Der 9. Fall aus der Leo-Schwartz-Krimireihe
1.
Mit vorgehaltener Waffe wurde er dazu gezwungen, sich mehr und mehr dem Ufer der Alz zu nähern. Washatte der Mann vor? Ihm war kotzübel und am Liebsten hätte er sich übergeben. Aber er musste bei klarem Verstand bleiben und auf jede Kleinigkeit achten, vielleicht hatte er doch noch eine Chance, irgendwie aus dieser verfluchten Situation rauszukommen. Denk nach! Und vor allem: Bleib verdammt nochmal ruhig!
„Wollen Sie Geld? Ich bezahle Ihnen jede Summe, die Sie verlangen! Ich bin reich,“ sagte er so ruhig wie möglich, obwohl das vollkommen gelogen war. Er verfügte weder über Bargeld, noch über irgendwelche Wertgegenstände – im Gegenteil: Durch den Kauf einer Wohnung hatte er sich finanziell bis an seine Belastungsgrenze verschuldet. Aber das war jetzt zweitranging. Jetzt musste er irgendwie aus dieser Situation rauskommen, und wenn es ihm mit Hilfe einer Lüge gelingen sollte, war das völlig egal.
Bislang hatte der Mann kein Wort von sich gegeben, er hatte durch seine Körpersprache und Zeichen unmissverständlich klargemacht, was er zu tun hatte.
Wie war es nur so weit gekommen? Der Tag war wie jeder andere, nichts hatte auf das hier hingedeutet. War er unvorsichtig geworden? Hätte er besser aufpassen sollen? Es lief doch alles perfekt! Direkt vor seinem Zuhause in Kastl hatte der Mann ihn abgefangen und mit vorgehaltener Waffe gezwungen, sich in den Wagen zu setzen. Natürlich war er den Anweisungen gefolgt, was hätte er auch sonst tun sollen? Die Umgebung war trotz der späten Stunde noch voller Menschen, die es sich in ihren Gärten gemütlich machten oder auf der Straße ein Schwätzchen hielten. Auch Hundebesitzer trieb es jetzt nach draußen, da die Temperaturen nun einigermaßen erträglich waren. Sogar auf dem nahen Spielplatz hatten sich einige Jugendliche eingefunden, die lachten und sich unterhielten. Nein, hier konnte er nichts riskieren, es war für Unbeteiligte viel zu gefährlich, Widerstand zu leisten. Diese Tatsache und auch die kalten Augen des Mannes, die ihm sofort Angst eingeflößt hatten, machten ihm klar, dass mit dem Typen nicht zu spaßen war. Im Wagen hatte der Mann ihm die Hände am Rücken mit Kabelbinder zusammengebunden. Natürlich hatte er sofort versucht, sich von den Fesseln und aus dem Wagen zu befreien, aber es gelang ihm einfach nicht – die Kabelbinder waren bis zur Schmerzgrenze fest zugezogen und ließen ihm keinen Spielraum, und der Wagen war verschlossen. Von da an versuchte er ununterbrochen, den Mann in ein Gespräch zu verwickeln, aber der reagierte nicht, blickte nur stur geradeaus.
Wo wollte der Mann hin? Sie fuhren nach Burgkirchen, am Werk Gendorf vorbei und bogen nun am Kreisverkehr nach rechts.
„Was wollen Sie von mir? Machen Sie endlich den Mund auf,“ schrie er nun panisch, worauf der Mann unvermittelt ausholte und ihm direkt ins Gesicht schlug. Der Schlag kam so plötzlich und mit solch einer Wucht, dass er zur Seite schleuderte und kurze Zeit benommen war. Das darf nicht passieren, reiß dich zusammen! Du musst jetzt bei klarem Verstand bleiben!
Der Wagen stoppte schließlich und sie warteten, sie warteten endlos lange. Der Mann sagte immer noch kein Wort, ging ab und an aus dem Wagen, um eine Zigarette zu rauchen. Aber was tat er denn da? Bückte er sich tatsächlich, um die Zigarettenstummel aufzuheben? Das taten nur Profis! Oh mein Gott! Er schwitzte zwischenzeitlich aus allen Poren und der Schweiß brannte in seinen Augen. Durch den Schlag blutete er am Auge, das nun rasend schnell auch noch zuschwoll, bis er auf dem Auge fast nichts mehr sah. Im Wagen herrschten zwischenzeitlich tropische Temperaturen und dazu kam diese unermessliche Angst, denn er ahnte, was ihm bevorstand.
Der Mann ging einige Meter und beobachtete den Himmel, bevor er das Handy zur Hand nahm und nur wenige Worte sprach. Er kam zum Wagen zurück, öffnete die hintere Tür und zerrte ihn unsanft aus dem Wagen, wobei er ihm abermals seine Waffe direkt vors Gesicht hielt.
„Was wollen Sie von mir verdammt nochmal? Was soll das alles? Wollen Sie Geld? Wertsachen? Nehmen Sie meine Brieftasche und meine Uhr!“ schrie er ihn verzweifelt an. „Hören Sie, wir sind doch erwachsene Menschen, wir können doch miteinander reden und finden bestimmt eine Lösung.“ Er redete einfach darauf los und wiederholte einige Sätze; er musste dringend Zeit gewinnen, vielleicht spielte ihm das Schicksal doch noch in die Hände.
„Chiudi il becco!“ schrie ihn der Mann an und trieb ihn immer weiter vor sich her.
Er verstand ihn nicht.
„Was willst du von mir?“ schrie er ihn nun beinahe hysterisch an.
„Chiudi il becco!“ rief der erneut und es klang sehr bestimmt. „Dai!“ fügte er unmissverständlich hinzu und zeigte mit seiner Waffe in die Richtung, in die er gehen sollte. Das war eindeutig italienisch – oder irrte er sich? Konzentrier dich!
Er atmete tief durch und blickte verzweifelt um sich. Es war stockdunkel, es musste weit nach Mitternacht sein. Egal, er hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Am heutigen Augusttag war es schon den ganzen Tag über schwül und unglaublich heiß gewesen. In den letzten Stunden hatte sich ein Gewitter zusammengebraut, das sich nun demnächst zu entladen drohte. Weit entfernt konnte man bereits einige Blitze erahnen und er glaubte auch, schon Donner zu hören. Eins – zwei – drei -… zählte er automatisch mit, wie er es von seiner Großmutter gelernt hatte, so konnte man die Entfernung in Kilometern errechnen, wie weit das Gewitter noch entfernt war. An was für einen Schwachsinn denke ich denn jetzt? Wen interessiert das? Bleib ruhig und versuche, nicht durchzudrehen! Wieder hatte er das Bild seiner Großmutter vor Augen, wie sie in ihrer bunten Schürze am Herd stand, im Topf rührte und ihn anlächelte. Er konnte sein Lieblingsessen sogar riechen! War er jetzt völlig verrückt geworden? Reiß dich gefälligst zusammen!
Hier standen sie nun im Dickicht des Alzufers, das nur wenige Meter von ihm entfernt war. Er war sich sicher, dass das hier die Alz war, denn das Werk Gendorf war unverkennbar noch in Sichtweite. Er zwang sich, ruhig zu atmen, was ihm immer schwerer fiel. Weit und breit war immer noch niemand zu sehen. Wo sind denn die Hundebesitzer und Nachtschwärmer, wenn man sie braucht? Hier um Hilfe zu rufen war aussichtslos, trotzdem musste er es versuchen. Er schrie so laut er konnte und versuchte schließlich, vor diesem Irren wegzulaufen, wobei ihm jetzt vollkommen egal war, wenn er schießen würde, denn er würde sowieso irgendwann schießen, das war ihm vollkommen klar. Er rannte um sein Leben, stolperte und der Mann zog ihn problemlos wieder auf die Füße. Sieh ihm in die Augen und lächle. Hatte er das nicht irgendwann mal gelernt? Egal, er versuchte es, aber der Mann, den er bis dato noch niemals zuvor gesehen hatte, sah ihn nicht einmal an, schubste ihn und deutete mit der Waffe, dass er weitergehen soll.
Dann hörte er nur noch zwei aufeinanderfolgende Schüsse und spürte einen heftigen, stechenden Schmerz.
2.
„Nein danke, ich möchte nichts essen. Sag mir endlich, was du von mir willst,“ sagte Werner Grössert genervt. Seine Mutter hatte ihn um ein dringendes persönliches Gespräch gebeten, was bis dato nur sehr selten vorgekommen war. Vor allem bestand sie auf einen neutralen Ort weit außerhalb von Mühldorf am Inn, wo sie jeder kannte. Werner schlug den Biergarten am Rande von Altötting vor, wo er tags zuvor mit seiner Frau gewesen war und vorzüglich gegessen hatte. Frau Grössert war hier im Biergarten in Altötting in ihrem sündhaft teuren Kostüm, dem vielen funkelnden Schmuck und der ganzen Erscheinung völlig fehl am Platz, ebenso wie der 39-jähige Werner Grössert selbst, der auch zur Arbeit bei der Mordkommission Mühldorf am Inn immer korrekt gekleidet im Anzug erschien, auch an solch heißen Tagen wie heute. Das Gewitter der letzten Nacht hatte keinerlei Abkühlung gebracht, denn es war hier in der Gegend mit Donner und Blitz nur vorbeigezogen, knapp 30 km weiter hatte das Unwetter hingegen riesige Schäden angerichtet. Die Landkreise Mühldorf und Altötting waren beinahe komplett verschont worden, aber die tropischen Temperaturen der letzten Tage setzten sich nun unvermittelt fort. Die Bedienung brachte Wasser in Bierkrügen, was Frau Grössert mit einem Naserümpfen zur Kenntnis nahm. Sie hasste es, aus solchen Gläsern zu trinken, aber das war jetzt nicht wichtig.
„Ich möchte zuerst klarstellen, dass das Gespräch hier unter uns bleibt. Auch zu deinem Vater kein Wort,“ sagte Frau Grössert bestimmt, während sie sich den Schweiß von der Stirn tupfte und sich dabei nervös umblickte. Sie war zufrieden, denn sie saßen an diesem heißen Augusttag völlig alleine hier in der Ecke und konnten ungestört reden.
„Meinetwegen.“
„Gut, dann verlasse ich mich darauf. Meine Zeit ist knapp und ich komme daher gleich auf den Punkt. In den letzten Wochen werden dein Vater und ich terrorisiert.“ Sie atmete tief durch und ließ die Worte wirken. Werner Grössert schien keineswegs beeindruckt oder erschreckt, sondern musste schmunzeln.
„Übertreibst du da nicht ein wenig?“
„Keineswegs. Dein Vater bekommt seit geraumer Zeit merkwürdige Post. Aber was viel schlimmer ist: Jemand hat uns die Steuerprüfung auf den Hals gehetzt. Stell dir das vor: Die Steuerprüfung in unserer Kanzlei! Wenn sich das herumspricht!“
Die Rechtsanwaltskanzlei Grössert wurde bereits in der dritten Generation in Mühldorf geführt und genoss einen ausgezeichneten Ruf. Natürlich war das Ehepaar Grössert, beide Juristen, nicht glücklich darüber gewesen, als ihr einziger Spross Werner seinerzeit nicht Jura studieren wollte, womit die Nachfolge der Kanzlei gesichert wäre, sondern eine Karriere bei der Polizei vorzog. Frau Grössert hatte ihren Sohn anfangs angefleht, diese Entscheidung zu überdenken und rückgängig zu machen, bis sie schließlich aufgab und nur noch einen losen Kontakt zu ihrem Sohn pflegte. Seitdem ließ sie ihn bei jeder Gelegenheit deutlich spüren, wie enttäuscht sie von ihm war. Dr. Grössert war noch drastischer mit seiner Reaktion. Er sprach seitdem nicht mehr viel mit seinem Sohn, mied ihn, wo er nur konnte, und behandelte ihn wie einen Fremden.
„Nun mal langsam: Du sagtest, Vater bekommt merkwürdige Post. Seit wann erlaubt dir Vater, dass du seine Post liest?“
„Das tut doch jetzt hier nichts zur Sache. Mein Gott, verstrick dich doch nicht in Kleinigkeiten, sondern fokussiere dich auf das Wesentliche. Ich habe die Post aus dem Mülleimer gefischt und grob überflogen. Kein Wort davon zu deinem Vater, du hast es mir versprochen! Ich sehe, dass du mich noch nicht ganz verstanden hast, denn um diese Post geht es nicht primär, das war nur eine Information am Rande, damit du den Ernst der Lage verstehst und mir glaubst, dass es jemand auf uns abgesehen hat.“
„Raus mit der Sprache, was willst du von mir?“
„Du bist doch bei der Polizei, tu etwas und hilf uns! Wende diese Steuerprüfung von uns ab!“ Frau Grössert nahm den riesigen Bierkrug mit beiden Händen und trank ein Schluck Wasser. Sie war vollkommen aufgebracht, die ganze Sache nahm sie sehr mit.
„Wie stellst du dir das vor Mutter? Ich bin bei der Mordkommission. Wie sollte ich eine Steuerprüfung aufhalten.“
„Aber du bist Polizist und kannst doch deinen Einfluss geltend machen. Du hast doch meines Wissens nach sogar einen Freund beim Finanzamt. Dieser Bernd Sowieso arbeitet doch dort und hat es trotz seiner niederen Herkunft ziemlich weit gebracht, wie ich gehört habe. Ich dachte, du hast in den letzten Jahren durch deine Arbeit bei der Polizei darüber hinaus eventuell Menschen kennengelernt, die in diesem Falle helfen können. Natürlich würden wir uns das einiges kosten lassen.“
„Moment! Du willst, dass ich Menschen besteche, um diese Steuerprüfung abzuwenden? Bist du jetzt vollkommen verrückt geworden?“ Werner Grössert war total aufgebracht, denn das, was seine Mutter hier verlangte, kam für ihn auf keinen Fall in Frage; er war nicht bestechlich und würde auch niemals auf die Idee kommen, irgendjemanden zu bestechen.
„Versteh doch Junge, wir können es uns in unserer Position nicht leisten, dass Interna aus unserem Privatleben oder sogar aus unserer Kanzlei in falsche Hände gelangen. Man weiß doch, wie so etwas läuft: wenn Behörden eine Durchsuchung vornehmen, finden die immer irgendetwas, auch wenn es nur Kleinigkeiten sind. Ich möchte gar nicht an das Getuschel der Leute denken, die ganz bestimmt Wind von der Sache bekommen, irgendjemand quatscht doch immer! Außerdem ist Mühldorf im wahrsten Sinne des Wortes ein Dorf. Hier geschieht doch nichts, ohne dass es gleich die Runde macht. Nicht auszudenken, wenn auch noch die Presse auf uns aufmerksam wird. Es gibt viele Neider, die nur auf so eine Gelegenheit warten, um uns zu schaden. Nein Junge, du musst etwas unternehmen, und zwar umgehend. Wir sind doch eine Familie und müssen in schweren Zeiten zusammenhalten.“
„Wo sind diese Briefe, von denen du gesprochen hast?“
„Natürlich wieder da, wo sie hingehören: im Müll.“
„Was genau stand darin?“
„Nichts Besonderes und darum geht es auch nicht, vergiss doch endlich diese Briefe, Herrgott nochmal! Kümmere dich um diese Steuerprüfung, darum geht es. Hörst du mir eigentlich zu? Verstehst du überhaupt, worum es geht und was auf dem Spiel steht?“
Werner Grössert sah seine Mutter an und schüttelte den Kopf.
„Dir als Juristin dürfte klar sein, dass ich da überhaupt nichts machen kann. Wie soll ich denn eine Steuerprüfung abwenden? Diese Befugnisse habe ich nicht. Und Schmiergelder werde ich auf keinen Fall anbieten, das kannst du vergessen. Aber gut, dir zuliebe werde ich Bernd kontaktieren, obwohl ich das sehr ungerne mache. Ich kann nur darauf hoffen, dass ich irgendwelche Details erfahre. Aber mehr kann ich nicht tun.“
„Das ist alles? Sei mir nicht böse, aber ich dachte, dass du mehr Möglichkeiten hast.“
„Tut mir leid. Wie gesagt, ich bin bei der Mordkommission und habe mit Steuern und so nichts zu tun. Warum hast du so große Angst? Ihr habt euch doch nichts vorzuwerfen.“
„Natürlich nicht.“
„Dann wird bei dieser Prüfung auch nichts rauskommen. Beruhige dich, das wird sich alles aufklären. Aber wenn nochmals Post in der von dir angesprochenen Art bei euch ankommt, informierst du mich umgehend, verstanden? Denn so etwas fällt in meine Zuständigkeit und da habe ich jede Menge Möglichkeiten.“
Sie nickte nur, obwohl sie genau wusste, dass ihr Sohn niemals diese Briefe in die Hände bekommen dürfe, denn was darin stand, würde für Werner Schockierendes offenbaren.
Werner Grösserts Handy klingelte.
„Es tut mir leid Mutter, ich muss zur Arbeit.“
Beide hatten die junge Frau nicht bemerkt, die abseits stand und sie beobachtete. Sie konnte zwar kein Wort verstehen, aber schon allein an der Gestik der beiden und an dem Ort des Treffens konnte sie ahnen, dass es um ihre Briefe ging, die sie Dr. Wilhelm Grössert anonym zukommen ließ. Die Gedanken an die Texte ihrer Briefe ließen sie schmunzeln, denn sie hatte es natürlich darauf angelegt, den Empfänger zu schockieren und ihm Angst einzujagen, was ihr offenbar gelungen war. Schon seit einigen Tagen war sie dem Ehepaar Grössert auf Schritt und Tritt gefolgt, hatte nicht nur vor dem Privathaus, sondern auch vor der Kanzlei stundenlang gestanden und nur beobachtet – und endlich hatte sie ihn mit eigenen Augen gesehen: Das war also Werner Grössert! Bislang kannte sie ihn nur von alten Fotos und von Erzählungen und wusste nicht, wie sie ihn finden konnte, denn bei seinen Eltern ließ er sich die letzten Tage nicht blicken und im Telefonbuch stand er nicht. Sie kannte nun sein Aussehen, die Nummer seines Wagens mit Mühldorfer Kennzeichen – und sie brauchte nicht mehr lange zu warten und sie würde herausbekommen, wo und wie er lebte und was er beruflich machte. Anwalt war er jedenfalls nicht geworden, das hatte sie bereits recherchiert, denn unter dem Namen Werner Grössert gab es im Landkreis Mühldorf und weit darüber hinaus keinen Anwalt und keine Kanzlei. Sie war davon ausgegangen, dass Werner zwischenzeitlich in die Kanzlei seiner Eltern eingestiegen war, aber das hatte sich mit nur einem Anruf als Irrtum herausgestellt.
Sie war sehr aufgeregt und freute sich darauf, Einzelheiten über das Leben von Werner Grössert herauszufinden und war sehr gespannt und überaus neugierig.
Die nächste Phase ihres Planes war bereits eingeleitet und sie würde von jetzt an Werner Grössert nicht mehr aus den Augen lassen!
3.
Auf dem Weg zum Fundort der Leiche nach Burgkirchen dachte Werner Grössert über das seltsame Gespräch mit seiner Mutter nach. Sie hatte doch tatsächlich die Frechheit besessen und ihn darum gebeten, Bekannte mit Schmiergeld zu bestechen, um diese Steuerprüfung abzuwenden. So unverschämt dieser Vorschlag auch war, so verzweifelt musste seine Mutter sein, wenn sie solche Geschütze auffuhr. Und was war mit diesen Briefen? Warum hatte sie sie erwähnt und dann wieder darauf bestanden, dass sie nicht wichtig seien? Da steckte mehr dahinter, denn sie hatte immer ein leichtes Zucken in den Augen, wenn sie flunkerte, und dieses Zucken konnte er deutlich sehen. Und dann diese Steuerprüfung. Warum war sie so nervös deswegen? Er war sich sicher, dass in der Kanzlei alles zum Besten bestellt war, obwohl er seinen Eltern durchaus zutraute, dass sie es besonders in finanzieller Sicht mit dem Gesetz nicht ganz so genau nahmen. Lag darin der Grund für ihre Besorgnis? Egal, er musste auf jeden Fall nachforschen, denn so unsympathisch seine Eltern auch waren, es waren nun mal seine Eltern und er musste ihnen helfen. Zumindest in diesem Punkt stimmte er mit seiner Mutter überein: Sie waren eine Familie und mussten zusammenhalten, obwohl seine Eltern sich bis dato in diesem Punkt zurückhielten. Seit seiner Entscheidung, zur Polizei zu gehen, hatten sie ihn gemieden und hielten sich diesbezüglich mit ihrer Enttäuschung nicht zurück. Ganz schlimm war es seit seiner Heirat, denn mit der Wahl seiner Frau, die aus einfachen Verhältnissen stammte, waren sie bis heute nicht einverstanden. Werner ärgerte sich jetzt über seine Eltern und dachte einen Moment darüber nach, sie jetzt auch im Stich zu lassen – aber dann wäre er auch nicht anders als sie! Nein, er musste helfen und ihnen zur Seite stehen.
Werner Grössert bog von der Straße ab und fuhr direkt zur Kleingartenanlage Burgkirchen. Dort war der Treffpunkt mit den Kollegen der Mordkommission Mühldorf. Schon die ganze Fahrt über hatte er den roten Kleinwagen bemerkt, der immer im gleichen Abstand hinter ihm fuhr. Tatsächlich bog der Wagen ebenfalls ab und fuhr in die gleiche Richtung, wie er selbst. Zufall?
Da vorn stand sein Kollege Leo Schwartz, der ihn nun auch bemerkte und winkend auf ihn zuging. Er parkte seinen Wagen auf dem geschotterten Parkplatz. Was war mit diesem roten Kleinwagen? War er immer noch hinter ihm? War er jetzt schon so paranoid, dass er überall Verbrechen sah? Reiß dich gefälligst zusammen! Er stieg aus und blickte sich trotzdem noch einmal um und sah in die Richtung, wo er den roten Kleinwagen zuletzt gesehen hatte – er war nicht mehr da. Na also, nur Hirngespinste!
„Eine Leiche in der Alz, der Mann mit dem Hund dort hinten hat ihn gefunden. Ich flehe dich an, übernimm du den Mann, der spricht so einen wilden bayrischen Dialekt – ich verstehe kein Wort.“
Der 49-jährige Schwabe war vor knapp einem Jahr von Ulm nach Mühldorf am Inn versetzt worden, nachdem es dort einen unschönen Vorfall gegeben hatte, über den er bis dato noch nicht gesprochen hatte. Werner Grössert war von Natur aus nicht neugierig und interessierte sich auch nicht dafür. Er hatte sich an den neuen Kollegen schnell gewöhnt und mochte ihn sehr – bis auf sein unmögliches Outfit. Auch heute war Leo Schwartz wieder unmöglich gekleidet: Jeans, alte Lederstiefel und ein dunkles T-Shirt mit dem Aufdruck einer Rockband, die Werner Grössert nicht kannte.
„Du bist allein hier? Wo sind die anderen?“
„Unterwegs, sie dürften jeden Moment eintreffen.“
Werner ging zu dem 62-jährigen Mann mit Hut, der nervös wartete.
„Wia lang dauert denn des no? Mei Wasti muss doch Gassi, der hot sei Gschäftl no net gmacht.“
Werner verstand nun das Problem von Leo Schwartz, denn zu dem Dialekt nuschelte der Mann auch noch fürchterlich.
„Sie haben die Leiche gefunden?“
Er nickte.
„I hob glei gsegn, dass den dabreselt hot. Der war meisaltout.“
„Haben Sie die Leiche angefasst oder sonst irgendetwas berührt?“
„Na, i glang nix o. Ko i jetz geh?“
„Ich brauche nur noch Ihre Personalien.“
„Hinterberger,“ sagte er knapp und zog seinen Personalausweis hervor. Werner Grössert notierte sich die Daten.
„Dann können Sie jetzt gehen, vielen Dank Herr Hinterberger. Wenn wir noch Fragen haben, kommen wir auf Sie zurück.“
„Kimm Wasti, jetz derf ma Gassi geh. Pfüa God,“ grüßte er freundlich, wobei er leicht den Hut hob.
Nun traf auch der Kollege Hans Hiebler ein. Der 52-jährige kam aufgrund der Temperaturen in hellen Jeans, Slippern und einem kurzärmeligen, weißen Hemd, das seine Bräune noch unterstrich. Dazu trug er eine moderne Sonnenbrille zum neuen Haarschnitt, der ihn um Jahre jünger aussehen ließ. Er sah einfach blendend aus und war vor allem bei Frauen sehr beliebt.
„Grüß euch Kollegen. Wo ist die Leiche?“
„Unterstehen Sie sich, dort hinzugehen, bevor ich persönlich den Ort freigegeben habe,“ hörten sie hinter sich die Stimme von Friedrich Fuchs, dem Leiter der Spurensicherung. Der kleine, hagere 35-jähige Mann ging mit hochrotem Kopf und energischen Schritten an den Kriminalbeamten vorbei direkt auf die Leiche zu. Seine Kollegen konnten kaum folgen.
„Los, Tempo, Tempo,“ trieb Friedrich Fuchs seine Leute an, „sofort absperren, bevor uns diese Stümper noch alles kaputt machen. Wir können von Glück reden, dass das gestern nur ein trockenes Gewitter war.“
Grössert, Hiebler und Schwartz standen wenige Meter abseits und mussten warten, bis Fuchs sie mit Informationen versorgte, was eine Ewigkeit zu dauern schien. Fuchs mochte niemand besonders gern, denn er war pedantisch, launisch und nicht wirklich freundlich – aber er machte hervorragende Arbeit.
„Hatte unser Chef nicht von einem neuen Vorgesetzten gesprochen? Wann kommt der? Und vor allem, wer ist das? Wenn ich ehrlich bin, brauchen wir nicht zwingend eine Vertretung, wir kommen auch so gut zurecht.“
Ihre Vorgesetze und Leos Lebensgefährtin Viktoria Untermaier war vor einigen Wochen schwer verletzt worden und musste gegen ihren Willen nun doch zur Reha, denn der Heilungsprozess verlief nicht so, wie es sich die Ärzte und vor allem Viktoria selbst erhofft hatten. Sie hatte starke Schmerzen und die Wunde heilte nur sehr langsam. Auch ihre Psyche hatte durch dieses Ereignis sehr gelitten; sie schlief schlecht, hatte Alpträume und wachte nachts mehrmals schweißgebadet auf. Leo, die Ärzte und auch die Kollegen hatten sie geradezu angefleht, diese Reha zu machen und sie gab schließlich klein bei. Sie war nach ihrem Krankenstand nun schon zwei Wochen auf Kur und ihr Posten musste dringend besetzt werden. Der Chef der Mühldorfer Polizei Rudolf Krohmer drückte sich um diese Angelegenheit und hoffte, diese so lange hinausschieben zu können, bis Viktoria Untermaier wieder fit war und arbeiten konnte. Aber das Innenministerium lag ihm im Nacken, denn so einen Posten für so lange Zeit unbesetzt zu lassen, war ungewöhnlich und konnte nicht geduldet werden. Krohmer war nicht zu beneiden, denn er konnte diesen Posten nicht mit den eigenen Leuten besetzen: Leo Schwartz war für diesen Posten zu neu im Team, außerdem hing ihm immer noch die Sache in Ulm nach, weswegen er vor einem Jahr hierher nach Mühldorf am Inn versetzt wurde. Schade eigentlich, denn er hatte eigentlich die richtigen Voraussetzungen. Werner Grössert war zu jung, obwohl er sich bestimmt sehr gefreut hätte, wenn man ihm diesen verantwortungsvollen Posten zumindest zeitweilig übertragen hätte. Und Hans Hiebler hatte sofort abgelehnt, als er ihn gefragt hatte, denn er befand sich dafür als ungeeignet und hatte keinerlei Ambitionen, dort jemals hinzugelangen; er war zufrieden mit seinem Job und seinem Rang und wollte daran nichts ändern. Dem Chef der Mühldorfer Polizeiinspektion blieb somit nichts anderes übrig, als ein Gesuch nach München zu richten, was er vor zwei Wochen auf Drängen auch getan hatte. Und es hatte sich tatsächlich eine geeignete Person gefunden, wovon die Mühldorfer Kriminalbeamten noch nichts ahnten. Krohmer würde sie erst später davon unterrichten.
„Mensch Fuchs, jetzt machen Sie es doch nicht so spannend. Was können Sie uns sagen?“ Hans Hiebler war ungeduldig, denn er wartete nicht gerne, vor allem nicht in dieser brütenden Hitze.
„Sie werden sich schon gedulden müssen, bis ich Ihnen Auskunft geben kann,“ antwortete Fuchs, ohne auch nur einen Moment aufzublicken. Er genoss diesen Moment in allen Zügen und wollte jede Sekunde auskosten. Er fand, dass seine Arbeit und vor allem seine Person von den Kollegen nicht genug gewürdigt wurde und fühlte sich momentan sehr wichtig.
Plötzlich stieg eine ältere Frau in derben Wanderschuhen, Jeans und einer bunten Bluse über die Absperrung und ging direkt auf Friedrich Fuchs zu, noch bevor die Polizisten eingreifen und sie zurückhalten konnten. Natürlich hatten sie die Frau gesehen, nahmen aber an, dass sie eine Spaziergängerin war.
„Was fällt Ihnen ein?“ schrie Friedrich Fuchs aufgebracht, sprang auf und rannte auf die Frau zu. „Machen Sie sofort, dass Sie wegkommen. Sind Sie blind? Sehen Sie nicht, dass das ein abgesperrter Tatort ist?“
Ohne ein Wort zu sagen, zeigte die kleine, schlanke 58-jährige Frau mit den feuerroten Locken ihren Ausweis.
„Entschuldigen Sie bitte, dass ich Sie nicht sofort erkannt habe, aber die Sonnenbrille…. Mein Name ist Friedrich Fuchs, Leiter der Spurensicherung Mühldorf. Natürlich kenne ich Sie Frau Westenhuber, es ist mir eine Ehre.“
Friedrich Fuchs war sehr kleinlaut geworden, flüsterte nun fast. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und verbeugte sich leicht.
„Was haben wir?“ sagte die Frau knapp mit Blick auf die Leiche.
Die Polizisten Grössert, Hiebler und Schwartz hatten die Szene beobachtet und waren nun ebenfalls über die Absperrung getreten. Wer war die Frau? Und warum verhielt sich Fuchs so unterwürfig und gab bereitwillig Auskunft?
„Männliche Leiche, ca. 35-40 Jahre alt, südländischer Typ, er hat keinerlei Papiere, Handy oder Ähnliches bei sich. Im Rücken hat er zwei Einschüsse, außerdem waren die Hände auf dem Rücken mit einem Kabelbinder fixiert. Die Verletzung im Gesicht wurde ihm beigefügt, als er noch lebte.“
„Und dafür haben Sie so lange gebraucht? Na ja,“ sagte Frau Westenhuber mit tiefer Stimme.
„Das ist natürlich auch nur ein grober Erstbericht.“
„Natürlich.“
Sie ließ Fuchs stehen und gab den Polizisten einen Wink, ihr zu folgen.
„Ich möchte mich bei Ihnen vorstellen: Waltraud Westenhuber mein Name. Ich bin für die Zeit der Abwesenheit von Frau Untermaier deren Vertretung und hoffe auf eine gute, faire Zusammenarbeit. Ich bin kein Freund von Herumgequatsche, sondern liebe es, wenn die Dinge beim Namen genannt werden. Für mich zählen hauptsächlich Fakten, wobei ich für jede Anregung oder auch für jede Phantasie durchaus zugänglich bin. Sie müssen Leo Schwartz sein,“ wandte sie sich an Leo, „ich habe schon viel von Ihnen gehört und bin beeindruckt. Allerdings können Sie sich solche Alleingänge wie bei Ihrem letzten Fall in Ulm bei mir abschminken. Wenn Sie vorhaben, auf eigene Faust fremde Personen in den Fall zu involvieren, bekommen Sie mächtig Ärger. Hier passiert nichts ohne mein Wissen und ohne meine Zustimmung, haben wir uns verstanden?“ Leo nickte nur und verstand sofort, worauf sie anspielte. Die Frau kannte seine Akte. Und sie hatte offensichtlich von seiner Freundin und Ulmer Pathologin Christine Künstle gehört, die ihm hier in Mühldorf in dem einen oder anderen Fall unbürokratisch schon mal zur Hand ging und unterstützt hatte. Christine war auch bei den Mühldorfer Kollegen sehr beliebt und bislang griff er gerne auf sie zurück, vor allem, wenn sie medizinische oder pathologische Hilfe benötigten.
„Sie sind Werner Grössert,“ fuhr Frau Westenhuber fort, während sie Grössert von oben bis unten musterte. „Laufen Sie immer so geschniegelt wie aus dem Ei gepellt herum? Na ja, schließlich kommen Sie aus einer der angesehensten Familien Mühldorfs, die es bestimmt nicht gerne gesehen hat, dass ihr Erbprinz zur Polizei ging,“ Grössert nickte nun ebenfalls. „Laufen Sie herum wie Sie wollen, mir soll es recht sein. Ich bevorzuge bequeme, zweckmäßige Kleidung, gerne auch vom Flohmarkt und verbitte mir jeglichen Kommentar dazu. Und Sie, schöner Mann, sind also Hans Hiebler.“ Sie musterte ihn nun ebenfalls von oben bis unten, was Hiebler sehr unangenehm war. „Von Ihren Weibergeschichten habe ich gehört, halten Sie sich bitte während meiner Anwesenheit zurück – vor allem bei den Frauen, die uns im Laufe des Falles über den Weg laufen sollten. Ich möchte keine Gewissenskonflikte oder Störungen diesbezüglich. Wenn der Fall abgeschlossen ist, können Sie natürlich machen, was Sie wollen.“
„Zu gütig,“ entfuhr es Hiebler.
Den Polizisten hatte es die Sprache verschlagen, offenbar kannte diese Frau Westenhuber die Personalakten nicht nur auswendig, sondern hatte Informationen weit darüber hinaus.
„Und eins sollten wir sofort klarstellen: Meine Kollegen zeigen Rückgrat und lassen sich nicht einfach so von einem Mann wie diesem Fuchs hinhalten. Verstanden?“ Sie sah auf ihre Uhr. „Wir treffen uns um 14.00 Uhr im Büro in Mühldorf. Jetzt ist es gleich 12.00 Uhr und ich würde gerne noch eine Runde joggen gehen, die Fahrt hierher hat mich etwas geschlaucht und meine Glieder sind noch ganz steif. Bis später dann.“
Sie lachte, als sie in die verblüfften Gesichter der Kollegen blickte und dann zu ihrem Fahrzeug ging. Sie liebte solche Auftritte und genoss sie in vollen Zügen.
„Was war das denn?“ fragte Leo, als er ihr nachblickte.
„Das ist Ihre neue Vorgesetzte und Sie können sich glücklich schätzen, dass sich eine solche Kapazität bereiterklärt, in Mühldorf aushilfsweise zu arbeiten,“ sagte Friedrich Fuchs mit einem bewundernden Blick.
„Was wissen Sie von ihr?“
„Ich habe mehrere ihrer Vorträge besucht. Sie hat zwei Doktortitel und hasst es, wenn man diese verwendet. Außerdem hat sie viele Fortbildungen in Amerika absolviert und ist dort mit den einflussreichsten Männern auf Du und Du. So eine bescheidene, energische Frau. Und sie hat einen messerscharfen Verstand und kann sehr gut kombinieren. Was um alles in der Welt führt so eine Frau zu uns nach Mühldorf? Eins ist sicher, Frau Westenhuber ist für diesen Posten vollkommen überqualifiziert.“
„Was erzählen Sie denn da für eine gequirlte Scheiße Fuchs? Wir sind hier doch nicht die tiefste Provinz. Auch hier haben die Menschen ein Recht darauf, personell vernünftig versorgt zu werden,“ schnaubte Hans Hiebler, der wegen der Bemerkung von dieser Frau stinksauer war, in seinen Wagen stieg und davonbrauste. Was bildete sich diese Pute eigentlich ein? Er war unverheiratet und konnte sich schließlich mit so vielen Frauen treffen, wie er wollte, das war seine Privatangelegenheit und ging sie überhaupt nichts an. Und außerdem war es eine Grundregel von ihm, dass er sich mit Frauen, die er während eines Falles kennenlernte, niemals während des Falles verabreden würde. Hielt ihn diese Frau Westenhuber für einen Stümper oder einen Anfänger? Er war nicht nur wütend, sondern auch gekränkt.
Auch Grössert war sauer auf die neue Vorgesetzte. Er brauchte sich für seine Familie nicht zu schämen und konnte sich anziehen, wie er wollte. Er machte niemandem diesbezüglich Vorschriften und verlangte das Gleiche auch von anderen. Als er losfuhr, hatte er den roten Kleinwagen von vorhin schon völlig vergessen. Er war in Gedanken und ärgerte sich, bis er entschied, seine Frau anzurufen und sich nach ihrem Befinden zu erkunden. Ihr ging es gut, sie hatte blendende Laune und hatte sogar das, was sie aß, bei sich behalten können. Eine gute Nachricht in ihrem Zustand, der ihn sehr glücklich machte. Kurz vor Mühldorf hatte er sich wieder beruhigt und bemerkte den roten Kleinwagen nicht, der ihm von Burgkirchen bis hierher in größerem Abstand fortwährend gefolgt war.
Nur Leo Schwartz war amüsiert über diese Waltraud Westenhuber, denn sie war genau nach seinem Geschmack: Gerade heraus, sie sorgte sofort für klare Verhältnisse und war nicht auf den Mund gefallen. Und ihm war es egal, wie viel Doktortitel und Fortbildungen sie hatte. Er freute sich auf die Zusammenarbeit und hoffte darauf, einiges von ihr zu lernen. Und was Christine Künstle anging: Das war doch nur eine Frage der jeweiligen Situation und natürlich der Absprache.
Voller Anspannung und mit gemischten Gefühlen saßen Hiebler, Grössert, Schwartz und Fuchs im Besprechungszimmer der Polizeiinspektion Mühldorf, denn sie wussten nicht, was die neue Vorgesetzte noch alles auf den Tisch brachte. Punkt 14.00 Uhr kam Rudolf Krohmer in Begleitung der neuen Kollegin dazu. Frau Westenhubers Haare waren klatschnass und sie trug ein Polizei-Shirt und eine Jogginghose. Es war offensichtlich, dass sie eben aus der Dusche kam.
„Das ist die Kollegin Westenhuber, die sich bereiterklärt hat, für Frau Untermaier während deren Abwesenheit einzuspringen.“
„Spar dir das Rudi, ich habe die Kollegen bereits kennengelernt.“
Die beiden kannten sich also und waren per Du – interessant.
„Dann ist das geklärt und wir können uns dem aktuellen Mordfall widmen,“ sagte Rudolf Krohmer mit einem amüsierten Blick auf die verblüfften Gesichter der Kollegen. Später würde er sie genauer informieren. Er wurde von dem Einsatz der Münchner Kollegin selbst überrascht und war nicht gerade begeistert über ihre Anwesenheit. Die Tür ging auf und die Sekretärin Hilde Gutbrod kam mit frischen Kaffee herein.
„Frau Gutbrod,“ rief Krohmer, „wie schön. Dann kann ich Ihnen auch gleich die Kollegin Westenhuber vorstellen. Sie wird unsere Frau Untermaier bis zu deren Genesung vertreten.“
Die beiden Frauen standen sich direkt gegenüber und musterten sich.
„Wie schön, endlich mal jemand in meinem Alter,“ sagte Frau Westenhuber amüsiert.
„Das kann ich mir nicht vorstellen, denn ich bin doch bestimmt viele Jahre jünger als Sie,“ antwortete Frau Gutbrod, die heute wieder überaus jugendlich gekleidet war: kurzes, rosafarbenes Kleid, dazu hohe weiße Schuhe mit waffenscheinpflichtigen Absätzen, das blonde Haar war frisch gefärbt und mit vielen bunten Spangen kunstvoll aufgesteckt. Frau Gutbrod ärgerte sich über die abfällige Bemerkung der Frau, denn erst vor einer Woche hatte sie sich das Gesicht und die Lippen frisch aufspritzen lassen und sah jetzt trotz ihrer 61 Jahre wieder aus wie Mitte 40, was ihr die Angestellten des Beauty-Salons wiederholt bestätigt hatten. Was fiel dieser Fremden eigentlich ein?
„Sie irren sich, Frau Gutbrod. Aus ihrer Akte kenne ich Ihr Alter und weiß daher, dass ich von uns die jüngere bin. Ich bin noch nicht über 60 und stehe nicht kurz vor der Rente, leider. Nichts desto trotz sehen Sie für Ihr Alter immer noch blendend aus und ich hoffe auf eine angenehme Zusammenarbeit. Allerdings ist mir Ihre Neugier bekannt und ich möchte Sie bitten, sich während meiner Anwesenheit zurückzuhalten. Haben wir uns verstanden?“
Frau Gutbrod starrte Frau Westenhuber mit offenem Mund an. Ohne ein weiteres Wort ging sie verärgert und verstört aus dem Zimmer. Niemand außer dem Chef Rudolf Krohmer kannte ihr wahres Alter – dachte sie zumindest. Außerdem war sie keineswegs neugierig! Interessiert ja, aber keineswegs neugierig. Was fiel dieser unmöglichen Person ein, sie vor den Kollegen so bloßzustellen? Und was ging dieser ungepflegten Frau eigentlich ihr Alter an? So etwas Unverschämtes war ihr schon lange nicht mehr untergekommen. Aber gut, wenn diese Frau Krieg will, kann sie ihn haben!
„Traudl, ich bitte dich, reiß dich doch zusammen, du kannst es dir doch nicht gleich am ersten Tag mit meiner Sekretärin verscherzen! – Aber zurück zu unserem Fall. Herr Fuchs, ich weiß, dass es fast unmöglich ist, in der kurzen Zeit etwas zu sagen. Haben Sie trotzdem schon etwas für uns?“
Friedrich Fuchs räusperte sich. Er war krebsrot im Gesicht, erst vor wenigen Minuten kam er vom Fundort der Leiche zurück und hatte einen satten Sonnenbrand abbekommen. Auch aufgrund der Tatsache, dass Frau Westenhuber, die er sehr bewunderte, nun ein Mitglied des Teams war, hatte er sich besonders ins Zeug gelegt und sehr beeilt. Dabei hatte er seine Leute aufs Äußerste angetrieben, was bei denen verständlicherweise nicht sehr gut ankam. Dass er exakt arbeitete, war selbstverständlich.
„Es ist tatsächlich nicht viel. Die Leiche wurde in die Pathologie Traunstein gebracht und ich habe darum gebeten, dass diese vorgezogen wird. Ich kenne dort den Fachbereichsleiter, er hat mit mir studiert.“ Fuchs strahlte übers ganze Gesicht.
„Was schätzen Sie: Wie lange lag die Leiche im Wasser?“
„Ich kann mir vorstellen, worauf Sie hinaus wollen Frau Westenhuber: ist der Fundort auch der Tatort oder wurde die Leiche an anderer Stelle ins Wasser geworfen und trieb in der Alz, und wenn, dann wie lange…“
„Ich sehe, wir verstehen uns Herr Fuchs, sehr schön. Also, was meinen Sie?“
„Ich möchte den Kollegen in der Pathologie nur ungerne vorgreifen…“
„Jetzt raus mit der Sprache, ich möchte Ihre persönliche Meinung hören, das war doch bestimmt nicht Ihre erste Wasserleiche.“
„Sicher nicht. Gut, wie Sie möchten: Meiner Meinung nach lag die Leiche grob geschätzt höchstens einen Tag im Wasser und wurde, wenn überhaupt, nicht weit getrieben, das zeigen schon alleine die Spuren am Körper des Toten. Außerdem ist die Alz momentan sehr seicht, wodurch ein Transport über eine längere Strecke sehr unwahrscheinlich wäre. Ich vermute also, dass der Fundort nicht der Tatort ist, auch nicht die Stelle, an der die Leiche in die Alz geworfen wurde. Wir konnten nicht die kleinste Spur diesbezüglich finden. Ich vermute jedoch, dass die Stelle nicht weit entfernt ist, meine Kollegen suchen das Gebiet flussaufwärts Richtung Garching bereits ab und mit etwas Glück finden wir die Stelle, vielleicht stoßen wir sogar auf den Tatort. Aber bitte: Versprechen kann ich hier nichts, denn das Alzufer ist stellenweise sehr schwer zugänglich und riesengroß. Hinzu kommt, dass sich auch aufgrund des schönen Wetters wieder bereits sehr viele Personen dort einfinden und eventuelle Spuren zerstören könnten,“ er stöhnte auf, denn er konnte nicht verstehen, wie Menschen Vergnügen am Baden oder am Grillen haben können. Für ihn beides Dinge, die mit vielen Keimen, Bakterien und sonstigen Gefahren verbunden sind.
„Was wir bislang genau wissen: Der Mann wurde erschossen, die Geschosse müssen separat geprüft werden. Eine Schätzung hierzu kann ich nicht abgeben, da sich die Geschosse noch im Körper des Toten befinden. Allerdings kann ich mit ziemlicher Gewissheit sagen, dass die Schüsse aus einer geringen Distanz abgegeben wurden, schätzungsweise zwei bis maximal vier Meter.“
„Eine Hinrichtung?“ sagte Hiebler.
„Ich gebe mich keinen Spekulationen hin, aber die geringe Distanz und dann auch noch die fixierten Arme mit Kabelbinder am Rücken lassen eine solche Annahme durchaus zu. Aber das herauszufinden, ist Ihre Arbeit. Kommen wir zu der Verletzung im Gesicht. Sie wurde dem Opfer mit ziemlicher Sicherheit kurz vor seinem Tod zugefügt. Ich vermute einen heftigen Schlag, entweder mit einem stumpfen Gegenstand, oder ein kräftiger Faustschlag. Festlegen möchte ich mich hier nicht, es spricht aber alles für Letzteres. Zur Identität können wir bislang nur Vermutungen anstellen: etwa fünfunddreißig Jahre alt, einen Meter fünfundachtzig groß, schlank, sehr sportlich, kurze, schwarze Haare. Markant sind die vielen Tätowierungen am gesamten Oberkörper und an den Armen. Oberflächliche Fotos wurden gemacht, detailliertere Bilder kommen dann aus Traunstein zusammen mit dem Bericht.“
Fuchs reichte die wenigen Bilder reihum und musste erst einmal Luft holen, denn er brachte die Ausführungen klar und deutlich, und dazu noch mit sehr hohem Tempo vor, und das alles ohne Notizen. Die Kollegen betrachteten die Fotos.
„So außergewöhnlich wie noch vor 20 Jahren sind diese Tätowierungen nicht mehr, viele Normalbürger und beinahe jeder Sportler hat welche, das ist ganz modern. Wenn nicht eine ganz markante Arbeit von einem Künstler dabei ist, wird die Zuordnung zu einem unbescholtenen Bürger allein mit diesen Tattoos nicht leicht,“ sagte Leo, als er sich die Fotos ansah.
„Ja allerdings, das mit diesen Körperbildern greift um sich,“ stöhnte Krohmer, der sich bereits mehrfach mit dem Problem befassen musste. „Selbst bei der Polizei sind Tätowierungen zwischenzeitlich erlaubt, soweit sie nicht sichtbar sind und durch Kleidung verdeckt werden können.“ Für Krohmer eine absolut überflüssige Regelung, denn ihm war es völlig egal, ob Polizisten Tätowierungen hatten, oder nicht. Für ihn zählte nur die Arbeitsleistung, über Äußerlichkeiten in der Art hatte er sich noch nie Gedanken gemacht, für ihn war das reine Privatsache.
„Was sagt die Vermisstenstelle?“
„Bislang negativ, keine Übereinstimmung. Allerdings hatten wir auch bisher nur eine vage Beschreibung, die auf sehr viele Menschen zutrifft. Da der Kollege Fuchs meinte, dass das Opfer aus Südeuropa stammen könnte, haben wir Interpol eingeschaltet. Das mit den Tätowierungen hätten wir vorher wissen müssen, das hätte die Suche massiv eingeschränkt.“ Hans Hiebler war sauer, dass er diese wichtige Information nicht umgehend auf den Tisch bekam und warf Fuchs einen vorwurfsvollen Blick zu. Waltraud Westenhuber bemerkte nicht nur den Blick, sondern auch die Antipathie zwischen den beiden. Sie musste einschreiten, denn so eine Schlamperei konnte sie nicht zulassen.
„In Zukunft werden solche Details umgehend an die Kollegen weitergegeben, verstanden?“
Fuchs nickte und wurde rot. Er wollte mit seiner Information warten, bis er sie persönlich in der Besprechung präsentieren konnte, denn sonst hatte er bisher nicht viel vorzuweisen.
„Aber ich habe nicht gesagt, dass das Opfer aus Südeuropa stammen könnte. Meine präzise Aussage war: südländischer Typ, das möchte ich ausdrücklich klarstellen,“ sagte er bestimmt.
„Wie dem auch sei, sobald der Bericht aus Traunstein hier ist, treffen wir uns wieder.“
Krohmer hatte genug gehört, auf ihn wartete noch viel Arbeit.
Frau Westenhuber war aufgestanden und ging direkt in die Kantine. Nach der überstürzten Abfahrt aus München, der Fundortbegehung und dem Joggen war sie völlig ausgehungert. Zu ihrer Enttäuschung musste sie feststellen, dass vom Mittagessen nicht mehr viel übrig war und sie sich mit den Resten begnügen musste. Sie wählte Leberkäse mit Kartoffelsalat und eine Apfelschorle, die sie in einem Zug austrank. Sie aß mit großem Appetit und gönnte sich dann noch zwei Stück Käsekuchen, die sie in die Hand nahm und davon abbiss, was von den wenigen anwesenden Kollegen amüsiert zur Kenntnis genommen wurde. Waldtraud Westenhuber war zwar sehr sportlich, pfiff aber auf gesunde Ernährung und moderne Kleidung, was ihr schon immer einiges an Hohn und Spott einbrachte. Dazu sprach sie bayrischen Dialekt und bemühte sich auch in Gesprächen nicht, Hochdeutsch zu sprechen. Sie war stolz auf ihre Herkunft und dachte nicht daran, sich auf irgendeine Art und Weise zu verbiegen. Sie wusste, dass sie intelligent war, prahlte aber nie damit. Im Gegenteil! Sie liebte es, sich dumm zu stellen und andere auflaufen zu lassen. Sie hasste nichts mehr als Prahlerei und Augenwischerei.
Sie dachte über den Fall nach, während sie einen Kaffee trank. Sie hatten die Leiche eines tätowierten Mannes aus der Alz gezogen, der durch zwei Schüsse in den Rücken getötet wurde – mit den fixierten Händen auf dem Rücken eine regelrechte Hinrichtung, darin war sie mit dem Kollegen Hiebler einig. In einer Großstadt hätte sie sofort auf ein Verbrechen im Milieu getippt. Aber hier in der Provinz? Ausgeschlossen! Oder lag sie vollkommen falsch und es gab hier auch so etwas Ähnliches? Sie musste sich dringend an die Arbeit machen und das herausfinden. Vor allem aber musste sie sich über diesen Fluss namens Alz informieren, mit dem sie bis dato noch nicht zu tun hatte.
„Gibt es hier in der Gegend ein kriminelles Milieu?“ fragte sie mit vollem Mund, als sie in das Büro eintrat. „Sie wissen schon, was ich meine.“
„Hier bei uns auf dem Land? Nein, auf keinen Fall,“ sagte Werner Grössert und schüttelte energisch den Kopf. Das war doch absurd.
„Bist du dir da sicher? Ich denke ja, dass es nichts gibt, was es nicht gibt. Und natürlich können auch hier bei uns kriminelle Banden Fuß gefasst haben, ohne dass wir bis dato davon Wind bekommen haben.“ Hans Hiebler fand den Gedanken äußerst interessant.
„Jetzt spinn dich aus!“ rief Grössert. „Bei uns ist die Welt noch in Ordnung. Nein, so etwas wie eine organisierte Kriminalität gibt es hier nicht.“
„Warum denn nicht? Denkst du wirklich so blauäugig? Wir sind doch längst durch Internet, Zuwanderung und uneingeschränkte Reisemöglichkeit mit dem Rest der Welt problemlos und auch nahtlos verknüpft. Und Grenzkontrollen gibt es so gut wie keine mehr. Außerdem bin ich davon überzeugt, dass in jedem Menschen kriminelle Energie, Gier, Machtbesessenheit usw. schlummert, auch in unserer ländlichen Bevölkerung. Warum denkst du denn, dass wir alle hier in unserem Job so gut beschäftigt sind?“
„Das Argument ist zwar nicht schlecht. Trotzdem, ich bleibe dabei: Bei uns hier auf dem Land ist die Welt noch in Ordnung.“
„Interessant,“ kommentierte Frau Westenhuber die Diskussion, „wie erklärt sich dann die Art und Weise, wie das Opfer getötet wurde? Ich sehe das wie Hiebler: als Hinrichtung. Wir sollten trotzdem an dem Gedanken dranbleiben. Herr Hiebler, forschen Sie doch bitte in dieser Richtung nach. Habe ich zwischenzeitlich etwas verpasst? Nein? Na dann an die Arbeit, der Bericht von der Pathologie Traunstein müsste heute Abend hier sein. Ist das dort mein Schreibtisch?“
Ohne auf eine Antwort zu warten, setzte sie sich an den einzig freien Schreibtisch. Sie schaltete den Computer auf ihrem Schreibtisch nicht ein, sondern legte die Tastatur zur Seite und zog ihren eigenen Laptop aus der Tasche; sie arbeitete lieber mit ihren eigenen Utensilien, was auch Stifte, Block und Telefon mit einschloss. Sie informierte sich zunächst über diesen Fluss Namens Alz. Die Alz entspringt also bei Seebruck aus dem Chiemsee und hat eine Länge von 63 km – nicht wirklich lang. Gut, dann führt der Fluss durch oder nahe an Ortschaften vorbei: Altenmarkt, Trostberg, Tacherting, Garching, Burgkirchen (dort hatten sie die Leiche gefunden), Emmerting und mündet dann bei Marktl in den Inn. Sie öffnete eine Karte auf ihrem Laptop und sah sich das Ganze in Ruhe an. Wenn dieser Fuchs Recht hat und die Leiche nicht lange im Wasser lag und auch nicht weit getrieben sein konnte, dann kann man die ersten Ortschaften getrost ausklammern.
So weit – so gut. Sie kam hier nicht weiter und musste auf die Berichte der Pathologie und der Spurensicherung warten. Bei Letzterem war sie sich sicher, dass Fuchs seine Arbeit gründlich machen würde, sie kannte solche Typen zur Genüge: übereifrig, pedantisch, überaus korrekt und stur. Sie könnte darauf wetten, dass Fuchs die Stelle, an der die Leiche ins Wasser geworfen wurde, noch bis heute Abend fand – wenn nicht sogar den Tatort.
Der Bericht der Pathologie traf erst am späten Abend ein. Rudolf Krohmer und Werner Grössert waren längst zuhause, Hans Hiebler fuhr direkt vom Präsidium zu einer Verabredung, die er nicht verschieben wollte – die neue Kollegin konnte er immer noch nicht leiden und würde sich für sie nicht einschränken. Nach dem letzten großen Fall hatte er eine riesige, verantwortungsvolle Aufgabe übernommen, der er sich mit vollem Einsatz widmete, wodurch auch sein Privatleben erheblich litt: Er musste der Nichte von Frau Gutbrod, Karin, Fahrstunden erteilen. Er war ihr damals gefolgt und war geschockt von deren rücksichtslosen und kriminellen Fahrstil – so konnte er sie auf keinen Fall mit gutem Gewissen auf die Straßen lassen. Nach einem heftigen Vortrag hatte er Karin davon überzeugt, dass sie dringend diesbezüglich Nachhilfe brauchte und diese hatte sich schließlich dazu überreden lassen. Karin war von einfacher Natur: Nur an sich selbst und einem potentiellen Ehemann interessiert. Außerdem legte sie als Friseurin sehr viel Wert, beinahe zu viel Wert auf ihr Äußeres. Hiebler hatte sehr lange dafür gebraucht, Karin davon zu überzeugen, beim Fahren keine Highheels zu tragen. Und noch länger hatte es gebraucht, um ihr klarzumachen, dass der Rückspiegel nicht fürs Schminken da war, sondern um den rückwärtigen Verkehr im Auge zu behalten.
Frau Gutbrod hatte es sich seit Jahren zur Aufgabe gemacht, ihrer Nichte, die zwischenzeitlich über 40 war, bei der Suche nach einem Ehemann zu helfen, was ihre Umgebung fürchterlich nervte. Bei jeder Gelegenheit bot Frau Gutbrod ihre Nichte Karin an wie sauer Bier; die beiden gab es quasi nur noch im Doppelpack. Hans Hiebler erteilte der Frau geduldig seit Wochen regelmäßig Fahrstunden, was wahrlich kein Vergnügen war, denn immer wieder brachte die Frau ihn zur Weißglut. Aber was sich Hiebler vornahm, das zog er auch durch! Und er wurde langsam auch belohnt, denn in den letzten Tagen war Karins Fahrstil deutlich besser geworden. Sie fuhr nun umsichtiger und auch vorsichtiger. Zwar kannte Karin die Verkehrszeichen und deren Bedeutung, aber jetzt fing sie sogar an, sich auch daran zu halten. Halleluja!
Leo hatte an diesem Abend nichts vor, er hasste die ruhigen Abende, die er allein vor dem Fernsehgerät verbrachte. Seit seine Viktoria auf Reha war und sie ihm das Versprechen abnahm, sie nicht zu besuchen, langweilte er sich beinahe zu Tode. Deshalb kam ihm der neue Fall wie gerufen.
„Nur noch wir beide, Herr Schwartz. Bewegen Sie Ihren Hintern hier rüber, dann können wir uns den Bericht gemeinsam ansehen.“
Leo nahm frischen Kaffee mit, den Frau Westenhuber dankend annahm. Er hatte beobachtet, wie diese Frau beinahe literweise Kaffee in sich hineinschüttete und dabei jede Menge Schokoriegel aß; gesund war etwas anderes.
„Wir haben es also mit einer russischen 9mm Makarow zu tun. Na super, das ist eine der weitverbreitetsten Waffen.“
„Wird die heute immer noch hergestellt?“
„Ganz sicher. Ich war vor gut 3 Jahren bei einem Vortrag in Russland,“ erzählte Frau Westenhuber mit glänzenden Augen, „ich habe dort einen russischen Oberst kennengelernt, so einer mit viel Lametta auf der Brust, ein echt aufgeblasener Mensch der sich für sehr wichtig hielt. Von ihm habe ich erfahren, dass diese Waffe auch heute von den dortigen Streitkräften immer noch gerne benutzt wird. So wie in vielen anderen Ländern auch noch. Das Nachfolgemodell ist scheinbar nicht sehr beliebt, obwohl die Waffenlobby die Makarow sehr gerne ersetzen würde.“
„Das glaube ich gerne,“ sagte Leo, während er sich die Detailfotos der Tätowierungen genauer ansah. „Ich kann mir vorstellen, dass das ein Riesengeschäft ist.“
„Ertrunken ist er auf jeden Fall nicht. Eines der beiden Geschosse traf ihn tödlich. Hier steht, dass er sofort tot gewesen sein muss. Ich finde es immer tröstlich, wenn jemand nicht unnötig leiden musste.“
Leo war nicht ganz ihrer Meinung, denn für ihn gab es Ausnahmen: Wenn es sich um besonders grausame Verbrecher handelte, die ihre Opfer mitunter schrecklich zurichteten oder extrem leiden ließen. Aber vor allem bei Fällen, in denen es sich bei den Opfern um Kinder handelte. Als Polizist würde er das jedoch niemals zugeben.
„Hier steht als Anmerkung, dass noch Labortests anstehen, die Ergebnisse stehen erst morgen zur Verfügung – um was es dabei wohl geht?“
„Keine Ahnung. Aber wenn die Kollegen Tests durchführen, dann muss es wichtig sein.“
Leo sah sich die Fotos nochmals genauer an. Er kannte sich mit Tattoos nicht aus, aber einige davon waren wirklich sehr schön, obwohl er kein Fan von solchen Dingen war. Für ihn würde ein Tattoo oder gar eines dieser fürchterlichen Piercings niemals in Frage kommen, denn schon der Gedanke an Nadeln und den damit verbundenen Schmerzen bereitete ihm eine Gänsehaut. Für ihn unvorstellbar, wie man sich so etwas freiwillig antun kann.
„Ist bei der Fahndung schon irgendetwas rausgekommen?“ riss ihn Frau Westenhuber aus seinen Gedanken.
„Nein. Aber ich werde die Fahndung durch die Fotos der Traunsteiner Pathologie erweitern.“
„Tun Sie das. Gibt es noch Kaffee?“
Es klopfte zaghaft an der Tür und sofort sah Leo auf seine Uhr: es war 21.38 Uhr, ziemlich spät für Besuch.
„Herr Fuchs? Sagen Sie mir nicht, dass Sie immer noch arbeiten,“ empfing ihn Frau Westenhuber erfreut.
„Selbstverständlich, wie Sie ja auch. Ich wollte Ihnen mitteilen, dass wir die fragliche Stelle gefunden haben. Und zwar die Stelle, an der das Opfer in die Alz geschleift wurde, und auch den Tatort. Die Spuren sind eindeutig,“ rief er freudestrahlend und stolz aus. Er breitete auf Frau Westenhubers Schreibtisch die entsprechenden Fotos aus. „Hier sehen Sie den Tatort unweit des Fundortes, nur ca. 150 m flussaufwärts entfernt, eine Geschosshülse konnten wir sicherstellen, sie war im Unterholz – die andere ist verschwunden. Sehen Sie hier auf dem Foto die eindeutigen Schleifspuren bis hier zum Ufer der Alz. Ich bin mir sicher, dass wir Abriebspuren auf Steinen den Schuhen des Opfers zuordnen können, die entsprechenden Ergebnisse sind morgen fertig. Blutspuren konnten wir leider noch nicht finden, es ist einfach schon zu dunkel. Gleich morgen früh nach der Besprechung machen wir uns auf die Suche. Die Stelle wurde gesichert und abgeriegelt. Ihre Zustimmung vorausgesetzt, habe ich dort zur Sicherheit einen Polizisten postieren lassen.“
Friedrich Fuchs platzte beinahe vor Stolz.
„Sehr gute Arbeit Herr Fuchs, ich bin wirklich beeindruckt. Wenn eine der beiden Geschosshülsen fehlt, dann könnten wir es doch mit einem Profi zu tun haben, denn wer sonst würde sich die Mühe machen?“
„Sehr spekulativ, die könnte wer weiß wie von der Stelle entfernt worden sein. Aber wir sollten diese Möglichkeit nicht außer Acht lassen, da stimme ich Ihnen zu.“ Leo hatte sich an dem Gespräch mit dem kriminellen Milieu hier in der Provinz nicht beteiligt, schloss sich aber eher der Meinung Hieblers an: Es gibt nichts, was es nicht gibt. Und warum sollte es so etwas hier nicht geben? Die Bedingungen sind geradezu ideal: Jeder vertraut jedem und die Polizei ist kaum präsent. Trotzdem bereitete ihm die Vorstellung abermals eine Gänsehaut, denn wenn das so wäre, dann hätten sie ein Problem.
„Wie dem auch sei. Herr Fuchs, weil Sie so fleißig waren und so viel gearbeitet haben, lade ich Sie jetzt auf ein Bier ein, das haben Sie sich redlich verdient. Haben Sie Zeit und Lust?“
„Aber gerne.“ Friedrich Fuchs konnte sein Glück kaum fassen, denn noch niemals vorher wurde er privat von einem Kollegen eingeladen, und dann gleich von dieser hochkarätigen Frau Westenhuber.
Die beiden zogen davon und Leo musste lachen, denn Frau Westenhuber wickelte diesen Fuchs so richtig um den Finger – herrlich anzuschauen. Auch Leo machte sich nun auf den Heimweg, wobei er sich zwingen musste, nicht an den Fall zu denken, was gar nicht so leicht war. Am liebsten hätte er mit seiner Viktoria gesprochen und sich mit ihr ausgetauscht, aber um die Zeit wollte er sie nicht mehr stören, sie schlief hoffentlich tief und fest.
Er parkte seinen Wagen vor dem Hof von Tante Gerda, Hieblers Tante, die jeder nur Tante Gerda nannte. Hier hatte er vor fast einem Jahr eine neu ausgebaute Wohnung bezogen und er fühlte sich sehr wohl hier. Der Hof lag bereits im Dunkeln und er bemühte sich, die Wagentür leise zu schließen, um Tante Gerda nicht zu stören. Aber zu spät: Felix begrüßte ihn mit lauten Gebell! Leo mahnte ihn, leise zu sein, aber der Hund dachte nicht daran. Er sprang an Leo hoch, sauste davon und holte schließlich einen Ball. Natürlich spielte er mit dem Hund, er konnte nicht anders – und war ganz schnell abgelenkt. Die Tür ging auf und Tante Gerda kam mit zwei Gläsern Rotwein in der Hand heraus, schaltete das Außenlicht an und setzte sich auf die Holzbank.
„Setz dich zu mir, du hattest bestimmt einen schweren Arbeitstag,“ sagte sie lächelnd und reichte ihm das Glas.
„Es tut mir leid, wenn ich dich geweckt habe, aber Felix…“
„Ist schon gut. Ich weiß, dass man dem kleinen Kerl kaum widerstehen kann. Außerdem kann ich bei der Hitze sowieso nicht schlafen.“
Leo setzte sich zu Tante Gerda und gab ihr einen Kuss auf die Wange, während Felix immer wieder von ihm einforderte, den Ball wieder und wieder zu werfen, bis er schließlich erschöpft auf die Bank sprang und sich zufrieden zwischen die beiden legte.
Leo hatte den Hund bei seinem ersten Fall bei der Polizei Mühldorf in einem erbärmlichen Zustand gerettet. Er war auf dem verwahrlosten Sinder-Hof in Tüßling der Hofhund und lebte angebunden an eine kurze Kette, die sich in sein Fleisch gearbeitet hatte. Das war ein schrecklicher Anblick! Tante Gerda hatte den Kleinen sofort in ihr Herz geschlossen und zu sich genommen. Von dem Zustand vor einem Jahr war nichts mehr zu sehen, Felix war gesund und munter und hatte alle, vor allem Tante Gerda, vollkommen im Griff.
Sie saßen schweigend auf der Bank und tranken in Ruhe ihren Rotwein, wobei Leo langsam abschalten und sich entspannen konnte. Die Sterne leuchteten am Himmel und es war kaum eine Wolke zu sehen, nur ab und an erschien der Kondensstreifen eines Flugzeuges, sonst war alles ruhig und friedlich. Und wenn jetzt auch noch seine Viktoria hier wäre, wäre alles perfekt!
4.
Werner Grössert hatte an das Gespräch mit seiner Mutter nicht mehr gedacht, als sie gegen 7.00 Uhr bei ihm zuhause anrief.
„Was hast du wegen der Steuerprüfung erreichen können?“
„Noch nichts Mutter, ich bin leider noch nicht dazugekommen. Ich kümmere mich später darum.“
Seine Mutter sagte nichts darauf, sondern legte einfach auf.
Jetzt hatte Werner Grössert ein schlechtes Gewissen, seine Mutter wusste genau, wie sie mit ihm umzugehen hatte. Er war sauer auf seine Mutter, aber vor allem war er sauer auf sich selbst – nicht, weil er das mit der Steuerprüfung vergessen hatte, sondern dass es seine Mutter immer wieder schaffte, dass er sich wie ein kleines Kind vorkam.
Er trank rasch seinen Kaffee aus und warf einen Blick ins Schlafzimmer, wo seine Frau noch seelenruhig schlummerte. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht und er schloss leise die Tür. Seine Frau war tatsächlich schwanger, obwohl die Ärzte nicht daran geglaubt hatten, dass sie aufgrund ihrer Hautkrankheit und den vielen Medikamenten überhaupt schwanger werden könnte. Erst vor wenigen Tagen hatten sie die Nachricht bekommen und seine Frau hatte sofort alle Medikamente abgesetzt. Grössert war überglücklich und freute sich sehr auf das Kind. Und er war sehr stolz auf seine Frau, die sich tapfer hielt und niemals jammerte, obwohl sie mit Übelkeit und Kreislaufproblemen zu kämpfen hatte.
Er schrieb seiner Frau eine kurze Nachricht, legte den Zettel auf den Küchentisch und stieg in seinen Wagen. Sofort rief er seinen Freund beim Finanzamt Mühldorf an, der immer der erste im Büro war, dafür aber auch früher ging.
„Guten Morgen Bernd, hier Werner Grössert.“
„Der Werner! Servus altes Haus. Lass mich raten: Du missbrauchst mal wieder meine Gutmütigkeit? Warum sonst würdest du mich in aller Herrgottsfrüh anrufen.“
„So ist es, du hast mich erwischt. Ich möchte dich auch nicht lange aufhalten und um den heißen Brei herumreden: Bei meinen Eltern steht offenbar demnächst eine Steuerprüfung an.“
„Verstehe. Einen Moment, ich rufe den Fall auf. – Oje das sieht nicht gut aus Werner. Es steht tatsächlich eine Steuerprüfung an, und zwar, weil es bei deinen Eltern in der Kanzlei gravierende Unstimmigkeiten gibt.“
„Das muss ein Missverständnis sein. Wie kommt das Finanzamt darauf?“
„Werner, du bringst mich echt in eine schwierige Lage, denn das ist ein laufendes Verfahren, von dem ich dir nicht viel, eigentlich überhaupt nichts sagen darf. Ich kann dir nur so viel verraten, dass dem Finanzamt Informationen vorliegen, die eine Prüfung unumgänglich machen.“
„Wie bitte? Welche Informationen?“
„Anonym.“
„Und deshalb wird gleich eine Steuerprüfung angesetzt? Das geht so einfach?“
„Normalerweise gehen wir solchen Hinweisen nicht nach, denn davon bekommen wir täglich jede Menge. Aber in dem Fall deiner Eltern müssen wir tätig werden, denn uns wurden Unterlagen zugespielt, Unterlagen aus der Kanzlei. Mehr kann ich dir aber nun wirklich nicht sagen, sonst komme ich in Teufels Küche.“
Werner Grössert war geschockt, damit hatte er nicht gerechnet.
„Und wann findet diese Prüfung statt?“
„Die Kollegen sind bereits unterwegs, sie müssten eigentlich schon in der Kanzlei sein. Der Fall wurde als dringend eingestuft. Jetzt möchte ich aber wissen, woher du deine Information hast, denn diese Prüfung wird unangekündigt durchgeführt.“
„Das kann ich dir leider nicht sagen. Trotzdem vielen Dank Bernd, du hast einen gut bei mir.“
„Ich komm darauf zurück, darauf kannst du Gift nehmen. Servus Werner.“
Grössert war klar, dass seine Eltern einen Tipp bekommen hatten. Aber ihm war auch klar, dass er hier nichts weiter machen konnte. Um welche Unterlagen ging es dabei? Was hatten seine Eltern zu verbergen? Er musste der Sache auf jeden Fall nachgehen und fuhr direkt zur Kanzlei Grössert.
„Was machst du hier Werner?“ empfing ihn sein Vater gereizt. „Wusstest du etwa davon?“
„Nein. Ich wollte einfach nur nach euch sehen.“
„Erzähl keinen Blödsinn! Du hast dich hier schon seit Jahren nicht mehr einfach nur so blicken lassen. Und gerade heute, wo wir die Steuerprüfung im Haus haben, erscheinst du auf der Bildfläche! Sei ehrlich: Hast du irgendetwas hiermit zu tun?“
Werner war völlig sprachlos, denn diese Unterstellung war nicht nur lächerlich, sondern sehr beleidigend. Niemals würde er etwas tun, um seiner Familie zu schaden, egal, wie schlecht sie ihn auch behandelten. Er war wütend und verletzt.
„Das glaubst du wirklich?“ schrie er seinen Vater an.
Werners Mutter kam hinzu und stellte sich nun zwischen die beiden, die noch niemals gut miteinander auskamen. Zum endgültigen Bruch zwischen Vater und Sohn kam es, als Werner sich entschlossen hatte, nicht Jura zu studieren, sondern stattdessen zur Polizei zu gehen. Und dann hatte er noch obendrein kurz darauf diese nicht standesgemäße, inakzeptable Frau geheiratet, die ihnen ein Dorn im Auge war. Sie kam nicht nur aus einfachsten Verhältnissen. Ihre Eltern waren geschieden und sie war dazu auch noch evangelisch. Abgesehen von ihrer viel zu üppigen Figur hatte sie auch noch diese eklige Hautkrankheit, wegen der sie ständig in Spezialkliniken war und nicht arbeiten konnte. Werners Eltern waren beide davon überzeugt, dass ihr Sohn nur gegen sie als Eltern rebellieren und sie für irgendetwas strafen wollte, obwohl sie immer nur ihr Bestes gegeben hatten.
„Natürlich hat Werner nichts damit zu tun, wo denkst du denn hin. Mein Lieber, du wirst in der Buchhaltung gebraucht.“ Dr. Wilhelm Grössert ging brummend davon, er war mit der Situation völlig überfordert, denn so eine Prüfung hatte es in seiner Kanzlei noch niemals gegeben, auch nicht bei seinen Eltern, die diese Kanzlei schon vor vielen Jahren gegründet hatten. Vor allem störte sich Dr. Grössert daran, wie die Finanzbeamten mit ihm umgingen und ihn wie einen Verbrecher behandelten – zumindest kam es ihm so vor, obwohl die Beamten nur ihre Arbeit machten und ihn nicht anders behandelten wie jeden anderen auch. Aber er war es nun mal nicht gewöhnt, Anweisungen entgegenzunehmen und Unterlagen rauszurücken, die er partout nicht hergeben wollte. Für seine Begriffe waren diese Beamten unerlaubte Eindringlinge, die hier nichts zu suchen hatten. Zum Glück hatte er vor zwei Tagen von einem Freund während einer Golfpartie einen Tipp bekommen und konnte so entsprechende Unterlagen und pikante Dinge noch rechtzeitig in Sicherheit bringen. Nicht auszudenken, wenn er diese Möglichkeit nicht gehabt hätte!
„Du musst deinen Vater verstehen, er meint es nicht so,“ sagte seine Mutter und zog Werner zur Seite. „Warum konntest du das hier nicht verhindern? Du hast es mir versprochen und ich habe mich auf dich verlassen,“ sagte sie vorwurfsvoll.
„Ich habe nichts dergleichen versprochen und das weißt du auch. Ich habe zugesagt, bezüglich dieser Steuerprüfung nachzuhaken und das habe ich auch getan.“ Werner Grössert war sauer und gekränkt, dass sein Vater ihn beschuldigte, mit dieser Steuerprüfung etwas zu tun zu haben. Aber so oder so ähnlich behandelten sie ihn schon sein Leben lang und er fühlte sich in Gegenwart seiner Eltern stets unwohl und vermied die Treffen mit ihnen, so oft er konnte. Auch jetzt wollte er so schnell wie möglich weg von hier und fragte sich, warum er überhaupt gekommen war, denn wie so oft war er nicht willkommen und seine Eltern behandelten ihn wieder sehr unfreundlich. Trotzdem beschloss er, die Information seines Schulfreundes weiterzugeben.
„Diese Steuerprüfung wurde aufgrund einer anonymen Anzeige angesetzt. Dem Finanzamt wurden Unterlagen zugespielt, die diese Prüfung offenbar dringend erforderlich machen. Was ist hier los? Was habt ihr zu verbergen? Um welche Unterlagen geht es?“
Der Mund seiner Mutter stand offen und für einen kleinen Moment schien sie die Fassung zu verlieren, fing sich aber schnell wieder.
„Was redest du da für dummes Zeug, da musst du etwas falsch verstanden haben, du hast bestimmt wieder nicht richtig zugehört. Dein Vater und ich haben nichts zu verbergen, rein gar nichts. Und jetzt entschuldige mich, ich habe noch zu tun. Du findest ja alleine raus. Danken kann ich dir nicht, denn du hast im Grunde genommen nichts für uns getan. Schade eigentlich, ich hatte deine Position und deinen Einfluss wohl völlig überschätzt.“
Seine Mutter war enttäuscht und sauer, das war klar. Trotzdem steckte mehr hinter der ganzen Sache und der musste er nachgehen. Dass ihn seine Mutter eben beleidigte, war ihm völlig egal, daran war er gewohnt.
Auf der Fahrt ins Präsidium dachte er darüber nach, dass er eigentlich seinen Eltern bei der Gelegenheit die Neuigkeit mitteilen wollte, dass sie Großeltern werden, aber er hatte es sich anders überlegt. So, wie die beiden die letzten Jahre mit ihm und vor allem mit seiner Frau umgegangen waren, wollte er es ihnen wenigstens ein bisschen heimzahlen: Er würde ihnen davon überhaupt nichts sagen, sondern über kurz oder lang erfuhren sie es von anderen. Und das traf die beiden bis ins Mark, das war so sicher wie das Amen in der Kirche. Seine Frau war bestimmt nicht damit einverstanden und wenn sie davon erfuhr, musste er sich todsicher eine Standpauke anhören. Sie war einfach zu gutmütig und wollte für alle immer nur das Beste. Sie nahm seinen Eltern ihr Verhalten nicht übel und ertrug die kleinen Demütigungen und Sticheleien mit einem Lächeln. Gerne wäre Werner oft für seine Frau in die Bresche gesprungen und hätte sie in Schutz genommen, aber seine Frau hatte es ihm verboten, sie wollte keinen Streit nur wegen ihr. Er liebte seine warmherzige, gutmütige Frau und war sehr stolz auf sie. Sie ertrug diese Demütigungen und ihre Krankheit tapfer und ohne zu Klagen; diese Frau war das Beste, was ihm in seinem Leben widerfahren ist. Und jetzt wurde sein Glück auch noch durch dieses Baby, dieses Wunder übertroffen. Er war sehr glücklich und pfiff ein fröhliches Lied. Und er musste laut lachen, als er sich die Gesichter seiner Eltern vorstellte, wenn sie von Fremden erfuhren, dass seine Frau schwanger ist und sie Großeltern werden! Sein Vater und vor allem seine Mutter taten alles Erdenkliche dafür, dass sie in der Öffentlichkeit gut dastanden und spielten allen allzu gerne die heile Familie vor! War das fies von ihm? Nein, das hatten seine Eltern verdient!
Pfeifend und gut gelaunt parkte er seinen Wagen vor dem Präsidium. Auch heute hatte er den roten Kleinwagen nicht bemerkt, der ihm gefolgt war und der unweit entfernt parkte. Er war spät dran und ging direkt in den Besprechungsraum, wo die anderen bereits ungeduldig auf ihn warteten.
Sein Chef Rudolf Krohmer sah demonstrativ auf seine Armbanduhr und warf ihm einen strengen Blick zu. Seine neue Vorgesetzte Waltraud Westenhuber rührte in ihrem Kaffee und war ebenfalls nicht erfreut über seine Verspätung, denn Geduld war nicht gerade ihre Stärke. Den anderen war es egal, es handelte sich lediglich um 20 Minuten und sie machten keine große Sache daraus. Werner würde schon seine Gründe haben.
„Dann können wir ja endlich anfangen,“ begann Rudolf Krohmer. „Die Tatwaffe ist eine 9 mm Makarow, diese Waffe ist bei uns noch nie aufgetaucht, der Bericht der Ballistiker ist eindeutig. Die Bilder der Tätowierungen wurden bereits durch den Kollegen Schwartz der Vermisstenfahndung angefügt – irgendwelche Reaktionen hierauf?“
Leo Schwartz schüttelte den Kopf.
„Von der Pathologie Traunstein bekamen wir eine sehr wichtige Information: An dem Toten wurden jede Menge Spuren von Nadelholz gefunden, und zwar von Tannen.“
„Die gibt es am Alzufer nicht,“ rief Friedrich Fuchs, der von Frau Westenhuber zur Besprechung dazu gebeten wurde.
„Sind Sie sicher?“
„Natürlich bin ich mir sicher. An unseren Gewässern gibt es kein Nadelholz. In höheren Lagen, also in den Bergen durchaus, aber bei uns nicht.“
„Vielleicht hatte der Tote etwas mit Holzarbeiten zu tun? Waldarbeiter, Zimmermann, Schreiner oder Ähnliches,“ sagte Leo.
„Seinen Händen nach zu urteilen hatte er keine schweren, handwerklichen Arbeiten ausgeführt. Die Hände waren sauber und gepflegt. Ich tippe eher auf einen Bürojob.“
„Ein wichtiger Hinweis. Irgendwelche Informationen bezüglich organisiertem Verbrechen hier in der Gegend?“ fragte Frau Westenhuber den Kollegen Hiebler.
„Wie bitte?“ rief Krohmer aus. „Bei uns? Nein, das kannst du vergessen, das hätten wir mitbekommen.“
Werner Grössert fühlte sich durch seinen Chef in seiner Meinung bestätigt und lehnte sich demonstrativ mit verschränkten Armen zurück.
„Warum denn nicht?“ rief Waltraud Westenhuber patzig. „Im Milieu wird sehr gerne diese 9 mm Makarow verwendet und auch dieser Möglichkeit müssen wir nachgehen. Gestern Abend noch habe ich mit Kollegen in München telefoniert, ob es irgendeine Spur hier in diese Gegend gibt. Leider negativ, was aber nichts heißt. Ich möchte eurer Idylle nicht zu nahe treten, aber gerade hier, wo man nicht damit rechnet, wäre das doch geradezu genial.“
„Ich denke, dass da deine Phantasie mit dir durchgeht. Aber bitte, wie du meinst, ich möchte dir natürlich nicht vorschreiben, wie du vorzugehen hast. Herr Hiebler entschuldigen Sie, ich wollte Sie nicht unterbrechen. Haben Sie diesbezüglich irgendwelche Kenntnisse?“
„Noch nicht, ich bin aber noch dran. Im Übrigen möchte ich betonen, dass auch ich diese Möglichkeit nicht ausschließen möchte.“
„Meinetwegen, denken Sie, was Sie wollen. Sonst noch irgendetwas, das uns weiterbringen könnte? Nein? Dann hoffen wir darauf, dass wir die Identität des Toten so schnell wie möglich herausfinden. Das Foto in der heutigen Tageszeitung ist übrigens exzellent.“
Friedrich Fuchs freute sich über das Lob, denn er hatte von dem Toten viele Bilder gemacht und das heute in der Zeitung war das Beste. Der Sonnenbrand in Fuchs‘ Gesicht hatte sich verschlimmert, auch die Kopfhaut hatte etwas abbekommen. Grössert ging an ihm vorbei und verzog das Gesicht.
„Da haben Sie sich aber einen satten Sonnenbrand eingefangen. Ich an Ihrer Stelle würde mir das von einem Arzt ansehen lassen, das sieht gar nicht gut aus.“
Fuchs warf ihm nur einen verächtlichen Blick zu. Was ging diesen Schnösel sein Sonnenbrand an? Er wusste schließlich selbst am besten, was er zu tun und zu lassen hatte und hasste es, gute Ratschläge zu bekommen. Natürlich hatte er bereits selbst schon seinen Sonnenbrand bemerkt, schließlich hatte er zuhause einen Spiegel und seine Haut brannte wie Feuer. Aber er hatte bereits für Abhilfe gesorgt und seine Haut heute Nacht mehrfach mit Quark abgekühlt und selbstverständlich sofort Acetylsalicylsäure eingenommen. Er war ja schließlich nicht blöd.
Hilde Gutbrod blickte nicht auf, als Rudolf Krohmer eintrat. Er sah sofort, dass sie beleidigt war und konnte sie durchaus verstehen, Waldtraud war wirklich nicht nett zu ihr gewesen.
„Jetzt sind Sie doch nicht eingeschnappt Frau Gutbrod, die Traudl meinte das nicht so.“
„Doch, diese Frau Westenhuber meinte es so. Sie hat mich vor allen Kollegen blamiert und bloßgestellt. Womit habe ich das verdient? Ich kann mich doch hier kaum mehr blicken lassen. Heute früh habe ich mir allen Ernstes überlegt, ob ich überhaupt zur Arbeit gehen kann, denn ich fühle mich schrecklich. Noch niemals hat mich jemand so behandelt.“
Sie war wirklich sehr verletzt, denn Krohmer bemerkte Tränen in ihren Augen. Allerdings neigte sie sehr zu Übertreibungen und auch zur Theatralik. Aber er musste unbedingt den Frieden wieder herstellen.
„Wenn Sie nicht mehr böse sind, verrate ich Ihnen ein Geheimnis.“
Jetzt wurde Frau Gutbrod hellhörig, wischte sich die Tränen ab und rückte ein Stückchen näher.
„Welches Geheimnis? Betrifft es Frau Westenhuber?“
Krohmer nickte.
„Eigentlich wollte ich Traudl nicht hierhaben und habe versucht, jemand anderen zu bekommen. Aber sie wollte unbedingt zu uns nach Mühldorf. Wahrscheinlich nur, um mich zu ärgern.“
„Ich verstehe nicht, wie meinen Sie das?“
Die Tränen und die Wut schienen nun vollkommen vergessen.
„Traudl ist meine Cousine, wir sind Tür an Tür aufgewachsen.“
„Ihre Cousine?“ rief Frau Gutbrod aus.
„Ja leider, man kann sich seine Verwandten nun mal nicht aussuchen. Und weil Traudl meine Cousine ist, kann ich Ihnen versichern, dass sie Sie nur bloßgestellt hat, weil sie ganz bestimmt neidisch auf Sie ist. Es stimmt, dass Traudl nur einige Jahre jünger ist als Sie, Sie sehen dafür aber viel jugendlicher und hübscher aus. Traudl hat kein Geschick als Frau und hat keine Ahnung, wie sie sich vorteilhaft kleiden und stylen soll, das war früher schon so. Sie hat nie mit Puppen gespielt, sondern hat sich lieber mit Jungs herumgetrieben. Ich glaube, insgeheim wäre sie viel lieber ein Junge geworden, aber bitte, das bleibt natürlich unter uns. Stellen Sie sich vor, sie ist mit dem Wohnmobil angereist und lebt während ihrer Anwesenheit hier auf unserem Parkplatz.“
„Wie bitte? Das Wohnmobil da draußen ist das Ihrer Cousine? Ich hatte mich schon gewundert. Na für mich wäre so etwas ja nichts, ich könnte mich darin nicht rühren. Man hat dort so wenig Platz und kann ja von allen Seiten begafft werden.“
„Ganz meine Meinung. Natürlich habe ich ihr angeboten, bei mir zu wohnen, wir sind schließlich eine Familie. Aber sie möchte nicht, sie hat nun mal ihren eigenen Kopf. Also Frau Gutbrod, Sie haben jetzt einen tieferen Einblick. Seien Sie wieder gut und sehen meiner Cousine ihren Neid nach. Und ich bitte Sie, dass dieses Gespräch unter uns bleibt.“
Das hatte gesessen und Frau Gutbrods Miene hellte sich umgehend auf.
„Sie können sich auf mich verlassen,“ flüsterte sie verschwörerisch, obwohl Rudolf Krohmer in dem Moment, als er den Mund zumachte, bereits wusste, dass Frau Gutbrod diese Information niemals für sich behalten könnte und in kürzester Zeit würde das die Runde machen. Bald wusste jeder über ihn und seine Cousine Traudl Bescheid. Was soll`s, irgendwann würde es sowieso rauskommen.
Rudolf Krohmer ging zufrieden in sein Büro und freute sich über seinen gelungenen Schachzug, mit dem er zwei Fliegen mit einer Klappe schlug: Seine Sekretärin war wieder bester Laune und würde diese auch noch eine Weile beibehalten, auch wenn seine Cousine nochmals zuschlagen sollte. Und er konnte seiner Cousine eins auswischen, die nun einer scheinbar überlegenen und gutmütigen Frau Gutbrod entgegentreten musste. Natürlich hatte er gezielt maßlos übertrieben und geflunkert. Er kannte seine Frau Gutbrod schon viele Jahre und wusste genau, wie er sie anpacken musste. Sie würde von nun an seiner Cousine wohlwollend gegenübertreten und ihr bei jeder Gelegenheit gute Ratschläge erteilen, und das brachte Traudl mit ziemlicher Sicherheit auf die Palme.
Rudolf Krohmer war wirklich nicht sehr begeistert davon gewesen, dass seine Cousine hier arbeiten sollte, er wurde davon völlig überrascht. Als er davon hörte, dass Traudl die Vertretung von Viktoria Untermaier antrat, setzte er alle Hebel in Bewegung, um das zu verhindern. Leider vergeblich, denn sie war bereits unterwegs und hatte vorgesorgt. Auch sie hatte ihre Verbindungen und machte es ihm unmöglich, das Unvermeidliche zu stoppen. Natürlich liebte er seine Cousine, aber wenn möglich dann nur aus der Ferne und bei den unvermeidlichen Familientreffen. Er fürchtete nicht nur ihr loses Mundwerk, sondern vor allem ihr ungehobeltes Benehmen, mit dem immer zu den unpassendsten und unmöglichsten Momenten zu rechnen war, was sie deutlich im Besprechungszimmer mit Frau Gutbrod demonstriert hatte. Traudl war wirklich unmöglich, denn sie genoss es, die Unangepasste, Unverschämte rauszuhängen, wobei sie eine überaus intelligente und gebildete Frau war. Rudolf Krohmer hatte seine Cousine Traudl noch nie verstanden, die bereits von klein auf schon so war: unangepasst, wahrheitsliebend, direkt und auch durchaus beleidigend. Ihre Eltern hatten es sehr schwer mit ihr. Er und seine Cousine waren quasi gemeinsam aufgewachsen und anfangs war es auch prima, mit ihr durch die Wälder zu ziehen und die dümmsten Dinge anzustellen. Sie war unter den Nachbarjungen sehr beliebt, bis sie älter wurden. Von da an wollte niemand mehr etwas mit Traudl zu tun haben und sie ging ihre eigenen Wege, während er selbst in die Tanzstunden ging und sich mit Mädchen traf. Traudl war anders, hatte schon immer ihren eigenen Kopf und ließ sich davon auch nicht abbringen. Aber sie war immer für ihn dagewesen und er konnte sich auf sie verlassen, obwohl sie ihm nicht nur peinlich war, sondern auch nach kurzer Zeit auf die Nerven ging. Zum Glück war sie mit ihrem Wohnmobil angereist und hauste nun auf dem Parkplatz der Polizeiinspektion Mühldorf, obwohl er ihr selbstverständlich ein Gästezimmer und auch die Einfahrt seines Hauses angeboten hatte. Aber Traudl hatte abgelehnt, ihr war die Nähe zu Menschen unheimlich und sie liebte ihre Freiheit. Außerdem mochte sie keine Kinder und konnte mit ihnen nicht umgehen, und da Rudolf und Filli Krohmer seit einigen Wochen ein 10-jähriges Kind, das Stiefkind ihrer verstorbenen Nichte Silke, im Hause aufgenommen hatten, verzichtete Traudl großzügig auf das Angebot ihres Cousins.
Krohmer tröstete sich damit, dass die Kollegin Untermaier nach den neuesten Informationen in spätestens 2 Wochen ihren Dienst wieder antreten konnte und dann hätte er seine Cousine wieder vom Hals.
„Sie sind wirklich die Cousine von unserem Chef?“ fragte Leo Schwartz während des gemeinsamen Mittagessens. Tatsächlich hatte sich die Information wie ein Lauffeuer herumgesprochen.
„Ja,“ sagte sie knapp und biss in ihr Schnitzel, von dem sie ein großes Stück abgeschnitten hatte und es nun zurückgelehnt aus der Hand aß. „Irgendein Problem damit?“
„Keineswegs. Mich wundert nur, dass weder Sie noch der Chef ein Wort darüber verloren haben. Ich weiß gerne, mit wem ich es zu tun habe, das ist alles. So wie Sie liebe ich auch die Wahrheit. Aber dieses Verwandtschaftsverhältnis taucht nirgends in den Berichten über Sie auf.“
„Sie haben sich über mich erkundigt?“
„Natürlich. Wie gesagt, weiß ich gerne, mit wem ich es zu tun habe. Warum ist das zwischen Ihnen und Krohmer so ein Geheimnis? Er hat sie noch nie erwähnt und wir haben Sie auch noch nie bei ihm gesehen, obwohl wir unseren Chef auch privat ab und an treffen.“
„Weil es nicht wichtig ist und niemanden etwas angeht,“ schnauzte sie nun. „Familie ist nun mal nicht mein Ding, das ist mir viel zu eng.“
Minutenlang herrschte Stillschweigen, bis Hans Hiebler die Stille unterbrach.
„Und Sie wohnen wirklich in einem Wohnmobil hier auf dem Parkplatz?“
„Ja. Ich liebe die Ruhe und meine Unabhängigkeit. Irgendwelche Probleme damit?“
„Nein, aber ich wundere mich, denn ich kann mir vorstellen, dass das vor allem für eine Frau sehr unbequem und unkomfortabel ist. Wenn ich an die kleinen Nasszellen denke, da passen doch die Kosmetikartikel einer Frau niemals rein, das reicht nicht mal für meine.“
„Mit welchen Püppchen haben Sie es denn sonst zu tun? Sagen Sie nichts, ich kann es mir schon vorstellen – hübsche, leblose Hüllen ohne Verstand. Ich kann mir schon vorstellen, dass Sie sogar mehr Kosmetikartikel besitzen als ich, als Gockel muss man sich nun mal aufplustern, ich habe das nicht nötig. Außerdem ist es meine Sache, wie ich lebe, das geht Sie überhaupt nichts an.“
„Und es ist meine Sache, wie ich mich pflege und mit welchen Frauen ich zusammen bin. Und dass eins klar ist: Das sind liebe Frauen und keine dummen Püppchen, das verbitte ich mir! Sie trampeln mit ihrer plumpen, derben Art und ihrem losen Mundwerk über alles und jeden hinweg, aber reagieren empfindlich, wenn es um Sie selber geht. Es war nur eine persönliche Frage. Sie nehmen doch auch kein Blatt vor den Mund und brauchen sich jetzt nicht so künstlich aufzuregen. Schließlich haben Sie sich ja auch ausführlich über uns informiert und uns diese Informationen gleich bei unserem ersten Zusammentreffen um die Ohren gehauen. Persönliche Fragen unsererseits dürfen wohl erlaubt sein, ohne dass Sie sofort ausflippen.“
Hans Hiebler war sauer auf die Frau, die nur zu gerne austeilte, aber scheinbar nicht einstecken konnte. Leo Schwartz und Werner Grössert hatten dem Streitgespräch der beiden interessiert und auch amüsiert zugehört, denn Hans Hiebler ließ sich nur selten dazu hinreißen, unfreundlich und laut zu werden, vor allem nicht Frauen gegenüber. Aber Frau Westenhuber hatte Hieblers Frauen beleidigt, und in dem Punkt war er sehr empfindlich. Jetzt starrten sie gebannt auf Frau Westenhuber, die erstaunlicherweise sehr ruhig geworden war.
„Respekt! Endlich sind Sie ehrlich und sagen, was Sie denken. Das mag ich sehr. Es tut mir leid, wenn ich Ihre Damen beleidigt haben sollte, das war nicht meine Absicht. Und ja, ich gebe zu, dass ich bei persönlichen Fragen vielleicht etwas empfindlich reagiere. Ich bin es nicht gewohnt, dass ich über mich spreche und mag es auch nicht. Ich weiß, dass ich nicht einfach bin und schieße ab und an übers Ziel hinaus. Aber glauben Sie mir, ich meine das nicht so. – Ich bin die Traudl.“
Sie reichte Hiebler die Hand und zu Leos und Werners Verwunderung nahm er sie an.
„Hans,“ sagte er nur knapp und musste sich ein Lächeln verkneifen. Er war sich sicher, dass unter dieser rauen Schale ein weicher Kern war und vielleicht war es für ihn irgendwann interessant, herauszufinden, was der Grund für die Härte war, mit der sich die Frau umgab.
„Alles wieder gut?“
„Passt schon.“
„Bier? Heute Abend 20.00 Uhr bei mir im Wohnmobil?“
„In dieser Blechdose? Auf keinen Fall! Ich hole dich ab und wir gehen in eine urige Kneipe.“
Frau Westenhuber nickte und widmete sich wieder ihrem Essen. Jetzt schwiegen sie und die Kollegen Schwartz und Grössert konnten kaum glauben, was sich eben vor ihren Augen abgespielt hatte. Mit wenigen gezielten Worten hatte er die Fassade der harten Frau Westenhuber für einen Moment angekratzt und sie aus der Reserve gelockt. Sie sprachen nun nur noch über belanglose Dinge, wobei sich die Atmosphäre zwischen ihnen etwas gelockert hatte. Dann machten sie sich wieder an die Arbeit.
„Hört mal alle her: Ich habe eben mit einem Mann gesprochen, der offenbar unseren Toten kennt!“ rief Leo Schwartz, während er den Telefonhörer auflegte.
„Dann nichts wie los,“ sagte Frau Westenhuber mit einem Schokoriegel in der Hand. „Sie und ich, Schwartz!“
Die Fahrt nach Kastl bei Altötting verlief schweigend. Waltraud Westenhuber aß einen weiteren Schokoriegel und Leo wusste nicht, über was er mit der Frau reden sollte.
„Mein Gott, überall sind diese dämlichen Rechts-vor-Links-Regelungen in diesen kleinen Käffern,“ stöhnte Waltraud Westenhuber genervt auf, als Leo den Wagen durch Kastl lenkte. „Warum kann man hier nicht einfach Vorfahrtsstraßen machen, wie in den Großstädten auch?“
„Kinder? Ältere Mitbürger? Daran schon mal gedacht? Außerdem gibt es in Dörfern nun mal keine Hauptstraßen. Ich liebe solche kleinen, idyllischen Orte, wo man aufeinander Rücksicht nimmt und sich noch kennt. Nur Geduld Frau Kollegin,“ sagte Leo mit einem Lächeln, während er demonstrativ anhielt und die alte Dame mit der Gehhilfe über die Straße ließ, „vielleicht sind wir beide in wenigen Jahren schon genau so dran und sind für jede Rücksicht dankbar.“
„O mein Gott, Sie sind einer dieser Weltverbesserer, die immer nur das Gute in allem sehen? Jetzt sagen Sie nur noch, dass sie die Natur lieben und alle möglichen Tiere sofort streicheln müssen?“
Leo lachte nur, denn er fand sich und seine Einstellung völlig in Ordnung und würde niemals daran etwas ändern wollen, während er Frau Westenhuber bedauerte. Sie sah offenbar immer nur das Schlechte und ahnte überall Böses, während ihr die schönen Dinge des Lebens durch die Finger glitten, sie nichts damit zu tun haben wollte, von ihr sogar nicht einmal wahrgenommen wurden. Sie war ungeduldig, wirkte gehetzt und machte sich einen Spaß daraus, andere vor den Kopf zu stoßen und auflaufen lassen, während sie sich selbst die Chance nahm, sich mit wertvollen, interessanten Menschen auszutauschen. Das zumindest war Leos vorläufige Meinung von der neuen Kollegin und er hätte nicht übel Lust, sich mit ihr auseinanderzusetzen. Jetzt in der momentanen Situation war dafür keine Zeit, aber er nahm sich vor, dies bei einem guten Glas Wein unbedingt irgendwann nachzuholen.
Sie fuhren an schmucken Einfamilienhäusern mit wunderschönen Vorgärten vorbei, bis sie schließlich ihr Ziel im Grenzweg 7 erreicht hatten. Sie standen vor einem Mehrfamilienhaus, das passend zur Umgebung gebaut wurde. Ein aufgeregter Mann Mitte 70 in Latzhose und Hut kam ihnen entgegen.
„Sind Sie von der Polizei? Max Schickl mein Name, ich habe Sie wegen dem Toten in der Zeitung angerufen,“ sagte er bemüht hochdeutsch mit einem tiefbayrischen Dialekt.
„Westenhuber, das ist mein Kollege Schwartz. Sie kennen den Toten?“
„Ja, ganz sicher. Das ist der Simon Rau, einer meiner Mieter. Ich habe ihn sofort erkannt. Mein Gott, was ist ihm denn zugestoßen?“
Herr Schickl war sehr aufgebracht und hielt den Akkuschrauber mit beiden Händen fest umklammert.
„An was arbeiten Sie denn?“ fragte Leo mit einem Blick auf den Akkuschrauber, den er selbst gerne gehabt hätte und sich aber bislang nicht leistete – er kostete ein Vermögen. Er wollte die Situation entspannen, denn er hatte oft mit Menschen zu tun, die noch niemals mit der Polizei auch nur annähernd in Berührung gekommen waren. Für ihn war es selbstverständlich, das Gespräch mit dem aufgeregten alten Mann ruhig angehen zu lassen und ihn dadurch zu beruhigen.
„Ich repariere den Zaun da vorn an der Straße. Es gibt ja immer etwas zu tun, die Arbeit hört nicht auf.“
Was sollte das Geplänkel? Wen interessiert, was der Alte hier arbeitete? Welche Strategie verfolgt dieser Schwartz? Hoffte er so, an vertrauliche Informationen ranzukommen? Leo Schwartz und dieser alte Mann unterhielten sich noch einige Minuten, aber Waltraud Westenhuber ging das Geplauder fürchterlich auf die Nerven und kam auf den Kern der Sache zurück.
„Was können Sie uns über Herrn Rau sagen?“
„Ein sehr höflicher, freundlicher, ordentlicher und auch hilfsbereiter Mann, obwohl er mit seinen vielen Tätowierungen ziemlich wild aussah und sich die Nachbarn anfangs ganz schön erschreckt haben. Aber sie haben sich alle gut mit ihm verstanden. Er hat seine Miete immer pünktlich bezahlt und es gab nie Ärger mit ihm. Da habe ich schon ganz andere Dinge erlebt, ich könnte Ihnen Geschichten erzählen…“
„Die interessieren uns nicht, wir sind nur wegen Herrn Rau hier,“ sagte Frau Westenhuber genervt. Was war los mit ihr? Leo ärgerte sich über die Frau, von der er eigentlich viel mehr Feingefühl erwartet hätte. Was war denn dabei, sich menschlich auf netter, ungezwungener Ebene mit dem Mann zu unterhalten?
„Der Simon hat mir günstig Brennholz besorgt, denn die Preise sind in den letzten Jahren dermaßen gestiegen, dass man sich das beinahe nicht mehr leisten kann. Außerdem ging er mir oft zur Hand, schließlich kann ich in meinem Alter nicht mehr alles alleine machen. Und wie gesagt, geht bei so einem Haus die Arbeit nie aus. Schon allein die Pflege des Gartens, des Grundstücks und dann auch noch die Hausmeisterarbeiten.“ Er sah den genervten Blick von Frau Westenhuber. „Der Simon war ein feiner Kerl und ich lasse nichts auf ihn kommen. Was ist ihm denn nun zugestoßen?“
„Wir können Ihnen leider lediglich mitteilen, dass er ermordet wurde. Details müssen wir aus ermittlungstechnischen Gründen noch zurückhalten.“
„Er wurde ermordet?“ rief er erschrocken und trat einen Schritt zurück. „Hier bei uns? Wer tut denn so was?“
„Um das herauszufinden, sind wir hier. Wo hatte Herr Rau gearbeitet?“
Leo mochte diesen alten Mann sofort, er erinnerte ihn an seinen Opa, der auch immer in diesen Latzhosen rumlief und immer irgendwo zu arbeiten hatte.
„Im Sägewerk Krug in Unterneukirchen. Er war ganz neu hier in der Gegend und hatte dort seine Arbeit gerade angefangen, als ich ihm vor einem halben Jahr die Wohnung hier vermietet habe. Das tut mir so leid mit dem Simon, ich kann das noch gar nicht glauben, so ein junger Mensch. Ich muss sofort meiner Ilse davon erzählen, die fällt aus allen Wolken.“
Leo machte sich eifrig Notizen, Frau Westenhuber tat nichts dergleichen.
„Haben Sie Zugang zu der Wohnung von Herrn Rau?“
„Selbstverständlich habe ich von allen 6 Wohnungen einen Schlüssel. Schon allein deshalb, falls sich mal jemand aussperrt, und das kommt öfters vor, als Sie denken. Sie können sich nicht vorstellen, was ein Schlüsseldienst in einer Notlage verlangt, das ist der reinste Wucher. Aber ich habe diese Schlüssel niemals gesetzwidrig eingesetzt und bin einfach in die Wohnungen reingegangen, das habe ich niemals gemacht, Ehrenwort.“
„Das glaube ich Ihnen sofort,“ sagte Frau Westenhuber sarkastisch, was der Zeuge Schickl zum Glück nicht zu bemerken schien, denn er ging ihnen voraus, wobei er immer noch den Akkuschrauber in einer Hand hielt. Sie folgten ihm.
„Das ganze Haus gehört Ihnen Herr Schickl?“
„Ja. Eine Geldanlage und auch Altersvorsorge. Meiner Frau und mir gehörte der Grund, als er Bauland wurde. Früher waren das hier alles Äcker und Wiesen. Können Sie sich das vorstellen? Davon ist jetzt nichts mehr zu sehen. Wegen dem Werk in Gendorf wurde Bauland gebraucht, die Arbeiter wollen ja schließlich auch irgendwo leben. Die Kastler Gemeindevertreter haben schnell reagiert und entsprechendes Bauland ausgewiesen, das günstig angeboten wurde. Aus unserem Kastl ist in den letzten 30 Jahren ein hübscher Ort geworden, früher standen hier nur wenige Häuser und es war hier nicht viel los. Aber jetzt haben wir schon weit über 2.000 Einwohner, dazu viele Vereine und Aktivitäten übers ganze Jahr verteilt.“ Max Schickl war sehr stolz auf Kastl und dessen Entwicklung. „Wir als Landwirte müssen später auch von etwas leben; mit dem bisschen Rente kommt man kaum über die Runden. Deshalb haben wir vor 12 Jahren das Haus hier auf unserem Grund gebaut und die Wohnungen vermietet. Unser Neffe hat uns dazu geraten, er arbeitet in Altötting bei der Bank. Wissen Sie, meine Frau und ich haben keine Kinder und er bekommt das später natürlich von uns, wenn wir nicht mehr sind. Nicht, dass Sie glauben, dass unser Neffe einer dieser Erbschleicher ist. Nein, er ist immer nur auf unser Wohl bedacht und besucht uns schon von klein auf regelmäßig, er ist ein guter Junge. Und er hatte absolut Recht mit dieser Geldanlage, von der wir nun in unserem Alter sehr gut leben können.“
Max Schickl sagte das nicht ohne einen gewissen Stolz und er konnte auch stolz darauf sein, denn solch ein Vorhaben war für ihn in seinem Alter bestimmt nicht leicht gewesen. Leo war schwer beeindruckt, denn die Verwaltung, Pflege und auch die Verantwortung waren nicht leicht für einen Mann Mitte 70. Waltraud Westenhuber sagte nichts dazu, ihr war das, was Herr Schickl von sich gab völlig egal, soweit es nicht ihren Fall betraf. Herr Schickl sperrte die Tür einer Wohnung im Erdgeschoss auf.
„Ich lasse Sie nun allein. Wenn Sie mich noch brauchen, finden Sie mich draußen am Zaun. Ich muss heute noch fertig werden, sonst schimpft meine Frau,“ sagte er mit einem Augenzwinkern.
Sie sahen sich in der kleinen 2-Zimmer-Wohnung um und waren überrascht von der modernen Einrichtung und der Sauberkeit. Leo reichte seiner Kollegin ein paar Handschuhe, aber diese hatte ihre bereits übergezogen und machte sich an die erste Schublade im Wohnzimmerschrank.
„Ich habe nichts Besonderes gefunden, überlassen wir den Rest der Spurensicherung. Fuchs wird sich freuen,“ sagte Waltraud Westenhuber und Leo, der ebenfalls nichts gefunden hatte, stimmte ihr zu.
„Wissen Sie, was mich stutzig macht? Dieser Rau hatte alle möglichen technischen Geräte. Alles vom Feinsten, aber keinen Laptop oder Computer.“
„Vielleicht hatte er ihn dabei? Haben Sie Hinweise auf einen Wagen gefunden?“
„In einer Jackentasche habe ich einen Brief der Kfz-Versicherung gefunden. Ich habe eben mit Hans telefoniert, das Fahrzeug ist bereits in der Fahndung.“
„Ansonsten sind hier keine weiteren Unterlagen, ich habe keinen Aktenordner und nicht ein Schriftstück gefunden. Sie etwa?“
Frau Westenhuber schüttelte den Kopf. Auch ihr kam das alles hier viel zu sauber und ordentlich vor – die Sache stank und gefiel ihr überhaupt nicht. Sie versiegelten die Tür und suchten nach Herrn Schickl, der wahrscheinlich immer noch am Zaun arbeitete.
„Warten Sie Herr Schickl, ich helfe Ihnen,“ rief Leo, als er sah, dass der alte Mann ein schweres Brett alleine von einem Lieferwagen zog.
„Das ist aber wirklich nett von Ihnen,“ freute er sich. „Vielen Dank! Das Brett legen wir am besten einfach hier an die Seite.“
„Haben Sie den Wagen von Herrn Rau gesehen?“
„Normalerweise parkt er ihn direkt hier an der Straße, obwohl er eine Garage hat.“
„Eine Garage? Wo ist die?“ fragte Frau Westenhuber sofort, der das Gequatsche des alten Mannes allmählich zu viel wurde. Das war einer der Punkte, die sie am Landleben nicht mochte. Hier unterhielt man sich miteinander und interessierte sich für alles und jeden. Sie hingegen liebte die Anonymität der Großstadt und die Tatsache, dass sie niemanden kannte und sich auch niemand für sie interessierte.
„Gleich hier drüben, ich zeige sie Ihnen. Zu jeder Wohnung gehört eine Garage, darauf hat meine Frau sehr viel Wert gelegt, obwohl wir uns die Kosten auch hätten sparen können, denn gesetzlich wären wir dazu nicht verpflichtet gewesen. Aber meine Frau meint, Garagen gehören dazu. Und was soll ich sagen? Sie hatte natürlich wie immer Recht, denn meine Mieter sind sehr froh darüber. Hier sind wir schon, das ist die Garage vom Simon.“
„Lassen Sie mich raten: Auch hierfür haben Sie bestimmt einen Schlüssel, den Sie noch niemals benutzt haben?“ fragte Frau Westenhuber. Herr Schickl antwortete nicht, sondern sah sie nur an und reichte ihr einen Schlüssel.
Leo sperrte auf und drehte an dem Knauf.
„Donnerwetter,“ rief Leo aus, „da hat Fuchs ja richtig viel zu tun.“
Die Garage war voller Kartons, bis unters Dach stapelten sich neuwertige Kartons in beinahe allen Größen.
„Was ist da drin?“ wollte Frau Westenhuber vom überraschten Herrn Schickl wissen.
„Das weiß ich doch nicht und das geht mich auch nichts an. Die Garage gehört zur Wohnung, was darin aufbewahrt wird, ist allein Sache des Mieters.“
„Kommen Sie schon, Sie wissen doch bestimmt, was da drin ist. In so einem kleinen Kaff wie Kastl weiß doch jeder alles von jedem. Und ich könnte mir vorstellen, dass Sie vielleicht schon den einen oder anderen Blick da reingeworfen haben,“ sagte sie mit einem sarkastischen Unterton.
„Hören Sie junge Frau,“ sagte Max Schickl nun aufgebracht, „ich habe die Polizei gerufen, weil ich den Toten in der Zeitung erkannt habe. Sie sind mir gegenüber von Anfang an feindselig eingestellt und glauben Sie ja nicht, dass ich Ihren unterschwelligen Ton nicht bemerke. Ich habe Ihnen nichts getan und verbitte mir, dass Sie in diesem Ton weiter mit mir sprechen und mir irgendetwas unterstellen wollen. Ich war niemals in Simons Wohnung ohne dessen Wissen und ich habe auch zu keiner Zeit einen Blick in seine Garage oder gar in die Kartons geworfen. Wenn Sie mich entschuldigen, ich muss mich wieder an die Arbeit machen.“
„Das ist ja ein Herzchen,“ sagte Frau Westenhuber nun deutlich freundlicher, „der ist vielleicht empfindlich, jetzt ist er auch noch beleidigt. Bin ich wirklich so schlimm, wie der Mann behauptet?“
„Noch viel schlimmer. Sie sind unfreundlich, patzig und haben einen Ton drauf, der einem die Arbeit wirklich nicht gerade erleichtert. Sie sind in Ihrer Art sehr direkt und ich glaube, dass Sie Spaß daran haben, andere vor den Kopf zu stoßen. Ich will nicht wissen, welche Laus Ihnen über die Leber gelaufen ist, denn ich finde Sie heute besonders unausstehlich. Können Sie denn nicht verstehen, wie sich dieser alte Mann fühlen muss? Er ist ein braver, unbescholtener, fleißiger und bestimmt auch rechtschaffener Mann, der durch die Situation völlig überfordert ist. Und Sie bombardieren ihn mit ihren Vorwürfen, reagieren genervt, sind unfreundlich und beleidigend. Ich verstehe Sie nicht und finde Sie echt unmöglich!“ Leo wollte sich eigentlich ihr gegenüber zurücknehmen, aber sie war heute besonders ätzend und er beschloss, ihr seine Meinung zu sagen, egal welche Konsequenzen er zu erwarten hätte. Anfangs fand er die Frau echt toll, aber seine Meinung hatte er zwischenzeitlich grundlegend geändert. Diese Frau Westenhuber war echt unmöglich.
„Ach was, das ist mir überhaupt nicht aufgefallen. In Zukunft möchte ich, dass Sie mich umgehend darauf hinweisen, verstanden?“
Jetzt musste Leo schmunzeln, denn diese Frau konnte offene Worte und Kritik wirklich sehr gut vertragen, das musste man ihr lassen. Er öffnete einen der Kartons und holte einige alte Zeitungen hervor, ansonsten war der Karton leer. Dann nahm er sich den nächsten, auch hier waren nur einige Zeitschriften enthalten.
„Was soll das?“ Leo öffnete weitere Kartons, und auch hier wieder das gleiche Spiel. „Warum zum Teufel sind in den Kartons nur ein paar Zeitungen drin?“
„Lassen Sie es gut sein Schwartz, das sind zu viele, denn das geht bis hinten durch, soweit ich das sehen kann. Überlassen wir das dem Fuchs, der wird sich freuen, wenn er sich da durchwühlen kann und vielleicht sogar herausbekommt, was Simon Rau damit bezwecken wollte.“
Auf dem Weg zum Wagen kamen sie an Herrn Schickl vorbei, der sie keines Blickes würdigte.
„Tut mir leid Herr Schickl, ich meinte das vorhin nicht persönlich. Das ist heute nicht mein Tag.“
„Passt scho!“ antwortete Herr Schickl, womit die Sache für ihn erledigt war.
Wenig später bogen die beiden auf das Firmengelände des Sägewerks Krug in Unterneukirchen ein. Es herrschte reges Treiben und sie mussten aufpassen, dass sie, nachdem sie den Wagen geparkt hatten und nun zu Fuß über das Gelände liefen, nicht vom Gabelstapler oder Transportern überfahren wurden. Sie betraten das Büro, wo sie von einer freundlichen Frau Mitte 40 empfangen wurden.
„Grüß Gott. Kann ich Ihnen helfen?“
„Mein Name ist Westenhuber, das ist mein Kollege Schwartz, Kripo Mühldorf. Wir würden gerne den Geschäftsführer sprechen.“
„Das bin ich, Annemarie Krug mein Name, mir gehört das Sägewerk. Um was geht es?“
„Es geht um Ihren Mitarbeiter Simon Rau, wir haben ihn tot aufgefunden.“
„Der Simon ist tot?“ rief sie erschrocken. „Mein Gott, ich habe ihn heute bei der Arbeit vermisst und war stinksauer, denn wir haben Terminaufträge, die keinen Aufschub erlauben. Eigentlich ist der Simon immer pünktlich und zuverlässig. Ich dachte, er hat verschlafen oder macht einfach mal blau, aber wer rechnet denn damit?“
„Wir haben heute ein Foto des Toten in der Zeitung veröffentlicht, haben Sie ihn nicht erkannt?“
„Ich bin noch nicht dazugekommen, die Zeitung zu lesen, das mache ich immer mittags.“ Sie nahm die Zeitung von der Fensterbank, blätterte darin und starrte erschrocken auf das Foto. „Um Gottes Willen, wie sieht der denn aus? Was ist passiert?“
„Er wurde ermordet. Wir haben ihn in Burgkirchen aus der Alz gezogen.“
„Ermordet?“ schrie sich nun und setzte sich auf den alten Bürostuhl. Sie zitterte am ganzen Körper und Leo holte ihr aus der angrenzenden Küche ein Glas Wasser, das sie dankend annahm.
„Hatte er irgendwelche Feinde, gab es Ärger mit Kollegen oder Kunden?“
„Aber nein. Der Simon war immer freundlich, sehr fleißig, manchmal vielleicht etwas übereifrig. Aber Ärger hatte er nie. Er war immer ruhig und ausgeglichen, ging jedem Streit aus dem Weg. Wissen Sie, in unserer Branche geht es schon mal ein wenig ruppiger zu, aber der Simon war ein feiner Mensch, sehr gebildet und auch sehr gepflegt.“
„Was genau war seine Arbeit?“
„Hauptsächlich hat er mich hier im Büro unterstützt. Außerdem hat er Holzlieferungen angenommen und geprüft; das wollte er unbedingt machen. Er hat mich damals geradezu zu der Arbeit überredet, da er eine Forstausbildung hatte und sich mit Holz auskannte. Außerdem war er für die Auslieferungen zuständig. Er war sehr gut und auch gründlich in seiner Arbeit, wobei er immer persönlich alle Holzlieferungen an- und abgenommen hat, zu jeder Tages- und Nachtzeit, das ließ er sich nicht nehmen. Der Simon ist seit knapp einem halben Jahr bei uns und hatte noch keinen Tag Urlaub. Er sprang sogar jederzeit für Kollegen ein, ohne zu murren. Immer wieder habe ich versucht, ihn dazu zu überreden, doch endlich Urlaub zu nehmen, was er aber stets abgelehnt hatte. Es ist eine Katastrophe für mich, dass der Simon tot ist. Sie können sich nicht vorstellen, wie sehr er mich entlastet hat. So einen Arbeiter bekomme ich nie wieder.“
Frau Krug weinte und kramte ein Taschentuch aus ihrer Hosentasche, das Ganze nahm sie sichtlich mit.
„Haben Sie je bei Herrn Rau einen Laptop, ein Handy oder dergleichen gesehen?“
„Er hatte ein Handy, das weiß ich ganz sicher. Ich habe mehrfach beobachtet, wie er telefoniert hat. Aber ob er einen Laptop hatte, weiß ich nicht.“
Bezüglich der vorgefundenen Kartons in Raus Garage wollten sie Frau Krug noch nicht befragen, denn schließlich kannten sie den Inhalt und Umfang selbst noch nicht.
„War Simon Rau mit irgendjemandem befreundet? Vielleicht sogar mit einem Ihrer Mitarbeiter? Hat ihn jemand hier besucht, abgeholt oder gab es irgendwelche privaten Telefonate?“
„Nein, nichts dergleichen. Ich habe hier mit der Firma genug zu tun, private Dinge meiner Arbeiter interessieren mich nicht.“
„Hatte Herr Rau einen Spind?“
„Natürlich, wie alle hier, das ist Vorschrift. Kommen Sie mit.“
Sie nahm das Telefon mit und sie folgten ihr über den Hof in ein angrenzendes Gebäude, in dem neben verschiedenen Maschinen und Geräte auch der Aufenthaltsraum, ein Waschraum mit 2 Duschen und eine Umkleide untergebracht waren; alles sehr sauber, ordentlich und noch ziemlich neu.
„Bitte, der hier gehört dem Simon. Er ist nicht verschlossen, meine Jungs brauchen ihre Sachen nicht einzuschließen, hier kommt nichts weg.“
Frau Krugs Telefon klingelte und während sie sprach, durchsuchte Leo die wenigen Habseligkeiten in Raus Spind. Außer einer Jacke, ein paar Sicherheitsschuhen und einem Buch war nichts weiter darin. Leo klebte trotzdem ein Polizeisiegel auf die Tür, die Spurensicherung sollte sich den Spind ebenfalls vornehmen.
„Hatte Herr Rau einen Wagen?“
„Ja sicher. Aber der ist nicht hier auf dem Hof, Simon ist gestern damit nach Hause gefahren.“
„Wir hätten gerne die Personalakte von Herrn Rau. Und dann müssen wir uns natürlich mit Ihren Mitarbeitern unterhalten.“
„Es ist jetzt gleich Mittag. Wenn Sie wollen, können Sie hier im Aufenthaltsraum auf die Jungs warten, ich bringe Ihnen die Personalakte.“
Leo beobachtete, wie Frau Krug vor dem Büro mit einem ihrer Angestellten sprach.
Waltraud Westenhuber und Leo Schwartz mussten tatsächlich nicht lange warten, pünktlich um 12.00 Uhr kamen die fünf Mitarbeiter, die sie einen nach dem anderen befragten. Alle waren bestürzt über die Todesnachricht, aber keiner kannte Simon Rau näher oder hatte privat mit ihm zu tun.
„Der Simon war noch nicht lange bei uns, und er war ein Reingschmeckter,“ sagte Kurt Schmidt, der einen fürchterlichen Dialekt sprach und deshalb von Frau Westenhuber befragt wurde. „Der hat uns aber allen schon mal geholfen und eine Schicht übernommen, deshalb haben wir ihn akzeptiert und er gehörte schnell zu uns. Aber genauer gekannt habe ich ihn nicht, wir sind über das Geschäftliche nie drüber raus.“
„Herr Rau kam nicht von hier?“
„Nein, der hat sich zwar bemüht, bayrisch zu sprechen, aber an manchen Ausdrücken hat man gemerkt, dass der nicht von hier ist.“
„Haben Sie ihn nicht gefragt, woher er kommt? Was er vorher gemacht hat? Wie er lebt? Interessiert man sich nicht näher für Kollegen, mit denen man zusammenarbeitet?“
„Nein, warum auch? Es hat mich nicht interessiert. Beruflich sind wir gut zurechtgekommen. Der Simon hat eigentlich mehr im Büro gearbeitet, er verstand viel vom Papierkram, mit dem von uns keiner etwas zu tun haben möchte. Aber er war ein guter Kollege, der, wie gesagt, auch schon für mich eingesprungen ist. Aber privat hatte ich mit ihm nie etwas zu tun. Ich will Ihnen mal was erklären, Frau Kommissar: Wir arbeiten den ganzen Tag in einem Höllenlärm und dazu auch noch im Dreck, da ist man froh, wenn man zur Mittagspause seine Ruhe hat. Man isst, liest Zeitung oder legt sich auch mal hin, einen ruhigen Platz findet man hier schon irgendwo. Nehmen Sie meinen Kollegen den Sepp, wir kommen aus dem gleichen Ort und arbeiten auch noch zusammen. Trotzdem unterhalten wir uns nicht über irgendetwas Persönliches, es interessiert uns einfach nicht, auch wenn Sie sich das vor allem als Frau vielleicht nicht vorstellen können.“ Natürlich konnte sich Waltraud Westenhuber das vorstellen, denn sie interessierte sich auch nicht für die privaten Dinge ihrer Kollegen und vermied es, sich irgendwelchen Tratsch anzuhören. Trotzdem schnappt man doch das eine oder andere auf, ob man nun wollte, oder nicht. Aber hier war es doch eher so, dass sich jeder nur um sich selbst kümmerte; ob nun regional bedingt oder speziell in diesem Sägewerk.
Die Beamten ließen die Arbeiter in Ruhe, denn sie hatten sich ihre Mittagspause redlich verdient. Frau Krug hatte die Personalunterlagen noch nicht gebracht und deshalb gingen sie nochmals ins Büro, wo sie die Frau mit hochrotem Kopf bei der Manipulation der Personalakte Rau erwischten.
„Was zum Teufel machen Sie denn da? Sind Sie verrückt geworden?“ schrie Frau Westenhuber aufgebracht und entriss ihr die Akte.
„Ich wollte doch nur…“ stammelte sie.
„Was wollten Sie? Los, raus mit der Sprache. Und erzählen Sie ja keinen Blödsinn, ich will nur die reine Wahrheit hören, sonst nehme ich Sie umgehend fest und Sie werden mich von einer sehr unangenehmen Seite kennenlernen.“ Waldtraud Westenhuber war stinksauer und die Drohung wirkte.
„Der Firma geht es nicht gut, die Osteuropäer machen mit ihren Preisen den Markt kaputt und wir müssen sparen, wo wir nur können. Was glauben Sie, was der Neubau drüben gekostet hat? Die Berufsgenossenschaft hat uns gezwungen, die Sozialräume zu bauen, sonst hätten die den Laden einfach zugemacht. Wo ich das Geld dafür hernehme, ist denen doch völlig egal. Und natürlich wird mir vorgeschrieben, dass ich meinen Leuten den Tariflohn bezahle, was ich aber nicht immer kann. Also haben wir die Arbeitsverträge ordnungsgemäß mit dem Tariflohn ausgestellt, bezahlt habe ich aber weniger. Alles habe ich bar bezahlt und meine Jungs haben quittiert. Die Sozialabgaben habe ich aber immer ordnungsgemäß abgeführt, das können Sie überprüfen.“ Sie sah hektisch von Traudl Westenhuber zu Leo Schwartz und schien auf eine Bestätigung oder irgendein Wort zu warten.
„Fahren Sie bitte fort, Frau Krug. Ganz ruhig, wir reißen Ihnen den Kopf schon nicht ab,“ sagte Leo mit einem Lächeln, worüber Frau Krug überaus dankbar war.
„Natürlich weiß ich, dass das nicht legal war und meine Leute schlechter bezahlt wurden, als ihnen zustand. Aber dafür durften die Jungs das Abschnittholz mitnehmen und als Brennholz weiterverkaufen, auch von dem angelieferten Brennholz, das von den Kunden nicht mitgenommen wurde, durften sie sich nehmen, so viel sie wollten. Natürlich ist das keine Entschuldigung und ich möchte mich auch nicht rausreden, aber meine Leute waren damit einverstanden und wir kamen prima über die Runden. Ich wollte doch nur die quittierten Auszahlungen an Simon korrigieren und dem Tariflohn anpassen, mehr nicht.“
„Wir sind hier doch nicht auf einem türkischen Basar, wo man einfach so bezahlen kann, wie man will. Hierfür gibt es Gesetze und Vorschriften, an die Sie sich zu halten haben,“ schnauzte Traudl Westenhuber. „Vor allem darf man nicht einfach so Unterlagen frisieren! Wo kommen wir denn da hin, wenn man sich alles so zurecht schneidert, wie es einem gerade passt.“
„Das weiß ich ja auch und es tut mir wirklich leid. Sehen Sie mich nicht so vorwurfsvoll an, ich muss mit meinem kleinen Betrieb sehen, wo ich bleibe. Ich mache, was ich kann. Mein Mann hat mich vor zwei Jahren verlassen, bis dahin hatte ich mit der Firma nicht das Geringste zu tun, obwohl ich das Sägewerk von meinen Eltern geerbt hatte. Mein Mann hatte damals bei meinem Vater gelernt und als wir heirateten, war es klar, dass er die Führung des Betriebes übernimmt. Und vor zwei Jahren stand ich dann da: Allein mit einem Haus, das noch nicht abbezahlt ist und mit einer Firma, die nur wenig abwarf. Übrigens ein Zustand, an dem sich bis heute nicht viel geändert hat. Ich hatte keine Ahnung von der Firma und musste alles mühsam lernen. Wenn ich ehrlich bin, verstehe ich bis heute noch nicht viel von Holz und verlasse mich voll und ganz auf meine Mitarbeiter, die teilweise schon Jahrzehnte hier arbeiten, ohne sie wäre ich verloren oder hätte schon längst alles hingeschmissen. Als der Simon vor einem halben Jahr hier einfach auf der Matte stand und sich beworben hat, dachte ich, den schickt der Himmel. Er hat mir geduldig Nachhilfe in Büroarbeiten gegeben, da habe ich immer noch ganz schöne Defizite. Ich habe den Beruf nun mal nicht gelernt, ich bin gelernte Floristin und hatte noch nie viel für Büroarbeiten übrig.“
„Warum haben Sie den Betrieb nicht einfach verkauft?“
„Weil er zum einen nicht viel wert ist, und zum anderen habe ich eine Verantwortung meinen Mitarbeitern gegenüber. Was wird aus denen? Einige sind schon weit über Fünfzig, die stehen doch auf der Straße. Einer hat keinen Schulabschluss und ist auch nicht gerade der Hellste, aber er ist fleißig und zuverlässig; was wird aus ihm? Nein, zu verkaufen wäre zu einfach. Man übernimmt mit so einem Betrieb nicht nur die Möglichkeit, damit Geld zu verdienen. Man hat auch eine Verantwortung, der ich mich nicht entziehen kann und auch nicht möchte. Wissen Sie, ich möchte morgens in den Spiegel sehen können, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben. Natürlich würde ich meinen Leuten gerne zumindest den Tariflohn bezahlen, aber ich kann es nicht, sonst müsste ich Mitarbeiter entlassen und würde dann auch nicht mehr den Umsatz erzielen. Wer macht denn dann die Arbeit? Ich weiß, dass das mit den Arbeitsverträgen illegal ist, aber wir sind bis jetzt ganz gut damit gefahren und alle waren glücklich.“
Obwohl das Ganze tatsächlich illegal war und zur Anzeige gebracht werden musste, hatte Leo ein wenig Verständnis für sie und ihre Lage.
„Wir werden das prüfen,“ sagte Leo nur knapp und griff seiner Kollegin vor, die gerade Luft holte. Leo war sich sicher, dass sie gerade zu einer Standpauke ansetzen wollte und das brachte jetzt auch nichts.
„Trotzdem werden wir die Akte mitnehmen. Gibt es bei Ihnen auf dem Firmengelände Überwachungskameras?“
„Nein. Wie gesagt, ist hier noch nie etwas wegekommen, wir leben auf dem Land und wir vertrauen einander. Früher hatten wir über Nacht einen Hund auf dem Gelände, aber der war so brav und ängstlich, der hätte niemandem etwas getan. Nach seinem Tod wollte ich mir keinen neuen mehr anschaffen, ich habe auch so schon genug Arbeit. Außerdem halte ich für die Lkw-Anlieferungen und auch für meine Männer das Firmengelände Tag und Nacht offen.“
„Wenn Ihnen noch etwas einfällt, hier ist meine Karte.“
„Sie haben sich von der Frau einfach um den Finger wickeln lassen. Wo gibt es denn so was, dass man vor unseren Augen die Personalakte frisiert? Glauben Sie wirklich, dass es der Firma nicht gut geht? Ich kann mir das nicht vorstellen. Wenn ich im Baumarkt ein Brett kaufe, kostet das ein Vermögen, bei Holz ist die Gewinnspanne enorm. Ich kenne diese Sorte Menschen, die den ganzen Tag über nur am Jammern sind und dabei jede Menge Geld scheffeln.“
Leo ließ sie reden, ging nicht darauf ein und hörte irgendwann auch nicht mehr zu. Er würde die Angaben von Frau Krug prüfen und war sich sicher, dass sie ihnen gegenüber ehrlich war. Was wussten sie als Beamte schon von den wirtschaftlichen Problemen von Unternehmen?
Die Mittagspause verbrachte Leo mit Hiebler allein, da Frau Westenhuber joggen war und Grössert etwas anderes vorhatte.
„Was ist eigentlich mit Werner los? Einerseits grinst er immer wieder vor sich hin, andererseits ist er völlig in Gedanken versunken,“ sagte Leo, als er in die fade Lasagne gabelte. „Mit dem stimmt doch etwas nicht.“
„Ist mir auch schon aufgefallen,“ sagte Hiebler mit vollem Mund, vor dem ein phantastisch duftendes Gulasch stand und er damit die deutlich bessere Wahl getroffen hatte. „Sollen wir mit ihm reden?“
„Nein. Der erzählt nicht viel von sich und würde es uns übel nehmen, wenn wir ihn darauf ansprechen.“
„Trotzdem interessiert es mich brennend, was ihn beschäftigt. Ich gebe ihm noch zwei Tage, dann werde ich mich an seine Fersen heften. Es wäre doch gelacht, wenn ich nicht rausbekomme, was mit ihm los ist.“ Hans Hiebler kannte seinen Kollegen Grössert schon von viele Jahre und mochte ihn sehr. Er benahm sich anders als sonst. Hiebler machte sich Sorgen.
Frau Gutbrod saß nicht weit entfernt, ein dicker Kollege versperrte ihr zwar die Sicht, aber sie konnte die Unterhaltung klar und deutlich verfolgen. Sehr interessant, mit Werner Grössert war scheinbar etwas los und die Kollegen Schwartz und Hiebler interessierten sich dafür und machten sich Sorgen. Sie musste unbedingt helfen, denn Hans Hiebler war es zu verdanken, dass ihre Nichte Karin die letzten Wochen eisern Fahrstunden bekam und dadurch nicht nur vorsichtiger, sondern auch viel sicherer fuhr. Schon lange suchte sie nach einer Möglichkeit, wie sie sich bei Hans Hiebler für seine aufopfernde Hilfe revanchieren konnte. Und voilà: Hier bekam sie diese auf dem Silbertablett.
Sie aß auf und machte sich umgehend an die Arbeit, Grössert durfte sie fortan nicht mehr aus den Augen lassen! Sie würde binnen kürzester Zeit herausbekommen, was mit ihm los war und dann Hans Hiebler informieren…
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