Der 47. Fall aus der Leo-Schwartz-Krimireihe
1.
Samstag, 30. März gegen 3 Uhr nachts…
Er stellte seinen Wagen auf der alten Grenzbrücke im oberbayerischen Burghausen ab, stieg aus und sah sich um. Alles war ruhig, es war niemand zu sehen. Der helle Mond störte, aber daran war nichts zu ändern. Nur die unter der Brücke durchfließende Salzach gab ein monotones Geräusch von sich, was er so nicht erwartet hatte. Aufgrund der vielen Niederschläge der letzten Tage wurde Hochwasser vorhergesagt, wovon nicht viel zu sehen war. Ja, der Wasserpegel war hoch, aber noch nicht zu hoch – für ihn war alles perfekt.
Unschlüssig stand er vor dem Kofferraum und sah sich nochmals um. Noch zögerte er, aber er hatte keine Wahl, er musste sein Vorhaben umsetzen. Was sollte er sonst mit der Leiche machen? Alles war perfekt durchdacht. Obwohl er bis vorhin noch relativ ruhig war, begann er jetzt zu zittern, schließlich entsorgte er nicht jeden Tag eine Leiche. Er hatte fest zugeschlagen. Sie schrie wahnsinnig laut, während sie vor ihm lag. Er hob sie hoch und sie schrie noch lauter. Um sie mundtot zu machen, würgte er sie, wobei er zu lange und zu fest zudrückte. Sie sank zu Boden. Einfach so. Er hatte sofort gemerkt, dass sie tot war, trotzdem fühlte er ihren Puls. Sie war tatsächlich tot, es war so einfach. Ob sie jemand vermisste? Sie hatte keine Familie, die Freundschaften waren nur oberflächlich. Sie galt als flatterhaft und spontan, weshalb ihr Verschwinden so schnell nicht bemerkt werden würde, was ihm sehr entgegenkam. Auch das war alles geradezu perfekt. Jetzt musste er nur noch ihre Leiche entsorgen und er hatte ein Problem weniger.
Noch einmal blickte er sich um, ob in einem der Fenster in Burghausen Licht brannte oder von irgendwoher Scheinwerfer sichtbar waren. Aber da war nichts. Dasselbe war auf österreichischer Seite. Perfekter konnte der Moment nicht sein!
Er atmete tief durch, öffnete den Kofferraum und nahm das schwere Bündel heraus, was eine riesige Kraftanstrengung war. Obwohl er kein Schwächling war und immer Sport machte, war das hier nur schwer zu bewältigen. Er schaffte es, die Last über das Brückengeländer zu hieven. Er ging zurück, holte Waschbetonplatten, umwickelte sie mit Packband und brachte sie an dem Bündel an, dessen schwarze Folie im Mondlicht glitzerte. Durch die Kälte der Nacht raschelte sie auch noch, was ihn noch nervöser werden ließ. Hektisch vollendete er sein Werk, da er befürchtete, dass er doch noch entdeckt werden würde. Aber alles blieb ruhig. Er schwitzte und zitterte, als er der ersten der drei Waschbetonplatten einen Schubs gab. Jetzt musste alles sehr schnell gehen, bevor die Leiche ohne die beiden anderen Steine vorzeitig ins Wasser fiel. Hektisch schubste er auch die anderen drei Waschbetonplatten kurz hintereinander über die Brüstung. Das Gewicht zog die eingewickelte Leiche mit sich, hier brauchte er nichts mehr tun. Er sah zu, wie die Leiche mit einem Ruck in die Salzach platschte und unterging.
Erschöpft blickte er aufs Wasser und war erleichtert. Die Leiche war weg und niemand hatte ihn gesehen. Er konnte einfach wieder zurück in sein altes Leben.
Dass das so nicht stimmte, wusste er nicht, denn an einem der Fenster in Burghausen stand eine Frau, die alles gesehen hatte.
2.
Dienstag, 9. April
An diesem Tag, der ganz normal begann, änderte sich für den Rentner Dietmar Neumann alles. Er stand im Supermarkt in der Burghauser Straße der oberbayerischen Kleinstadt Altötting und hörte die Stimme, die er niemals vergessen würde. Mit einem völlig belanglosen Satz des Mannes hinter ihm kamen alle schrecklichen Erinnerungen wieder hoch, die er längst verdrängt hatte. War es möglich, dass dieser Mann tatsächlich hier war? Mitten in Bayern? Am Arsch der Welt? Nein, das war nicht möglich. Oder doch. Die Erinnerungen und die Tatsache, dass seine Frau Traudl nicht zuhause war und er mit dem Alleinsein sehr schlecht umgehen konnte, spielten ihm sicher einen Streich. Trotzdem hatte er die Stimme sofort wiedererkannt. Dietmars Muskeln waren angespannt. Er konnte kaum atmen, das Herz schlug ihm bis zum Hals. Er achtete penibel auf die eine Stimme, von der er hoffte, sie niemals wieder hören zu müssen. Ob der Mann nochmal etwas sagte? War er überhaupt noch hier? Sekunden vergingen, aber nichts geschah. Er hatte sich sicher getäuscht und sein Gedächtnis spielte ihm einen Streich. Eigentlich brauchte er sich nur umzudrehen und nachzusehen, aber er konnte sich nicht bewegen, er war wie erstarrt. Schon allein die Vorstellung, dem verhassten Mann auch noch ins Gesicht sehen zu müssen, war für ihn unerträglich. Dass Dietmar erst kürzlich seinen fünfundsechzigsten Geburtstag feierte, blendete er aus, denn gefühlsmäßig war er durch die Worte des Mannes wieder Ende zwanzig. Damals war er wie heute verheiratet, aber nicht mit derselben Frau. Seine erste Frau Silvia wurde wie er verhaftet, beide saßen in Hohenschönhausen in Ost-Berlin. Ein berüchtigter Ort der damaligen DDR für sogenannte Staatsfeinde, zu denen Dietmar und seine Frau auch gehörten. Wie naiv und dumm war er damals gewesen, als er einen Antrag stellte, um seinen Bruder in Bayern besuchen zu dürfen. Er wollte nicht ausreisen und seiner Heimat den Rücken kehren, sondern nur mit eigenen Augen sehen, wie sein Bruder im Westen lebte. Aber sein Antrag wurde als Ausreise-Antrag gewertet und damit begann ein Strudel, dem er nicht mehr entkam. Nach anfänglichen Verhören begannen Schikanen, die nicht nur ihn, seine Verwandten, Freunde und Nachbarn, sondern vor allem seine Frau Silvia und die gemeinsame Tochter betrafen. Irgendwann sah Dietmar keinen anderen Ausweg mehr, als tatsächlich aus der DDR zu fliehen. Dabei half ihm der Bruder im Westen. Blauäugig planten sie die Flucht, die völlig in die Hosen ging. Dietmar wurde an der tschechischen Grenze gefasst und nach Hohenschönhausen in Ost-Berlin gebracht. Dort wurde er sofort nach seiner Einlieferung verhört und geschlagen, die fehlenden Zähne waren eine Erinnerung daran. Aber viel schlimmer war die psychische Folter, der er insgesamt elf Monate ausgesetzt war. Schlafentzug, Isolierung und damit Einsamkeit, nächtliche Kontrollen, die sich stündlich wiederholten, Essensentzug und so weiter. Das alles konnte Dietmar irgendwie ertragen, aber nicht die Ungewissheit, wie es seiner Frau und der gemeinsamen Tochter ging – und was aus ihm selbst werden würde. Es kursierten trotz aller Abschottung den anderen Gefangenen gegenüber Gerüchte, dass man vielleicht sogar nach Russland gebracht wurde. Gulag war ein Wort, das niemand hören wollte und jeden in Angst versetzte. Jedem Häftling war klar, was das bedeutete.
Dietmar war ein Gefangener, der als Republikflüchtling härter bestraft wurde als Vergewaltiger, Diebe und sogar Totschläger. Grund dafür waren auch Aussagen von Menschen, die er kaum kannte, mit denen er nie gesprochen hatte. Das, was sie sagten, war nicht die Wahrheit. Sie belasteten ihn für ihre eigenen Vorteile. Das Urteil war nicht anfechtbar. Drei Jahre Haft. Was das bedeutete, lernte er sehr schnell. Während er einsaß, hatte er nur einen einzigen Kontakt zu seinem persönlichen Vernehmer, dessen Namen er nicht kannte. Der Mann war nicht gemein, er misshandelte ihn auch nicht. Er war ihm gegenüber freundlich und versuchte, ihn langsam mürbe zu machen. Mit gezielten Sätzen, oft nur mit wenigen Worten, setzte ihn der Mann nicht nur unter Druck, sondern machte ihm Angst. Er wiederholte Fragen wieder und wieder, bohrte geduldig nach und versuchte so, sein Ziel zu erreichen. Was er von ihm wollte? Namen. Namen von Menschen in seinem persönlichen Umfeld, die nicht nur von seinen Fluchtplänen wussten, sie unterstützten und guthießen, sondern selbst keine linientreuen Genossen waren und die auch eine Flucht aus der DDR planten. Dietmar blieb standhaft und nannte nicht einen Namen, worauf er bis heute stolz war. Nach jedem Verhör musste er zurück in die Zelle und hatte wegen der Abschottung von anderen Menschen und jeglicher Ablenkungsmöglichkeit immer nur die Worte seines Vernehmers im Kopf, die ihm stundenlang, sogar tagelang, keine Ruhe ließen.
Trotz allem hatte Dietmar damals sehr viel Glück gehabt, denn die Qualen wurden beendet, als er nach elf Monaten vom Westen freigekauft und ohne Vorankündigung abtransportiert wurde. Anfangs ahnte er nicht, wohin er gebracht wurde und was jetzt passierte, bis er endlich begriff: es ging in den Westen. Diesen Augenblick der Freude würde er niemals vergessen. Auch seine Frau Silvia wurde entlassen, aber die Ehe war durch beider Erlebnisse nicht mehr zu kitten – auch das war der Verdienst der Stasi.
All das ging Dietmar durch den Kopf, als er immer noch vor der Schokolade stand. Wie lange er vor sich hinstarrte, unfähig, irgendwie zu reagieren, wusste er nicht. Er konnte spüren, wie sich ein Muskel nach dem anderen ganz langsam entspannte. Vielleicht irrte er sich und sein Gedächtnis spielte ihm einen Streich. Er hatte schlecht geschlafen. Seine Frau Traudl war auf Reha und er war allein zuhause, was er nur schwer ertragen konnte. Ein Lächeln huschte Dietmar übers Gesicht, als er an Traudl dachte. Ihr konnte er immer vertrauen, sie stand immer hinter ihm und ertrug seine Macken, die er durch die damaligen Erlebnisse nicht mehr loswurde. Dietmar lachte jetzt und schüttelte den Kopf. Warum sollte der verhasste Mann hier in Altötting auftauchen?
Dann schaffte er es, sich umzudrehen – und blickte dem Mann direkt ins Gesicht, der ihm das Leben zur Hölle gemacht hatte und der dafür verantwortlich war, dass er sehr viele Jahre ein gebrochener Mann war und Weichen für sein Leben stellte, die er sich so niemals selbst gestellt hätte. Seine Ziele und Wünsche wurden von diesem Mann zunichte gemacht, ihm gab er die Schuld für alles.
Dietmar konnte den Mann nur anstarren. Der aber zeigte keinerlei Regung.
„Kennen wir uns?“, fragte der Mann freundlich.
Diese Stimme, diese Augen – das war tatsächlich der verhasste Mann, dessen Namen er nicht wusste! Weit über dreißig Jahre lagen jetzt zwischen dem letzten Gespräch, aber Dietmar hatte das Gefühl, als wäre es gestern gewesen. Sofort zogen sich wieder alle Muskeln zusammen. Instinktiv griff Dietmar an seine Oberschenkel und nahm Haltung an, so wie er es damals gelernt hatte. Wenn er vom Schließer zu seinem Vernehmer gebracht wurde, durfte er auf dem Weg nicht sprechen. Kam ihnen jemand entgegen, was sehr selten vorkam, dann musste er sich mit dem Gesicht zur Wand stellen. Im Vernehmungsraum angekommen, musste er sich setzen und die Hände mit den Handflächen nach unten unter die Oberschenkel legen. Dieser Impuls funktionierte auch heute noch, nach so vielen Jahren.
Noch bevor Dietmar etwas sagen konnte, drehte sich der Mann um. Er sprach mit einem kleinen Mädchen, nahm deren Hand und ging einfach davon.
Dietmar war völlig durcheinander. Hass stieg in ihm auf. Wie alt war der Mann? Er konnte nur wenige Jahre älter sein. Gut sah er aus, die Kleidung war sicher nicht billig. War es so, dass der Mann nach der Wende ungeschoren davonkam? War das möglich?
Nach einigen Sekunden fasste sich Dietmar wieder und lief ihm hinterher, seinen Einkaufswagen ließ er einfach stehen. Draußen auf dem Parkplatz blickte er sich um. Dass es in Strömen regnete, fiel ihm nicht auf. Wo war der Mann? Dann entdeckte er ihn, wie er in eine Luxuskarosse stieg und langsam an ihm vorbeifuhr. Dabei sahen sie sich in die Augen. Anstatt so etwas wie Bedauern zu erkennen, grinste der Mann nur. In diesem Moment veränderte sich Dietmars Gefühlswelt völlig. Er spürte, wie etwas in ihm aufstieg, das er so nicht kannte. Es ging um verlorene Jahre, Schmerzen, Gewalt, Demütigungen, um die kaputte Ehe, die geraubte Möglichkeit, ein guter Vater sein zu dürfen. Es ging um Menschenwürde, die ihm genommen wurde. Und um einen ruhigen Schlaf, den er seit damals nicht mehr fand. Und wofür das alles? Er hatte nichts getan!
Dietmar merkte sich jedes Detail des Wagens, vor allem das Kennzeichen. Der Mann lebte nicht hier, das war ein österreichisches Kennzeichen. War das gut oder schlecht? Das war Dietmar völlig egal. Er war dem Mann, den er hoffte, niemals mehr sehen zu müssen, über den Weg gelaufen. Das änderte alles. Als die Rücklichter des Wagens verschwanden, war für Dietmar völlig klar: der Mann durfte ohne eine gerechte Strafe nicht davonkommen! Wenn er für seine Taten damals nicht zur Rechenschaft gezogen wurde, musste er sich darum kümmern, auch nach all den Jahren.
Er rannte zu seinem Wagen und fuhr mit quietschenden Reifen los. Passanten schimpften und zeigten ihm den Vogel, aber das war ihm egal. Verkehrsteilnehmer hupten und regten sich auf, denn Dietmar fuhr rücksichtslos, er hatte nur den Wagen des Mannes im Kopf. Endlich sah er ihn, wie er Richtung Burgkirchen abbog und auf die St2107 fuhr. Dietmar fuhr hinterher, wobei er halsbrecherisch einen Lastwagen überholte, der wegen ihm und dem Gegenverkehr stark abbremsen musste. Gerade noch rechtzeitig sah Dietmar, dass der Wagen links abbog. Wollte der nach Kastl? Dorthin, wo auch Dietmar mit seiner Frau lebte? Nach der Feuchterstraße bog der Protzschlitten rechts ab. Es ging kreuz und quer, dann blieb der Mann endlich im Eichenweg stehen. Warum gerade hier? In der Straße, in der Dietmar mit seiner Frau schon seit vielen Jahren lebte? Dietmar fuhr vor die Garage und stieg völlig aufgewühlt aus, wobei er den Mann nicht mehr aus den Augen ließ. Die Knie zitterten, er musste sich an seinem Auto festhalten. Wo wollte der Mann hin? Dietmar sah mit an, wie der Mann lachend ausstieg und mit dem kleinen Mädchen direkt in das große Mehrfamilienhaus ging, das hier nur als Schwarzwaldklinik bekannt war. Es gab fünf Wohnungen, von denen eine erst neu bezogen wurde. Dietmar und seine Frau achteten schon lange nicht mehr darauf, wer hier ein- und ausging, da es in der Schwarzwaldklinik ständigen Wechsel gab. Warum sollte ihn das auch interessieren? Seine Frau und er hatten nicht viel Kontakt mit den Nachbarn, der war hier sowieso nicht erwünscht. Alle lebten zwar in einer Straße, wo man sich grüßte und höchstens einen Satz pro Jahr miteinander sprach, ansonsten ging man sich aus dem Weg. Seine Frau Traudl war davon überzeugt, dass das an ihm lag. Für sie gab es zwei Gründe für das schlechte Verhältnis: zum einen, da er nicht von hier war, sondern aus der ehemaligen DDR stammte. Die Einheimischen waren allem Fremden gegenüber vorsichtig. Bis man sich hier öffnete, dauerte das nicht nur Jahre, sondern Jahrzehnte. Der zweite Grund war, dass ihr Mann einfach nicht den Mund halten konnte und immer offen und ehrlich seine Ansichten aussprach. Damit konnte man hier nur sehr schlecht umgehen. Oberflächlichkeiten waren erwünscht, auf alles andere konnte man verzichten. Traudl war sich sicher, dass sie mit ihrer Vermutung richtiglag. Dietmar war anderer Meinung. Es war sein Recht, seine freie Meinung zu äußern. Er war nie unfreundlich, da gab es ganz andere Kaliber, bei denen man aber weniger auf die Wortwahl achtete. Nein, seine Herkunft und sein Recht auf freie Meinungsäußerung waren nicht der Grund für die Distanz der Nachbarn. Für ihn war klar, dass es am Desinteresse und der Anonymität lag, die jetzt auch auf dem Land um sich griff. Vielleicht lag es auch am Neid, das war auch möglich, denn seine Traudl und er hatten es zu bescheidenem Wohlstand gebracht, was man ihnen offenbar nicht gönnte. Aber letzten Endes waren die Gründe egal. Dietmars Interesse hielt sich bezüglich der Nachbarn in Grenzen, was auf Gegenseitigkeit beruhte, aber was sich jetzt schlagartig änderte. Wer lebte in der Schwarzwaldklinik? Wer war eingezogen? Ein Verwandter oder Freund des verhassten Mannes?
In Dietmar keimte ein Verdacht, der ihn noch mehr ins Wanken brachte. Und zwar so sehr, dass er sich dringend setzen musste. War es möglich, dass der Mann selbst sein neuer Nachbar war?
3.
Zur selben Zeit in der Polizeiinspektion Mühldorf am Inn…
„Ich darf doch bitten, meine Herren!“, schrie Rudolf Krohmer sehr laut, nachdem die beiden Streithähne ihn offenbar nicht gehört hatten. Die Diskussion über den bevorstehenden Einsatz lief völlig aus dem Ruder. Wie in den Wochen vorher gab es zwischen Leo Schwartz und dem neuen Mitarbeiter der Mordkommission Franz Windisch schon wieder Streit. Die beiden schenkten sich nichts. Es schien sogar, als würden sie auf eine Äußerung, auf einen Fehler des anderen warten, um dann dagegen zu gehen. „Sie hören augenblicklich auf, sich gegenseitig anzugreifen. Wenn nicht, werde ich andere Seiten aufziehen!“ Krohmer war stinksauer. „Das hier ist die Kriminalpolizei und nicht der Kindergarten! Sie benehmen sich jetzt kollegial, sonst lernen Sie mich kennen – beide!“
Der zweiundsechzigjährige Kriminalhauptkommissar Hans Hiebler war genervt von den ewigen Streitereien zwischen den beiden Kollegen. Anfangs war Hans auf Leos Seite, was nicht nur mit der Freundschaft zusammenhing. Inzwischen schlug ihm die tägliche miese Stimmung aufs Gemüt. Und zwar so, dass er manchmal keine Lust mehr hatte, zur Arbeit zu gehen. Heimlich zählte er die Tage bis zu seiner Pensionierung, die im nächsten Jahr – wenn alles reibungslos lief – bevorstand.
Es war totenstill. Leo und der Neue sahen sich feindselig an. Krohmer war der Chef und was der sagte, betraf sie beide. Sie versuchten nicht, sich zu erklären oder zu verteidigen, schließlich war beiden klar, dass Krohmer recht hatte.
„Sie haben die Einsatzpläne für den Einsatz an den Grenzen in Burghausen, an die Sie sich alle halten. Ich persönlich werde ebenfalls vor Ort sein und mich der Leitung anschließen. Und ich versichere Ihnen, dass ich keinen Spaß verstehe, wenn es Probleme geben sollte“, sagte Krohmer und sah dabei vor allem Leo Schwartz und Franz Windisch an. „Die Schleuser müssen aus dem Verkehr gezogen werden. Ich verlange von Ihnen allen vollen Einsatz!“
„Wissen wir, ob die Informationen zuverlässig sind?“, mischte sich die dreiunddreißigjährige Diana Nußbaumer ein, der die Streitereien der Kollegen ebenfalls auf die Nerven ging. Sie tendierte aber auf Leos Seite, denn den Neuen konnte sie auch nicht leiden. Diana sah auch heute wieder wie aus dem Ei gepellt aus, worauf sie großen Wert legte. Das rote Kostüm mit den hohen Schuhen unterstrichen die blonden Haare und das perfekte Make-up. Dass ihre Outfits und ihr Auftreten immer wieder für Gesprächsstoff sorgten, war ihr inzwischen gleichgültig. Sie konnte herumlaufen wie sie wollte, da durfte niemand mitreden.
Krohmer war erschöpft. Er saß gemeinsam mit dem Staatsanwalt und dem Chef der Bundespolizei Niederegger die halbe Nacht über den Plänen, die in seinen Augen perfekt waren. In den letzten Monaten nahmen die Straftaten in Bezug auf illegale Einwanderer durch Schleuser mehr und mehr zu. Es gab sogar schon einen Todesfall zu beklagen, nachdem ein kontrollierter Wagen die Flucht ergriff und einen tödlichen Unfall hatte. Zum Glück waren alle Einsatzfahrzeuge mit Kameras bestückt, wodurch die Umstände des Unfalls und des daraus folgenden Todes des Mannes zu beweisen waren. Die Polizei hatte keine Schuld daran. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn die Beweise nicht vorgelegen hätten!
„Die Kollegen Niederegger und Hintermaier der Bundespolizei haben die Informationen bestätigt, die offenbar aus erster Hand kommen und zuverlässig sind. Die genaue Quelle wollte er nicht nennen. Wir müssen uns also darauf verlassen, dass die Angaben stimmen. Noch Fragen?“, sagte Krohmer in die Runde und sah seine Leute dabei lange an. Jeder einzelne schüttelte den Kopf. „Gut, dann kann es losgehen. Hiebler und Nußbaumer bilden ein Team. Sie schließen sich der Gruppe B an, das ist die neue Grenze. Schwartz und Windisch sind der Gruppe A unterstellt, die sich um die alte Grenzbrücke kümmert. Sie melden sich bei dem verantwortlichen Einsatzleiter…“
„Ich soll mit dem zusammenarbeiten?“, rief Windisch aufgebracht. „Das können Sie nicht von mir verlangen!“
„Aha, und wieso kann ich das nicht?“ Krohmer sprach jetzt sehr ruhig, was kein gutes Zeichen war, aber das wusste Windisch noch nicht. Er war noch nicht lange in Mühldorf und das hier war der erste große Einsatz.
„Jeder hier weiß, dass Schwartz mich nicht leiden kann. Er nutzt jede Gelegenheit…“
„Das ist mir doch scheißegal!“, schrie Krohmer aufgebracht. „Das hier ist die Kripo und kein Ponyhof! ICH teile die Gruppen ein und SIE haben sich daran zu halten! – Noch Fragen?“
Windisch schüttelte den Kopf. Das war ein Anschiss, den er sich eigentlich nicht leisten konnte. Wegen der ständigen Streitigkeiten mit Schwartz und der Tatsache, dass er neu war und sich noch nicht beweisen konnte, musste er dringend Punkte sammeln. Das wurde ihm nicht leicht gemacht. Dass er daran selbst schuld hatte, begriff er nicht. Er sah den verhassten Kollegen Schwartz an, aber der verzog keine Miene. Dass Leo das nicht leicht fiel, wusste er nicht.
„Es versteht sich von selbst, dass Sie alle Schutzwesten tragen. Sie ziehen sich um, Frau Nußbaumer. Wenn Sie beim Einsatz mit Kostüm und Stöckelschuhen auftauchen, wirft das ein schlechtes Licht auf uns.“
„Selbstverständlich werde ich mich umziehen, das hätten Sie nicht extra betonen müssen, Chef.“
„Auch Sie werden sich umziehen, Herr Schwartz. Mit diesem T-Shirt werden Sie sich vor den Kollegen der Bundespolizei nicht präsentieren, damit sind wir alle blamiert. Dass Sie es auch immer übertreiben müssen!“
Alle starrten auf Leos T-Shirt, das neu zu sein schien. Darauf war ein Teddybär abgebildet und der Spruch: Halb Mensch, halb Bärchen. Ich bin ein Märchen. Leo verstand zwar nicht, was es daran zu bemängeln gab, wollte aber den Chef nicht noch mehr reizen. Deshalb nickte er nur, was sonst nicht seine Art war, denn seine einzigartigen T-Shirts verteidigte er sonst vehement.
„Gut. Sie wissen, was Sie zu tun haben, ich verlasse mich auf Sie. Viel Glück!“
Für Krohmer war es selbstverständlich, dass er die Kollegen der Bundespolizei bei dem geplanten Einsatz persönlich unterstützte. Schleuser, mit denen illegale Einwanderer ins Land – speziell über die bayerischen Grenzen – gebracht wurden, wurden immer dreister und skrupelloser. Für Krohmer ging es nicht vorrangig um die Illegalen, sondern um die Schleuser selbst, denen Menschenleben offenbar nicht viel wert waren. Sie kassierten diese verzweifelten Menschen ab und gingen oft sehr rücksichtslos vor, was Krohmer nicht leiden konnte. Menschen wie Ware zu behandeln, war nicht akzeptabel. Ein Menschenleben war immer noch mehr wert als alles Geld der Welt!
Krohmer sah auf die Uhr. Es war jetzt kurz vor fünf. Ein Blick aus dem Fenster bestätigte ihm, dass der Frühling nicht immer nur schöne Seiten hatte. Der eiskalte Wind, der seit Tagen übers Land fegte, hielt sich auch heute nicht zurück. Vom Wetter ganz abgesehen beschäftigte ihn das schlechte Verhältnis zwischen Schwartz und Windisch, das einfach nicht besser wurde. Nach dem heutigen Einsatz gab er den beiden einige Tage frei, danach musste er mit ihnen ein ernstes Wort reden.
Dass es dazu nicht kommen würde, ahnte Krohmer noch nicht, denn was als kollegiale Unterstützung der Bundespolizei geplant war, lief direkt in eine Katastrophe…
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