum sollte er noch länger mit Udo diskutieren? Es war alles gesagt. Er hatte keine andere Wahl, als diesen Auftrag auszuführen, denn das Geld war längst verplant. Mit der einen Hälfte musste er seine Schulden begleichen. Die zweite Hälfte war sein Einsatz für das Spiel während der Weihnachtsfeiertage, das in Frankfurt stattfand. Weinmayer fieberte diesem Spiel entgegen, denn er spürte, dass er diesmal ganz groß abkassieren würde. Wenn er gewinnen würde, und davon war er überzeugt, hätte er große Chancen, an der Weltmeisterschaft in Las Vegas teilnehmen zu dürfen. Dafür müsste er sich bei offiziellen Spielen noch qualifizieren, aber das war in seinen Augen nur reine Routine. Diese Weltmeisterschaft war sein größter Traum, für den er alles tun würde.
Weinmayer setzte sich hinters Lenkrad und atmete tief durch. Dass Udo lästig werden würde, hatte er bereits geahnt. Das Gespräch mit ihm war sehr viel einfacher verlaufen, als er gedacht hatte, worüber Weinmayer nicht unglücklich war. Er checkte er sein Handy. Wieder war die Mailbox voll. Die Nummer gehörte seinem Geldgeber, der auf die Rückzahlung wartete. Er kannte nur dessen Vornamen: Dieter. Ob das sein richtiger Name war?
„Ich zahle dir das Geld zurück, versprochen! Noch vor Weihnachten hast du dein Geld!“
„Das kostet extra.“
„Ja, das ist mir klar. Du musst dich nur noch drei Wochen gedulden. Ich erwarte am zwanzigsten Dezember eine größere Zahlung, die ich sofort an dich weiterleite.“
„Gut. Wenn nicht, kann ich sehr unangenehm werden.“
Schon wieder eine Drohung – was war denn heute nur los? Weinmayer fluchte und legte einfach auf, dann schaltete er sein Handy aus. Er hatte keine Lust mehr auf weitere Drohungen von Dieter. Der würde sein Geld bekommen, so wie immer. Warum führte sich der Typ immer so auf, wenn es nicht nach seinem Willen ging? Ja, er hatte die Rückzahlung bereits mehrfach verschieben müssen, woran diese verdammten Sabotagen schuld waren, und nicht er. An Dieter konnte er jetzt keinen weiteren Gedanken verschwenden, er hatte ganz andere Sorgen. Weinmayer hatte endgültig genug und musste sich dringend um Überwachungskameras kümmern, um diese Sabotagen ein für alle Mal aus der Welt zu schaffen. Die fünf Reifen von heute Nacht kosteten ihn ein Vermögen. Geld, das eigentlich für Dieter bestimmt war. Dann musste dieser Trottel eben noch ein paar Tage warten.
Weinmayer gab Gas und hinterließ eine große Staubwolke. Diese verdammte Baustelle! Unter normalen Umständen wären sie schon sehr viel weiter. Noch heute musste er die Überwachungskameras installieren, wofür er zusätzlich Geld ausgeben musste. Wenn er den oder die Saboteure in die Finger bekäme, würde er ihn den Hals umdrehen.
Udo Brauer stand da wie ein begossener Pudel. Seit sein Chef geschieden war, hatte er sich verändert. Klemens hatte Probleme, das war ihm klar. Aber das ging ihn nichts an, und schon gar nicht seine Mitarbeiter. Momentan hatte auch er private Probleme, die er ja auch nicht zur Arbeit mitnahm. Konnte sich Klemens nicht zusammenreißen, wie er es auch musste? Er sah dem protzigen Wagen seines Chefs hinterher, als der davonfuhr. Udo hatte noch darauf gehofft, dass Klemens zur Vernunft käme, aber das war nicht der Fall. Wie sollte er seinen Mitarbeitern beibringen, dass es weiterging und das Bauvorhaben trotz aller Widrigkeiten fortgeführt werden musste?
Wie erwartet waren alle sauer, als er Klemens‘ Entscheidung weiterleitete. Zwei Männer schmissen sofort alles hin und kündigten fristlos, die anderen gingen wieder murrend an die Arbeit.
Langsam hatte Udo Brauer genug. Am liebsten würde er sich einen neuen Job suchen. Aber wer wollte ihn mit seinen neunundfünfzig Jahren noch nehmen? Das wusste Klemens, sonst würde er ihn nicht so von oben herab behandeln. Diesen Mistkerl sollte der Teufel holen!
Brauer kümmerte sich um die Reifen und trieb seine Leute an. Die Stimmung war schlecht, auch wenn er seinen Leuten zum Mittag Pizza spendierte. Alle wussten, dass der Vorarbeiter auf ihrer Seite war, trotzdem waren sie auch auf ihn wütend. Da der Chef für sie nicht greifbar war, musste an dessen Stelle eben Brauer herhalten.
Während des ganzen Tages wurde die Baustelle beobachtet. Was musste denn noch alles unternommen werden, damit diese Leute endlich mit ihren Arbeiten aufhörten?
2.
Kurz vor Feierabend klingelte Brauers Handy. Er erkannte die Nummer seiner Frau. Ihm wurde schlecht, denn wenn sie anrief, musste es dringend sein.
„Komm schnell, Udo! Max steht vor der Tür und flippt völlig aus! Er hat zwei Fenster eingeworfen. Ich habe die Polizei gerufen.“ Udos Frau war völlig aufgelöst.
„Ich bin unterwegs! Lass ihn nicht rein, hörst du?“
„Natürlich nicht!“
Brauer rannte während des Gespräches zu seinem Wagen. Die Rufe seiner Leute überhörte er.
„Ist Gaby zuhause?“
„Ja, sie ist hier und völlig aufgelöst. Ich kann sie kaum beruhigen.“
„Schließt euch ein!“
„Wo denn?“ Brauers Frau war völlig hysterisch und schien überfordert zu sein.
Brauer brauchte nicht lange zu überlegen, denn es gab in seinem Haus, das er selbst gebaut hatte, nur einen einzigen Ort, der sicher genug war.
„Geht in den Heizkeller, der Schlüssel steckt von innen.“
„Bitte beeile dich!“
Diesen verdammten Max soll der Teufel holen! Den Exfreund seiner Tochter hatte er noch nie gemocht. Warum seine Gaby auf diesen Hallodri reingefallen war, war ihm immer noch ein Rätsel. Seine Prinzessin, die ihm bis dato noch nie Probleme gemacht hatte, war diesem windigen Typen völlig verfallen. Dass Max Kern aus schwierigen Verhältnissen stammte, hätten Brauer und seine Frau vielleicht noch hingenommen, schließlich konnte niemand etwas für seine Herkunft. Aber dass er faul war und sich nicht einmal die Mühe machte, sich eine Arbeit zu suchen, machte ihn wütend. Dazu prahlte er mit seinem Halbwissen und führte überall den Ton an. Max hatte eine Gabe, sich über andere lustig zu machen und sich selbst als Intellektuellen darzustellen, der er ganz sicher nicht war. Er war ein Blender, wie er im Buche stand. Es hätte oft nicht viel gefehlt, und Brauer hätte sich diesen Klugscheißer vorgenommen, aber seiner Tochter zuliebe hielt er sich zurück und machte gute Miene zum bösen Spiel. Seine Gaby liebte diesen Mann abgöttisch und unterstützte ihn, wo sie nur konnte – auch finanziell, denn Max besaß nichts und hatte es nicht nötig, daran selbst etwas zu ändern. Dass Gaby ihre Ersparnisse verlor, machte nicht nur Brauer sauer, sondern auch seine Frau. Als Max dann auch noch anfing, seine Tochter zu unterdrücken und sie schlecht zu behandeln, war das für ihn als Vater nur schwer zu ertragen. Wie oft er seiner Gaby ins Gewissen geredet hatte, konnte er nicht mehr zählen. Aber sie wollte nicht hören und verteidigte ihren Freund, wo sie nur konnte. Vor drei Monaten tickte Max dann völlig aus. Brauer konnte sich noch gut an das Telefonat erinnern, das ihn mitten in der Nacht erreichte. Es war die Stationsschwester des Mühldorfer Krankenhauses. Die Frau kannte Gaby und fühlte sich verpflichtet, die Eltern zu informieren, auch wenn seine Tochter das nicht wollte. Gaby schämte sich und schien nicht zu verstehen, was passiert war. Max hatte Gaby nicht nur geschlagen, sondern regelrecht verprügelt. Sie hatte mehrere Hämatome am ganzen Körper, eine Platzwunde an der Augenbraue und eine aufgeplatzte Lippe davongetragen. Dass die heftigen Schläge nicht mehr angerichtet hatten, war reine Glückssache. Gaby war völlig verstört und brach beim Anblick ihrer Eltern zusammen. Brauer konnte seine Tochter zu einer Anzeige drängen, auch wenn das nicht leicht für sie war. Sie liebte diesen Scheißkerl immer noch und versuchte anfangs, sein Verhalten irgendwie zu erklären. Vielleicht war es auch nur die Angst vor ihm. Aber Brauer gab nicht auf und Max bekam das, was er verdiente: Eine Anzeige und ein Kontaktverbot, das noch in derselben Nacht ausgesprochen wurde. Wann und ob überhaupt eine Gerichtsverhandlung stattfand, stand in den Sternen. Brauer war kurz davor, sich den Typen selbst vorzunehmen, aber damit würde auch er sich strafbar machen. Zum Glück war seine Frau besonnen und konnte ihn beruhigen.
Vor einer Woche stand Max plötzlich wieder vor der Tür. Als er das dämliche Gesicht des Mannes sah, der seine Tochter übel zugerichtet hatte, hätte er ihn am liebsten zusammengeschlagen. Stattdessen blieb er ruhig und rief die Polizei. Aber das hielt Max nicht zurück. Seitdem tauchte er immer wieder auf. Und jetzt überschritt Max eine Grenze, worauf Brauer schon lange gewartet hatte. Wenn es stimmte, was seine Frau sagte, würde er sich diesen Mann endlich vornehmen. Jetzt, da dieses Arschloch sein Eigentum beschädigte, fühlte er sich dazu im Recht. Körperlich war er Max überlegen, dieser windige Typ brachte keine siebzig Kilo auf die Waage.
Brauer gab Gas. Als er auf sein Haus zufuhr, konnte er beobachten, wie Max durch das Küchenfenster in sein Haus einstieg. Dass das Max war, daran hatte er keinen Zweifel, auch wenn er ihn nicht erkannte. Die Polizei war noch nicht hier, was ihm sauer aufstieß. Was fiel diesen Polizisten eigentlich ein? Zwei Frauen waren in Not, da war höchste Eile geboten!
Brauer stellte den Wagen ab, nahm den Wagenheber aus dem Kofferraum und rannte auf sein Haus zu. Sollte er Max vor dem Eintreffen der Polizei erwischen, hatte der Pech gehabt – denn jetzt, da sich der gewalttätige Mann unrechtmäßig Zugang zu seinem Haus verschafft hatte, hatte dieses Arschloch eine Grenze überschritten, die er nicht hinnehmen wollte. Er war fest entschlossen, Max den Schädel einzuschlagen.
3.
Klemens Weinmayer hatte die Überwachungskameras besorgt, sie lagen in seinem Kofferraum. Wahnsinn, was die gekostet hatten! Am liebsten hätte er sie sofort angebracht, aber ein wichtiger Termin kam dazwischen. Ein neuer Kunde, der gleich zwei Bauaufträge im nächsten Jahr in Aussicht stellte. Weinmayer mochte diesen Mann nicht, aber Antipathien konnte er sich nicht leisten. Zwei Bauaufträge versprachen fettes Geld und daran war er immer interessiert. Nach zähen Geschäftsverhandlungen und einem Kneipenbesuch war er endlich zu Hause angekommen. Wie er diese Gespräche hasste! Wie immer wollte sein Gegenüber, dass er hofiert und gepampert wird, damit er ihm den Auftrag gab. Widerlich! Der Umgang im geschäftlichen Bereich verkam immer mehr, was ihn mehr und mehr anödete. Aber was sollte er machen? Um an weitere Aufträge und damit an Geld zu kommen, musste er mitspielen, ob er wollte oder nicht. Zum Glück hatte er diesen Trottel abfüllen können. Da der sich nicht mehr auf den Beinen halten konnte, hatte er ihn in ein Taxi gesetzt und damit war auch für ihn der Tag endlich vorbei. Die Nacht war kalt und es schüttete wie aus Eimern, was die morgigen Bauarbeiten nicht einfacher machte. Trotzdem musste es weitergehen. Auch die Kameras mussten installiert werden, aber natürlich bei diesem Mistwetter nicht von ihm persönlich. Wozu hatte er Angestellte, die diese Arbeit für ihn übernehmen konnten? Bei dem Wetter gab es sicher keine weiteren Anschläge, da jagte man ja noch nicht einmal einen Hund vor die Tür.
Der Anrufbeantworter war voller Nachrichten. Ob er sie abhören sollte? Er musste, ob er wollte oder nicht.
Schon beim ersten Ton wurde ihm klar, dass er heute einen Fehler gemacht hatte, weil er das Gespräch mit Dieter einfach unterbrochen und sein Handy ausgeschaltet hatte. Der Mann war stinksauer. Er schimpfte, fluchte und drohte. Weinmayer hatte keine Lust mehr. Wütend nahm er den Anrufbeantworter und warf ihn an die Wand.
„Warum so wütend, Klemens?“
Weinmayer fuhr erschrocken um – und sah in Dieter Gesicht.
„Wie kommst du hier rein?“
„Ist das wichtig? Du hast mich verärgert und das kann ich nicht leiden. Du schuldest mir Geld, und nicht umgekehrt. Solltest du in deiner Lage nicht etwas höflicher zu mir sein?“ Dieter grinste, auch wenn er innerlich kochte. Er konnte es sich nicht leisten, dass Schuldner so respektlos mit ihm umgingen, schließlich hatte er einen Ruf zu verlieren, den er sich mühsam aufgebaut hatte. Klemens war wiederholt frech geworden, und das musste er ihm austreiben. „Ich bekomme keine Antwort? Du bist schon wieder sehr unhöflich und das gefällt mir nicht. Als du in der Klemme warst, habe ich dir geholfen. Du hattest Probleme mit der Rückzahlung, und ich war so freundlich, dir einen Aufschub zu gewähren. Obwohl ich dir sehr entgegenkam, warst du heute sehr unhöflich zu mir. Du hast das Telefonat unterbrochen und dein Handy ausgeschaltet. Geht man so mit Geschäftspartnern um, die dir gegenüber sehr großzügig waren? Was soll ich deiner Meinung nach tun?“
„Ich habe dir doch gesagt, dass du dein Geld in drei Wochen bekommst!“, schrie ihn Klemens an. Was erlaubte sich dieser windige Typ? Niemand hatte das Recht, in seinen privaten Bereich einzudringen, auch Dieter nicht. Das hier war immer noch seine Wohnung, in der er sich bis jetzt sicher fühlte.
„Ja, das hast du mir gesagt. Ich würde das neue Zahlungsziel akzeptieren, auch wenn dich das etwas kosten würde.“
„Das sagtest du bereits!“
„Du hast mir nicht zugehört, Klemens! Die Art und Weise, wie du mit mir sprichst, gefällt mir absolut nicht. Du hast keinerlei Respekt, was ich nicht nett finde.“ Dieter holte aus und schlug Klemens mit voller Wucht ins Gesicht.
Diesen Schlag hatte Weinmayer nicht kommen sehen. Der stechende Schmerz schockierte ihn. Er hielt beide Hände an die Nase und spürte das Blut, das aus seiner Nase rann. Aber Dieter hatte noch nicht genug. Er holte aus und schlug ihm in den Magen. Weinmayer fiel zu Boden und japste nach Luft. Er versuchte zu sprechen, aber das gelang ihm nicht. Jeden Moment drohte er, sich übergeben zu müssen. Dann spürte er einen weiteren heftigen Schmerz, Dieter hatte ihn in die Niere getreten. Der Mann wusste, was er machte und wo es besonders weh tat.
„Hör auf!“, presste Weinmayer hervor. Er sprach kaum hörbar, aber Dieter hatte ihn verstanden. Der lachte nur und trat ihm nun gezielt zwischen die Schulterblätter. Weinmayer wurde fast ohnmächtig vor Schmerzen. Wann hörte der Mann endlich auf?
Dieter war noch nicht am Ende. Er genoss es, den hilflos auf dem Boden liegenden Mann zu quälen und ihm Respekt beizubringen. Unter den ihm bis jetzt zugefügten Schmerzen hatte der sicher noch lange zu leiden, aber das war ihm nicht genug. Er kannte diese aufgeblasenen Geschäftsleute, die sich als etwas Besseres fühlten und ihn nicht ernst nahmen. Sobald die Schmerzen nachließen, verschwand auch der Respekt. Dieter umkreiste Weinmayer und überlegte sich noch einen letzten Schritt. Er fixierte den Knöchel des Mannes und trat mit aller Kraft zu. Das Knacken war hörbar und Dieter musste lachen. So laut hatte er sich das Geräusch des brechenden Knöchels nicht vorgestellt.
Weinmayer schrie auf. So laut, dass Dieter ihm den Mund zuhalten musste, schließlich gab es hier Nachbarn, die langsam zur Gefahr wurden. Polizei konnte er nicht brauchen.
„Ich hoffe, du hast mich verstanden, mein Freund“, zischte Dieter und glättete das gegelte Haar, das durcheinandergekommen war.
Klemens Weinmayer war plötzlich ganz ruhig. Er bat Dieter, ihm aufzuhelfen, was der sogar tat. Obwohl Weinmayer unbeschreibliche Schmerzen hatte, überwog seine Wut auf den Mann, der ihn mit Genuss gequält hatte. Noch während er sich an der Kommode festhielt, griff er nach dem Kerzenleuchter, den seine geschiedene Frau vor über zwanzig Jahren in einem Antiquitätengeschäft für sehr viel Geld gekauft hatte. Sie wollte dieses hässliche Ding nach der Scheidung haben, aber er hielt daran fest. Nicht aus Sentimentalität, sondern nur, um sie zu ärgern. Dieter hatte sich von ihm abgewandt. Mit aller Kraft holte Weinmayer aus und schlug zu. Dieter brach zusammen, trotzdem schlug Weinmayer wieder und wieder wie von Sinnen auf ihn ein. Anfangs war es ihm egal, wo er ihn traf, dann konzentrierte er sich nur auf den Kopf. Dieter wehrte sich nicht, trotzdem schlug er weiter auf ihn ein. Irgendwann hörte er völlig entkräftet auf. Erst jetzt sah Weinmayer, was er angerichtet hatte. Von Dieters Gesicht war nichts mehr zu sehen. Der Mann lag in einer Blutlache und gab keinen Mucks von sich. Weinmayer verstand, dass er ihn getötet hatte. Erschrocken wich er zurück. Was hatte er getan? Was sollte er jetzt tun?
Weinmayer saß stundenlang vor seinem Opfer und dachte nach. Es gab für ihn nur eine Lösung. Er rief Udo Brauer an.
„Chef? Es ist mitten in der Nacht!“ Brauer war ebenfalls noch hellwach. Er musste sich konzentrieren, um den Worten folgen zu können.
„Dass es spät ist, weiß ich selbst, Udo! Ich habe mir nochmal das Gespräch zwischen uns durch den Kopf gehen lassen. Du hattest absolut Recht, dass die Arbeit auf der Baustelle so nicht weitergehen kann. Informiere die Leute, dass ab sofort Schluss ist. Im Frühjahr geht es weiter.“
„Du meinst wirklich ab sofort?“
„Ja, das meine ich.“
„Vielen Dank, Klemens. Es gibt noch Details zu besprechen. Wann können wir uns treffen?“
„Vorerst nicht. Ich melde mich wieder.“
Udo Brauer lachte hysterisch. Das, was sein Chef eben sagte, interessierte ihn einen feuchten Dreck, denn er hatte ganz andere Probleme. Er saß auf dem Boden des Kellers. Neben ihm lag Max, der echt beschissen aussah. Seine Frau und Tochter waren immer noch im Heizraum. Um ihnen den Anblick zu ersparen und sie nicht in die Sache hineinziehen zu müssen, hatte er die Tür mit einem Stuhl verkeilt.
Die Polizisten, die irgendwann eintrudelten, hatte er abwimmeln können. Die schienen froh darüber zu sein, umsonst gekommen zu sein. Nachdem sie die eingeschlagenen Fenster gesehen hatten, rechneten sie mit dem Schlimmsten. Brauer war ganz ruhig geblieben, denn das, was er getan hatte, konnte er nicht mehr rückgängig machen. Entweder stellte er sich, oder fand eine andere Lösung. Was sollte er jetzt mit Max machen?
4.
Zwei Wochen später – Donnerstag, 12. Dezember
Die Stimmung bei der Kriminalpolizei im oberbayerischen Mühldorf am Inn war hervorragend. Der Polizeichef Rudolf Krohmer hatte zu einem kleinen Umtrunk eingeladen, bei dem es Glühwein, Lebkuchen und Christstollen gab. Das war sonst nicht seine Art, aber er hatte sich dazu von seiner Frau Luise überreden lassen. Sie war der Meinung, dass eine solche Einladung für eine gute Stimmung unter den Mitarbeitern sorgen würde. Krohmer gab nach, auch wenn er von dieser Aktion nicht wirklich überzeugt war.
Der fünfundfünfzigjährige Leo Schwartz langte kräftig zu. Er liebte Weihnachten und alles, was damit zusammenhing. Außerdem hatte er zwischen Weihnachten und Neujahr Urlaub, den er mit seiner Verlobten Sabine im warmen Ägypten verbringen wollte. Er zählte die Tage, wann es endlich so weit war.
„Wenn du so weiter futterst, kannst du dich im Urlaub nicht in der Badehose sehen lassen“, lachte der neunundfünfzigjährige Kollege und Leos bester Freund Hans Hiebler. „Die Vorweihnachtszeit bekommt dir nicht, du hast ganz schön zugelegt.“ Hans zeigte auf Leos T-Shirt, das sich über dessen Bauch spannte. Der darauf abgebildete Gitarrist, den außer Leo niemand kannte, zog sich ganz schön in die Breite.
„Blödsinn!“, rief Leo und zog an dem T-Shirt. „Das ist bei der letzten Wäsche eingegangen.“
„So, wie deine anderen Klamotten auch?“
Alle lachten, auch Leo. Ja, er hatte zugenommen. Aber was sollte er machen? Seine Vermieterin und Ersatzmutter Tante Gerda kochte seit Wochen die leckersten Gerichte, bei denen er nicht widerstehen konnte. Außerdem backte sie herrliche Plätzchen, die er am Abend ja schließlich ausgiebig probieren musste. Dazu gab es bei den wöchentlichen Einkäufen zu viele Verführungen, denn Lebkuchen, Spekulatius und vor allem Marzipan wanderten immer auf wundersame Weise in seinen Einkaufswagen.
Sogar der Staatsanwalt Eberwein hatte sich inzwischen eingefunden, auch wenn er nicht eingeladen war. Er war seit dem letzten großen Fall sehr handzahm geworden, was alle freute und weshalb er willkommen war. Eberwein war nervös, denn der heutige Besuch war nicht angenehm für ihn. Seine Bemühungen, einen Ersatz für die verletzte Diana Nußbaumer zu finden, die längst wieder auf eigene Verantwortung im Dienst war, trug überraschenderweise Früchte: Er musste bei der heutigen Gelegenheit den neuen Kollegen präsentieren, den er nicht mehr ablehnen konnte. Wie er das Krohmer und den anderen beibringen wollte, wusste er noch nicht. Er sah auf die Uhr. Nur noch eine halbe Stunde, dann war der Mann hier. Es war Zeit, die gesellige Runde zu unterbrechen und endlich allen reinen Wein einzuschenken. Er stand auf und klopfte mit seinem Siegelring mehrmals gegen sein Glas. Alle sahen den Staatsanwalt an. Wurde das jetzt wieder eine langatmige Rede, die keinen interessierte? Leo und Tatjana Struck, die Leiterin der Mordkommission, verdrehten die Augen, was Krohmer mit einem strengen Blick quittierte.
„Wenn ich um Ihre Aufmerksamkeit bitten dürfte!“, begann der Staatsanwalt und lächelte gequält. „Ich soll Ihnen vom Oberstaatsanwalt Terpitz nochmals danken und Ihnen die besten Grüße ausrichten. Die Gerichtsverhandlung gegen die beiden Bottas-Brüder zieht sich zwar noch, aber er ist sich sicher, dass sie ihre gerechte Strafe bekommen werden. Die Ermittlungen, die die Aussage des Kronzeugen ausgelöst haben, haben den Bottas-Clan zerschlagen.“ Alle freuten sich über das Update und dieses Lob, denn das kam nicht oft vor. Alle schienen milde gestimmt zu sein, weshalb der Staatsanwalt zum eigentlichen Anliegen seines Besuches überging. „Wie Ihnen bekannt ist, habe ich mich um Ersatz für die Kollegin Nußbaumer bemüht.“
„Was jetzt nicht mehr notwendig ist“, rief die achtundzwanzigjährige Diana Nußbaumer, der es hervorragend ging. Die Schusswunde war verheilt und die Schmerzen gehörten der Vergangenheit an.
„Das ist zwar sehr schön, aber trotzdem ist der mir zugesagte Ersatz für Sie jetzt eingetroffen. In wenigen Minuten dürfte der Kollege hier sein.“
„Sie verarschen uns doch!“, rief Tatjana Struck, die heute aussah, als wäre sie gerade erst aufgestanden. Sie hatte verschlafen, was niemanden etwas anging. Das hier war schließlich keine Modenschau, sie war wegen ihrer Arbeit hier.
„Ich verbitte mir solche Äußerungen, Frau Struck!“, sagte der Staatsanwalt. „Der Mühldorfer Kriminalpolizei wurde Verstärkung bewilligt, die ich nicht mehr ablehnen kann. Dass die Kollegin Nußbaumer wieder voll im Einsatz ist, ist unstrittig und das habe ich auch gemeldet. Irgendwie muss das untergegangen sein. Bis ich das abgeklärt habe, bleibt der Kollege hier und steht der Kriminalpolizei zur Verfügung.“
Rudolf Krohmer war sauer.
„Wieso erfahre ich in dieser Art davon? Warum haben Sie mir das nicht längst mitgeteilt?“
„Weil mir diese Information nicht vorlag. Es tut mir wirklich sehr leid, aber auch mir wurde erst vor zwei Stunden mitgeteilt, dass der Kollege bereits unterwegs ist und um elf Uhr in Mühldorf eintrifft. Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen die Nachricht gerne zeigen.“ Eberwein wiederholte seine Erklärung. Ob man sie ihm abnahm?
„Sie wissen seit zwei Stunden davon? Warum erfahren wir erst jetzt davon?“
„Ich wollte Ihnen allen diese Nachricht gerne persönlich mitteilen.“
Krohmer wäre am liebsten ausgerastet. Was fiel dem Staatsanwalt eigentlich ein? War das die korrekte Vorgehensweise, wenn es um einen solch wichtigen Punkt ging? Ganz sicher nicht! Trotzdem mahnte er sich zur Ruhe.
„Um wen handelt es sich?“
„Um einen gewissen Anton Graumaier. Mehr als den Namen habe ich leider auch nicht.“
Es entstand eine heftige Diskussion unter allen Anwesenden. Das Klopfen an der Tür wurde nicht gehört. Anton Graumaier hatte sich bei Krohmers Sekretärin Maria Rettermaier gemeldet. Sie war überrascht gewesen, da sie nichts von einem neuen Kollegen wusste. Warum hatte ihr niemand etwas davon gesagt?
Jetzt standen die beiden in der Tür und mussten mit ansehen und auch anhören, wie sich alle stritten, wobei nicht selten der Name Graumaier fiel. Maria Rettermaier verstand, dass nicht nur sie unwissend war, was den neuen Kollegen betraf. Langsam wurde ihr die Situation sehr unangenehm und sie sah sich dazu genötigt, einzuschreiten. Sie nahm ihre Finger in den Mund und pfiff sehr laut. Sofort war es still und alle Augen wanderten zur ihr und dem neuen Kollegen.
„Darf ich vorstellen: Anton Graumaier, Ihr neuer Kollege.“
Alle starrten den Mann an, der selbstbewusst grinste. Niemand der Anwesenden hätte damit gerechnet, dass es sich bei dem neuen Kollegen um einen zweiunddreißigjährigen, sportlichen Mann handelte, der dazu auch noch verdammt gut aussah. Die Jeans und das Hemd waren modern, die Sonnenbrille steckte trotz des schlechten Wetters im Haar. Als Graumaier die Blicke auf diese Brille bemerkte, nahm er sie mit einem fetten Grinsen ab und steckte sie in die Brusttasche seiner modernen Jacke, die für die Temperaturen viel zu dünn war.
Krohmer stand auf und räusperte sich.
„Herzlich Willkommen, Herr Graumaier. Ich möchte mich in aller Form bei Ihnen entschuldigen. Dass wir in Ihrer Abwesenheit über Sie gesprochen haben, ist nicht persönlich gemeint. Wir haben alle erst jetzt von Ihnen erfahren.“
„Passt schon“, grinste Graumaier. „Ich habe schon gemerkt, dass ich nicht erwartet werde. Irgendjemand muss geschlafen haben.“
„Eberwein mein Name“, stellte sich der Staatsanwalt vor. „Es stimmt, dass ich Verstärkung angefordert habe, aber das ist lange her und wurde von mir bereits vorschriftsmäßig gecancelt. Ich werde mich sofort darum kümmern, was da schiefgelaufen ist.“
„Aber bis dahin bleibe ich, oder?“ Graumaier hatte Diana Nußbaumer entdeckt und war begeistert. Wenigstens ein kleiner Lichtblick. Als er vor drei Tagen die Nachricht erhalten hatte, dass er eine vorübergehende Stelle in Mühldorf am Inn antreten musste, hielt sich seine Freude in Grenzen, denn er kannte die Gegend sehr gut. Schon wieder ging es in die Provinz! Wann bekam er endlich die Chance, sich in einer Großstadt beweisen zu können? Seine Karriere hatte vor zwei Jahren aufgrund von Sparmaßnahmen einen kleinen Knick bekommen. Die Festanstellung war dahin, dafür war er als Springer eingeteilt worden. Das bedeutete, dass er überall dort eingesetzt wurde, wo gerade Not am Mann war. Auch wenn man ihm immer wieder versprach, an der Situation etwas ändern zu wollen, blieb es dabei. Graumaier hasste es, immer wieder auf Fremde zu treffen und dann wieder gehen zu müssen, sobald er sich eingelebt hatte. Ja, er hätte sehr gerne wieder einen festen Job und ein gewohntes Umfeld. Aber Mühldorf? Warum nicht München, Nürnberg oder wenigstens Regensburg?
„Bitte setzen Sie sich, Herr Graumaier“, sagte Eberwein, da sonst niemand reagierte. Es schien, als würden alle anderen in einem Schockzustand sein. „Bis ich die Angelegenheit geklärt habe, bleiben Sie selbstverständlich und sind Teil des Teams der Mordkommission Mühldorf.“
„Freut mich“, sagte Graumaier und setzte sich. Es war totenstill. „Wenn ich mich nochmals selbst vorstellen darf? Meinen Namen kennen Sie bereits, allerdings nennen mich alle Toni, auf den Anton verzichte ich gerne. Ich bin zweiunddreißig Jahre alt, bin ledig und habe keine Kinder. Gebürtig komme ich aus Neuötting, wo ich auch meine Kindheit und meine Jugend verbracht habe. Die Gegend hier ist mir daher nicht unbekannt. Mit siebzehn Jahren hat es mich nach Landshut verschlagen, wo ich immer noch meinen Hauptwohnsitz habe. Seit zwei Jahren bin ich als Springer eingeteilt – und jetzt bin ich hier, auch wenn ich nicht willkommen bin.“
Leo fasste sich zuerst ein Herz und stellte sich vor. Wurde er damals, als er nach Mühldorf versetzt wurde, nicht sehr viel freundlicher empfangen? Nun machten sich auch die anderen mit dem Neuen bekannt, wobei Graumaier Dianas Hand etwas zu lange hielt.
„Ist das Angebot limitiert oder darf ich zugreifen?“ Graumaier zeigte auf den Glühwein und die Leckereien, die auf dem Tisch standen.
„Bitte, greifen Sie zu, es ist genug da.“
„Geht es hier immer so leger zu oder gibt es etwas zu feiern?“
„Nein, das hier ist eine Ausnahme“, brummte Krohmer und stand auf. Es war ihm peinlich, welchen Eindruck seine Kriminalpolizei machte, zumal das dies hier tatsächlich nur eine einmalige Sache war. Warum hatte er sich von seiner Frau nur dazu überreden lassen? Luise befand es für gut, die Kollegen zu einer geselligen Runde einzuladen. Was für ein Schwachsinn! Vor allem Glühwein und Weihnachtsgebäck fand er persönlich völlig überzogen, zumal es bis Weihnachten noch fast zwei Wochen waren. In Zukunft musste er sich besser überlegen, wozu er seine Zustimmung gab, schließlich war das hier die Polizei und nicht der Weihnachtsmarkt.
Toni Graumaier trank Glühwein und lehnte sich zurück. Er besah sich die künftigen Kollegen und seinen Chef, über die er sich im Vorfeld eingehend informiert hatte. Es ging das Gerücht um, dass die hiesigen Kriminalbeamten jeden noch so schwierigen Fall an sich rissen, woran der mediengeile Staatsanwalt nicht unschuldig war. Die Arbeit an sich war für Graumaier kein Problem, allerdings mochte er die Gefahr nicht. Recherchen waren sein Steckenpferd, auch Befragungen oder Vernehmungen hatten es ihm angetan. Aber der Gebrauch der Waffe oder gar Gefahrensituationen waren nicht sein Ding. Graumaiers Blick ging mehrmals durch die Runde. So draufgängerisch sahen die neuen Kollegen überhaupt nicht aus. Sie waren eher durchschnittlich und schienen bunt zusammengewürfelt zu sein, was er so nicht erwartet hatte. Waren die Berichte über die Mühldorfer Kriminalpolizei überhaupt echt?
Bevor Krohmer das Besprechungszimmer verließ, sprang Hans Hiebler auf.
„Jetzt, da unerwartet Verstärkung hier ist, könnte ich doch Urlaub machen“, sagte er schnell, bevor ihm einer der Kollegen zuvorkam. Krohmer sah Hans an.
„Ich habe nichts dagegen“, sagte Krohmer.
„Vier Wochen?“ Hans versuchte sein Glück, denn normalerweise gab es schon wegen einer Woche unendlich lange Diskussionen mit dem Chef.
„Das ist völlig übertrieben. Zwei Wochen sind ausreichend.“
„Das finde ich auch“, sagte Diana. „Ich hätte auch endlich gerne Urlaub.“
„Ich auch“, rief Tatjana.
Nur Leo hielt sich zurück, schließlich war sein Urlaub längst genehmigt und mit der Woche zwischen Weinachten und Neujahr auch bis auf den letzten Tag für dieses Jahr aufgebraucht.
„Einer nach dem anderen“, rief Krohmer. „Sprechen Sie sich untereinander ab, ich erwarte Ihre Urlaubsvorschläge.“
„Aber ich kann sofort freinehmen?“ Hans war ausgelaugt und konnte es nicht erwarten, sich endlich auszuruhen. Mit zunehmendem Alter spürte er die Arbeit, außerdem setzte ihm der ständige Wechsel zwischen Mühldorf und München zu seiner Frau Anita so langsam zu. Zwei freie Wochen wären herrlich! „Wir haben momentan keinen Mordfall und mit dem neuen Kollegen sind wir doch genug Leute“, setzte Hans nach. Fragend sah er seinen Chef an.
„Meinetwegen, hauen Sie ab. Schöne Weihnachten!“
Diana und Tatjana wollten keine Zeit verlieren und diskutierten die Urlaubswünsche sofort aus. Die beiden brauchten nicht lange und Diana rannte dem Chef hinterher, der noch nicht in seinem Büro angekommen war. Mit einem Lächeln überreichte sie ihm die Urlaubsanträge, die weit bis in den Januar reichten.
„Ich sehe mir das an und melde mich bei Ihnen.“
Der Staatsanwalt war ohne einen weiteren Gruß gegangen, denn er musste dringend klären, wer das mit der unverhofften Aushilfe verbockt hatte. An ihm lag es ganz sicher nicht, er war völlig korrekt vorgegangen. Welcher Trottel hatte da geschlafen?
„Ich wünsche dir einen schönen Urlaub und schöne Weihnachten“, sagte Leo, der seinen besten Freund jetzt schon vermisste.
„Wir sehen uns zu Weihnachten, das habe ich Tante Gerda versprochen“, grinste Hans, der sein Glück nicht fassen konnte. Tante Gerda war Hans‘ Tante und Leos Vermieterin und Ersatzmutter. Es war inzwischen Tradition, dass sich fast alle zu Weihnachten bei ihr einfanden und sie gemeinsam Weihnachten feierten.
„Super, dann bis Weihnachten! Grüß Anita von mir!“
Hans brauchte nicht lange, bis er beim Wagen war. Er musste sich beeilen, bevor noch ein Mordfall hereinkam oder es sich der Chef noch anders überlegte. Wehmütig sah Leo ihm hinterher. Ob das auch an dem miesen Wetter lag? Vielleicht brauchte er nur mal wieder einen fetten Mordfall, denn das Wälzen alter Akten langweilte ihn ohne Ende.
„Und? Wie ist es als Schwabe in Bayern?“, riss ihn Graumaier aus seinen Gedanken.
„Nicht immer leicht, das können Sie mir glauben. Die Mentalitäten der Schwaben und Bayern sind doch sehr unterschiedlich, das hätte ich mir damals auch nicht vorstellen können. Aber ich komme zurecht und habe mich eingelebt.“
„Wenn Sie damals nicht Mist gebaut hätten, wären Sie vermutlich immer noch in Ulm und bei der dortigen Kriminalpolizei immer noch eine große Nummer“, grinste Graumaier und trank von dem Glühwein.
Leo sah den Neuen fassungslos an – und wusste jetzt schon, dass er ihn nicht mochte. Er verkniff sich einen Kommentar und war beleidigt.
Auch Diana und Tatjana hatten gehört, was Graumaier gesagt hatte und fanden das nicht gut. Der Neue war forsch und hielt mit seinem Wissen nicht hinterm Berg. Das konnte ja echt lustig werden!
Es ging für alle an die Arbeit, die hauptsächlich aus der Prüfung alter Fälle bestand und die keiner mochte.
Wenn die Kriminalbeamten geahnt hätten, was auf sie zukommt, hätten sie diese Arbeit geliebt.
5.
„Kai-Uwe! Komm sofort zurück!“ Elli Sander war wütend. Den Weg, den sie sonst mit ihrem Mischlingsrüden ging, konnte sie heute vergessen, der war durch mehrere Fahrzeuge versperrt worden. Also nahm sie eine andere Strecke, die ihr nicht lag und die ihr nicht wirklich gefiel. Zu viel Verkehr und alles viel zu unübersichtlich für ihren lebhaften Kai-Uwe, der seinen eigenen Kopf hatte und sich trotz der vielen Stunden in der Hundeschule in manchen Situationen nicht bändigen ließ. Eigentlich hätte sie ihn hier nicht von der Leine lassen dürfen, aber sie konnte nicht anders und wollte ihm die Freiheit zugestehen. Jetzt war Kai-Uwe auf und davon. Irgendetwas war ihm in die Nase gestiegen und er war seinem Instinkt gefolgt. Elli Sander hatte zu spät reagiert. Sie war ihm hechelnd hinterhergelaufen, aber er war einfach viel zu schnell. Schnurstracks lief er auf die Baustelle zu, die ihr neu war. Als sie das letzte Mal hier gewesen war, war das hier noch ein freies Grundstück, das schon ewig brach lag und niemandem zu gehören schien. In der Nacht hatte es geregnet, was den Boden aufgeweicht hatte. Ihr wurde schlecht, denn das Wälzen im Matsch war eine der Lieblingsbeschäftigungen ihres Hundes. Sie hatte einen Zahnarzttermin, den sie mit einem vermatschten Hund vergessen konnte. Es würde ihr nichts anderes übrigbleiben, als Kai-Uwe zu baden und vorher den Termin abzusagen. Verdammter Mist! Der freie Tag hätte so schön werden können!
Kai-Uwe rannte über die Baustelle, auf der zum Glück nicht gearbeitet wurde. Zumindest gab es mit den Bauarbeitern keinen Ärger. Vor der Absperrung blieb sie stehen. Ob sie es wagen konnte, die Baustelle zu betreten? Überall standen Warnschilder, die ihren Kai-Uwe natürlich nicht interessierten und die sie jetzt auch ignorieren musste. Die Baufahrzeuge hatten tiefe Spuren hinterlassen, die aufgeweicht waren und in denen sich jede Menge Wasser gesammelt hatte. Nach einigen Schritten waren ihre Schuhe dahin. Ihre Wut auf Kai-Uwe stieg. Er reagierte auf ihre Rufe nicht, er hielt es noch nicht einmal für nötig, sich umzudrehen. Na warte! Der konnte sich auf etwas gefasst machen! Wütend stapfte sie ihrem Kai-Uwe hinterher. Für einen kurzen Moment passte sie nicht auf und flog der Länge nach hin. Auch das noch! Der Sturz tat nicht weh, sie fiel sehr weich, aber sie war über und über mit Matsch versaut. Noch bevor sie darüber nachdachte, wieder aufzustehen, beobachtete sie, wie ihr Kai-Uwe zielstrebig im Matsch buddelte. So aufgeregt hatte sie ihn noch nie gesehen. Was war los mit ihm? Plötzlich setzte er sich und starrte auf die Stelle vor ihm. Elli Sander stand auf und ging auf ihn zu. Sie machte sich große Sorgen um ihren Kai-Uwe, der sich seltsam benahm. Ihre Wut war verraucht, denn mit ihrem Liebling stimmte etwas nicht. Beruhigend sprach sie auf ihn ein, aber er schien sie nicht zu hören. Als sie endlich bei ihm war, wusste sie, warum sich ihr Kai-Uwe so komisch benahm: Er hatte eine Leiche ausgebuddelt.
Elli Sander traute ihren Augen nicht. Sie hatte noch nie eine Leiche gesehen und der Mageninhalt wanderte bedrohlich nach oben. Dann mahnte sie sich zur Ruhe, wobei sie laut mit sich selbst sprach. Sie beruhigte ihren Kai-Uwe und zog ihn von der Stelle weg, wozu sie ihm die Leine anlegen musste, denn freiwillig bewegte er sich nicht. Mit aller Kraft schaffte sie es, den dreißig Kilo schweren Rüden, der sich einfach nicht beruhigen wollte, endlich zur Seite zu ziehen. Mit zitternden Händen nahm sie ihr Handy und rief die Polizei an.
„Leichenfund in Mühldorf, Bürgermeister-Hess-Straße“, sagte Tatjana laut zu ihren Kollegen, die sofort aufsprangen.
„Das ist das östliche Industriegebiet“, erklärte Leo dem Neuen.
„Ich weiß“, grinste Anton Graumaier und ging zielstrebig auf Diana zu.
„Klugscheißer!“, murmelte Leo.
Tatjana Struck verdrehte die Augen. Der Neue bedrängte Diana, was sie nicht erlauben konnte. Und jetzt bekam sie auch noch mit, dass Leo von ihm nicht begeistert war, was sie irgendwie verstehen konnte. Was sollte sie tun?
„Diana, du fährst mit mir. Leo, du nimmst Graumaier mit.“
„Warum ich?“, maulte Leo.
„Weil ich es sage.“
„Schade“, lächelte Graumaier Diana an, die hingegen froh darüber war, Tatjana begleiten zu dürfen, denn der Neue war nicht ihr Typ. Ganz abgesehen davon, würde sie niemals etwas mit einem Kollegen anfangen.
„Danke“, sagte sie zu Tatjana, als sie in den Wagen stieg.
„Gerne. Sollte er sich dir unangemessen nähern, gib mir Bescheid.“
„Ich kann mich wehren“, lachte Diana.
„Das weiß ich. Trotzdem brauchen wir nicht noch einen, der seine Hormone nicht unter Kontrolle hat. Hans reicht uns völlig.“
Leo fuhr den Wagen und schwieg. Was sollte er dem Neuen sagen?
„Hat die hübsche Kollegin einen Mann oder einen Freund?“ Anton Graumaier grinste. Er war eine Frohnatur, was Leo erneut sauer aufstieß. Während er sich Gedanken um das Opfer machte, zeigte der Neue Interesse für seine Kollegin.
Leo hatte nicht vor, ihm zu antworten und schwieg beharrlich. Kurz vor dem Fundort der Leiche wiederholte Graumaier seine Frage, denn die hübsche Kollegin gefiel ihm besonders gut.
Leo stellte den Wagen ab, nachdem er die Zeugin mit ihrem Hund erblickt hatte.
„Finger weg von Diana, verstanden? Sie sind warum auch immer in Mühldorf, um Ihre Arbeit zu machen. So lange Sie hier sind, reißen Sie sich gefälligst zusammen, haben Sie das kapiert? Wenn nicht, bekommen Sie ernsthafte Probleme!“
„Schon gut, ich wollte….“
„Halten Sie einfach die Klappe und machen Sie Ihre Arbeit, Mann!“
Tatjana sah sofort, dass es zwischen Leo und dem Neuen Probleme gegeben hatte, was sie nicht leiden konnte.
„Ist etwas vorgefallen?“, wandte sie sich an Leo.
„Nicht der Rede wert. Wo ist die Leiche?“
„Dort. Kein schöner Anblick, das kannst du mir glauben. Von dem Gesicht ist nicht viel übrig geblieben.“
Leo grüßte den Leiter der Spurensicherung, der bereits veranlasst hatte, dass die Fundstelle der Leiche weiträumig abgesperrt wurde. Friedrich Fuchs war auf dieses Wetter und den Matsch bestens vorbereitet, Leo leider nicht. Bereits nach zwei Schritten waren die Cowboystiefel versaut, was seine Laune nicht verbesserte.
„Der sieht übel aus“, sagte Graumaier, der Leo gefolgt war. „Ich schätze, dass der noch nicht lange dort liegt.“
„Das nehme ich auch an.“ Leo drehte sich um und ging wieder. Auch, um Fuchs das Feld zu überlassen, der es nicht mochte, wenn er nicht in Ruhe arbeiten konnte.
„Was haben Sie vor, Kollege Schwartz?“
„Ich sehe mich nur um.“
Leo watete durch die Baustelle und besah sich alles sehr genau. Graumaier folgte ihm, was Leo egal war.
„Hier war schon lange keiner mehr“, sagte Leo mehr zu sich selbst. „Warum? Wegen des Wetters?“
„Das müssen wir unbedingt herausfinden“, sagte Graumaier, der nicht von Leos Seite wich. „Gehen wir zurück zu den anderen?“
„Noch nicht.“ Leo ging weiter. Dann fand er endlich, wonach er suchte – eine Schaufel. Damit könnte die Leiche vergraben worden sein. Er zog Handschuhe an, packte die Schaufel und ging zu Fuchs, dem er sie übergab. „Vielleicht haben wir Glück und finden Fingerabdrücke.“
Laute Motorengeräusche unterbrachen das Gespräch. Alle sahen zu, wie ein Mann einen Bagger zur Seite fuhr, der sich in Fuchs‘ abgesperrten Terrain befand und ihn störte. Die Polizei hatte versucht, Klemens Weinmayer als den zuständigen Bauunternehmer zu erreichen, aber der ging nicht ans Telefon. Über Umwege wurde die Anfrage an Udo Brauer gerichtet, der jetzt dabei war, den Bagger umzusetzen.
Udo Brauer hatte keine Ahnung, warum die Polizei auf der Baustelle war, auf der seit zwei Wochen nicht mehr gearbeitet wurde. Bevor er sich erkundigen konnte, musste er erst den Bagger zur Seite fahren, was für ihn kein Problem war. Als Fuchs mit einem erhobenen Daumen sein Okay für den neuen Standort gab, schloss Brauer den Bagger ab und ging auf Leo zu, der offensichtlich hier etwas zu sagen hatte.
„Darf ich fragen, was die Polizei hier sucht?“
„Wir suchen nicht, es wurde eine Leiche gefunden“, sagte Leo und zeigte auf die Stelle, an der mehrere Kollegen der Spurensicherung arbeiteten.
„Eine Leiche?“ Brauer war erschrocken. Er hatte zwar schon von Leichenfunden auf Baustellen gehört, aber noch nie selbst damit zu tun gehabt. „Ein archäologischer Fund?“
„Nein, danach sieht es nicht aus, die Leiche ist noch ziemlich frisch. Ich nehme an, dass Sie etwas mit dieser Baustelle zu tun haben?“
„Ich bin der Vorarbeiter, Udo Brauer mein Name.“
„Ausweis?“
Leo machte Notizen und gab Brauer den Ausweis zurück.
„Warum wird hier nicht gearbeitet?“
„Der Chef hat auf meinen Rat hin beschlossen, die Arbeiten für dieses Jahr einzustellen. Unsere Leute sind müde, ich auch. Zum einen hatten wir in diesem Jahr eine Baustelle nach der anderen, und zum anderen ist es langsam zu kalt für vernünftige Arbeiten. Wer ist der Tote?“
„Das wissen wir noch nicht. Vielleicht könnten Sie einen Blick auf ihn werfen?“
Dass sich der Kollege Schwartz in Begleitung eines Fremden der Leiche näherte, gefiel Friedrich Fuchs überhaupt nicht. Er beobachtete jeden einzelnen Schritt.
Brauer verzog das Gesicht, als er auf den Toten blickte, der schon fast vollständig von Matsch und Dreck gesäubert worden war.
„Nein, den kenne ich nicht. Wenn er ein Gesicht hätte, vielleicht. Aber so?“
„Was wird hier gebaut?“
„Hier entsteht ein neues Autohaus“, sagte Brauer wahrheitsgemäß, auch wenn er fand, dass es davon schon genug gab.
„Wer ist der Bauherr?“
„Die Firma Lechbauer & Maierhof aus Waldkraiburg.“
Während sich Leo auch diese Informationen notierte, machte Graumaier keinerlei Anstalten, es ihm gleichzutun.
„Wir haben versucht, den Bauunternehmer Weinmayer zu erreichen, was leider nicht gelungen ist. Wissen Sie, wo wir ihn erreichen können?“
„Nein, leider nicht.“
„Können Sie mir eine Liste aller Arbeiter erstellen?“
„Sie verdächtigen einen meiner Leute?“ Brauer war erschrocken.
„Das ist reine Routine. Wir müssen alle befragen, die mit dieser Baustelle und deren Umkreis zu tun haben. Vielleicht haben wir Glück und jemand hat etwas gesehen oder gehört.“
Brauer nickte, das leuchtete ihm ein.
Diana und Tatjana befragten Elli Sander, die immer noch sehr aufgeregt war. Kai-Uwe hatte sich immer noch nicht beruhigt, er stand völlig neben sich.
„Was ist mit ihm?“, wollte Diana wissen.
„Keine Ahnung, so kenne ich ihn nicht. Ich nehme an, dass ihn der Leichenfund völlig aus der Bahn geworfen hat. Es wird Zeit, dass wir von hier verschwinden.“
„Dann gehen Sie, damit Ihr Hund zur Ruhe kommt. Wir haben Ihre Personalien und Ihre Aussage. Wenn es noch Fragen gibt, melden wir uns.“
Elli Sander war erleichtert. Sie machte Anstalten zu gehen und zog mit aller Kraft an der Leine, aber Kai-Uwe sträubte sich. Was war nur los mit ihm?
Die Kriminalbeamten achteten nicht mehr auf die Frau mit dem Hund. Erst, als Frau Sander einen lauten Schrei von sich gab, drehten sich alle zu ihr um. Kai-Uwe hatte sich losgerissen und rannte wie Sinnen auf eine ganz bestimmte Stelle zu. Es war nicht die Fundstelle der Leiche. Er rannte genau dorthin, wo vorhin noch der Bagger gestanden hatte. Dort begann er zu buddeln und war nicht zu bremsen. Frau Sander rannte hinterher und wollte Kai-Uwe wieder anleinen. Tatjana, Graumaier und Diana wollten ihr helfen, aber Leo ging dazwischen. Hier stimmte etwas nicht. Ganz vorsichtig ging er zu Kai-Uwe und sprach beruhigend auf ihn ein. Er schaffte es, das Halsband zu erwischen und zog ihn zur Seite. „Hat jemand etwas zu Essen dabei?“
„Ich!“, rief einer von der Spurensicherung, der sich heute Morgen auf dem Weg zur Arbeit mit Leberkässemmeln eingedeckt hatte. Er rannte zum Wagen und kam mit einer Metzgertüte zurück. Der betörende Duft von Leberkäse schien Kai-Uwe endlich abzulenken. Warum war niemand vorher schon auf diese Idee gekommen? Leo lockte den Hund von der fraglichen Stelle weg und gab ihm ein Stück Leberkäse nach dem anderen.
„Hier graben!“, rief Leo zu Fuchs, der sofort zwei seiner Mitarbeiter ansprach und auch selbst zur Schaufel griff.
Leo übergab Kai-Uwe seinem Frauchen, die sichtlich erleichtert war, dass ihr Liebling endlich wieder normal war. Elli Sander war fix und fertig. Was war das heute nur für ein beschissener Tag? Mit schnellen Schritten entfernte sie sich und schwor sich, dass sie nie wieder hier langgehen würde.
Alle sahen den Kollegen der Spurensicherung zu, die langsam und vorsichtig gruben. Der einsetzende Regen störte niemanden. Zu sehr war man gespannt darauf, was hier aufgedeckt wurde. Fuchs achtete auf jeden Spatenstich, um nichts zu übersehen und nichts zu beschädigen. Nach einer guten Stunde war es so weit, Fuchs selbst stieß auf Knochen. Jetzt ging es noch langsam und vorsichtig weiter. Dann lag die Leiche vor ihnen, von der nur noch das Skelett übrig war.
„Nach den Klamotten zu urteilen dürfte der Typ schon seit etwa zwanzig Jahren oder noch länger hier liegen“, sagte Leo laut, worauf einige schmunzelten. Leo war bekannt dafür, dass er modisch in den achtziger Jahren hängengeblieben war. Wie man wohl reagieren würde, wenn man auf seine Leiche stoßen würde?
„Wie kommen Sie darauf, Herr Schwartz?“, fragte Graumaier.
„Wegen der Schuhe. Außerdem ist das Hemd auffällig bunt gemustert, das war irgendwann mal modern.“
„Sie tragen doch auch altmodische Klamotten“, lachte Graumaier und sprach das aus, was alle anderen dachten.
„Eine Unverschämtheit!“, rief Leo. „Das T-Shirt ist neu. Die Lederjacke und meine Stiefel sind zwar älter, aber absolut zeitlos.“
„Das T-Shirt mag neu sein, aber die abgebildete Person ist es nicht“, zeigte Graumaier auf das T-Shirt. „Wer trägt denn das heute noch?“
„Das ist Buddy Holly! Er war eine Ikone! Sagen Sie jetzt nicht, dass Sie den Mann nicht kennen?“ Leo lachte gequält. Er war sehr stolz auf dieses T-Shirt, das er vor zwei Jahren in London erstanden hatte.
„Der Name sagt mir etwas. Ist der Mann nicht schon lange tot? Nein, ich bleibe dabei: Wenn wir Sie mit Ihrem jetzigen Outfit ausbuddeln würden, hätte nicht einer eine Ahnung, seit wann Sie dort liegen.“
Alle lachten, auch Fuchs und Tatjana, die sich sonst eher zurückhielten. Leo war sauer und musste sich zusammenreißen. Er tat so, als hätte er die Aussage des Neuen nicht gehört, auch wenn er ihm am liebsten eine reinhauen würde. Eines stand fest: Graumaier und er würden niemals Freunde werden!
Weit entfernt stand eine Person mit einem Fernglas und beobachtete das, was auf der Baustelle vor sich ging. Was für ein verdammter Mist! Warum musste dieser Drecksköter auch genau dort buddeln? Und warum hatte er sich nicht längst um die Leiche gekümmert und sie woanders hingebracht? Das Wetter war schuld, aber diese Entschuldigung half ihm jetzt auch nicht weiter. Die Polizei hatte Eberhard gefunden und würde ihn identifizieren. Dann kam alles ans Licht und die Gemeinschaft, sein Lebenswerk, war in Gefahr. Eilig packte er das Fernglas ein und stieg in den alten Wagen. Er musste dringend mit den anderen sprechen. Vielleicht gab es eine Lösung, wie sie alle schadlos aus der Sache rauskommen würden. Die musste es geben!…
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