Der 43. Fall aus der Leo-Schwartz-Krimireihe
1.
Ich habe mich schuldig gemacht und fühle mich gut damit. Vielleicht hätte ich eine andere Lösung finden sollen, aber ich war am Ende und wusste keinen anderen Ausweg. Mit den Problemen und dem Druck der letzten Wochen konnte ich nicht weiterleben, ich wäre daran zugrunde gegangen. Außerdem wäre mein Leben wie ein Kartenhaus in sich zusammengefallen, das durfte ich nicht erlauben. Wie in Trance habe ich meinen schrecklichen Plan einfach in die Tat umgesetzt. Es war so, als würde ich neben mir stehen und mich beobachten. Nicht mahnend, sondern prüfend, ob ich auch alles richtig mache. Jeder einzelne Handgriff saß genau so, wie ich es mir so oft vorgestellt habe. Ich war mit mir und meiner Arbeit zufrieden, ich hätte nichts besser machen können. Jetzt ist sie tot. Als ich sie vor mir liegen sah, war meine Seele auf einmal beruhigt. Ich konnte meine Lungen wieder mit frischem Sauerstoff füllen, die Atemnot war plötzlich weg. Den Leichnam hierher zu bringen war leichter als gedacht. Niemand hatte mich gesehen, alles lief perfekt ab. Jetzt waren sie und ich auf diesem Acker, um uns herum war alles still. Nur einige wenige Fahrzeuge fuhren um diese unchristliche Zeit auf der Straße vorbei, aber die waren zu weit weg, wir waren hier vor neugierigen Blicken sicher. Mir kam entgegen, dass sich jeder nur um sich selbst kümmert, dass man für seine Mitmenschen kaum mehr etwas übrig hatte. Daran änderte auch die bevorstehende Weihnachtszeit nichts, die ich schon immer für scheinheilig hielt.
Wir beide sind hier ganz allein, nur sie und ich. Die kühle Luft spürte ich noch nie so intensiv wie in diesem Moment. Ein Gefühl, das ich so schnell nicht vergessen werde, denn ich fühle, wie langsam wieder Leben in meinem Körper emporsteigt. All das viele Leid, die fast unüberwindbaren Sorgen und die unerträglichen Demütigungen waren mit einem Schlag vergessen, als alles Leben den Körper dieser wunderschönen Frau verließ. Fassungslos hatten mich die betörend blauen Augen angestarrt. Bis zuletzt konnte sie nicht glauben, dass ich zu so einer Tat fähig bin. Diese Gewissheit tat mir unendlich gut. Sie war sich ihrer Sache zu sicher, sie hatte nicht mit meiner Entschlossenheit gerechnet. Aber ich musste etwas tun. Es gab nur die eine Möglichkeit: Entweder sie oder ich. Die Wahl habe ich getroffen, es gab kein Zurück mehr. Seit sie tot war, machte sich eine Ruhe breit, die mich wie eine schützende Aura umgab. Eine Ruhe, die mir wahnsinnig guttat und die ich sehr genoss. Die Frau, die jetzt leblos vor mir lag, bezeichnete mich nicht selten als Waschlappen und Versager, wobei diese Bezeichnungen noch harmlos waren. In ihren Augen war ich ein Niemand, den man frei nach Belieben quälen konnte. Das hatte sich vorher noch niemand getraut, aber in ihrer Gegenwart konnte ich mich nicht wehren. Wenn ich allein war, malte ich mir aus, was ich alles zu ihr sagen würde, wenn sie mich nochmal so schlecht behandelte, aber das konnte ich nie in die Tat umsetzen. Sie hatte eine ganz besondere Macht über mich, was ich nie für möglich gehalten hätte. Überall sonst fürchtete man mich, aber sie hatte nicht den Hauch von Respekt vor mir. Schon von Anfang an war sie dominant, herablassend und beleidigend. Warum ich mir das gefallen ließ? Ich konnte nicht anders. Je schlechter sie mich behandelte, desto mehr liebte ich sie. Damit war es jetzt für immer vorbei. Endlich kann ich wieder ein ganz normaler Mensch sein. Jetzt, da sie tot ist, kann ich wieder leben. Ohne Liebe, aber ich bin am Leben. Das ist mir wichtiger als die Liebe zu dieser Frau. Bin ich sadistisch? Egoistisch? Nein, das denke ich nicht. Ich bin ein ganz normaler Mensch, der genug von allem hatte. Gibt es ein Maß dafür, wie viel Druck und Demütigungen man ertragen kann und muss? Ich habe in den letzten Wochen sehr viel darüber nachgeforscht und gelesen, habe aber nichts gefunden, das zu meiner Situation passt. Auch mein Psychologe wusste keine Antwort darauf. Doktor Bartsch. Ihm habe ich natürlich nicht die Wahrheit gesagt. Es war leicht gewesen, eine Geschichte zu erfinden, die nicht annähernd der meinen glich. Ich berichtete ihm nur einige Szenen, nannte falsche Namen – er glaubte mir jedes einzelne Wort. Der gute Mann sieht die Welt durch eine rosarote Brille und versucht, sein nur durch Fachbücher erlangtes Wissen an die Patienten weiterzugeben. In meinem Fall vergeblich. Ich habe wirklich versucht, meine Einstellung und mein Verhalten zu ändern, aber ich bin nun mal so wie ich bin. Hätte ich die Frau vielleicht nicht doch einfach verlassen sollen? Sie aus meinem Gedächtnis streichen und nie wieder an sie denken sollen? So, wie es mir der gute Doktor immer wieder geraten hatte? Dazu war ich nicht fähig, ich war zu schwach. Außerdem wusste der Mann nicht die Wahrheit, die wusste niemand. Ich konnte nicht einfach gehen, das war mir nicht möglich. Sie hatte mich in der Hand. Ich war wie ein Spielball, den man nach Belieben benutzen, dirigieren und wieder weglegen konnte. Anfangs hatte mir das nichts ausgemacht. Ich war einfach nur froh darüber, dass sie bei mir war und dass sie mich auserwählt hatte, wenn auch nur für die wenigen Stunden, in denen wir zusammen waren. Dass sie auch andere Bekanntschaften hatte, wusste ich, schließlich ging sie offen damit um. Das hatte mich anfangs geschockt und auch gestört, aber irgendwann gewöhnte ich mich daran. Sie liebte nur mich. Das habe ich mir so lange eingeredet, bis ich schließlich daran glaubte. Ich war dieser Frau hörig, das weiß ich seit vielen Wochen – und es störte mich nicht. Bei ihr fühlte ich mich trotz allem wohl. Sie hatte es geschafft, dass ich mein Innerstes nach außen kehren konnte. Durch sie spürte ich, wie schön das Leben sein konnte, dass ich so sein durfte, wie ich war. Dass das alles nur Berechnung war und sich stückweise ihr wahres Ich zeigte, merkte ich viel zu spät. Geschenke forderte sie frech ein, was ich toll fand. Schnell folgten auch Geldforderungen, denen ich nur zu gerne nachkam. Warum auch nicht, ich hatte ja genug davon. Sie war dankbar, sehr dankbar sogar, aber das änderte sich schnell. Irgendwann wurden die Summen zur Routine, auch das stieß mich nicht ab. Trotzdem hielt ich mich an ihr fest. Wie ein Ertrinkender suchte ich Halt bei dieser Frau, die mich mit aller Gewalt immer wieder nach unten drückte. Je länger ich sie kannte, desto weniger konnte ich ohne sie leben. Ich war abhängig und tat alles, was sie von mir verlangte. Bin ich wirklich ein Versager, ein Weichei ohne Charakter? Ich war lange davon überzeugt. Früher hätte ich es nie für möglich gehalten, dass man von einem Menschen so abhängig sein kann, aber ich wurde eines Besseren belehrt. Sie war mein Leben, nur für sie habe ich existiert.
Jetzt war alles vorbei. Sie hatte den Bogen überspannt und wollte mich vernichten, wenn ich ihren immer unverschämteren Forderungen nicht nachkäme. Ihr Druckmittel waren Fotos. Wie eine Trophäe hielt sie mir das Smartphone unter die Nase und drohte mit der Veröffentlichung. Außerdem hatte sie etwas gefunden, das niemand jemals gesehen hatte – das Foto einer toten Frau. Ich konnte damals nicht anders und habe auf den Auslöser meines Smartphones gedrückt, das Foto später ausgedruckt und es dann sicher in meiner Brieftasche verwahrt. Nur ich sollte es sehen – aber sie hatte es gefunden. Wann und wie war mir egal. Das Foto war in ihren Händen und könnte mich mit all den Fotos, die sie von mir – von uns – gemacht hatte, für immer vernichten. Die durften niemals an die Öffentlichkeit gelangen. Das wäre mein Untergang. Das ist keine Floskel, das ist die Wahrheit, die niemand kannte. Diese Erpressung war meine persönliche Grenze. Alles, wofür ich so viele Jahre gearbeitet hatte, wollte sie einfach vernichten – und das hätte sie machen können. Ich musste mir die Fotos ansehen, mit einem hämischen Lachen hat sie mir eins nach dem anderen gezeigt. Auch das der toten Frau musste ich mir ansehen, obwohl sie keinen blassen Schimmer hatte, was das zu bedeuten hatte. Sie hatte richtig gedeutet, dass mir der Anblick ordentlich zusetze, und das reichte ihr. Unverhohlen drohte sie mit der Veröffentlichung und schließlich auch mit der Polizei. Das war zu viel, das konnte ich nicht dulden. Wie oft ich versucht habe, mit ihr zu reden und sie zur Vernunft zu bringen, kann ich nicht mehr zählen. Sie war sich ihrer Sache zu sicher, sie hatte sich und ihre Macht über mich überschätzt. Während sie schlief, habe ich sie getötet. Das war einfach. So einfach, dass ich es immer wieder tun würde. Ihr Smartphone war jetzt in meiner Hand, die Fotos werden sehr bald nicht mehr existieren. Niemand würde sie je zu Gesicht bekommen. Auch das der toten Unbekannten musste ich jetzt loslassen, das zu besitzen war viel zu gefährlich, das war mir inzwischen klar geworden.
Ich weine und wische mir die Tränen aus dem Gesicht. Damit muss ich sofort aufhören, denn dadurch könnte ich mich verraten. Wütend über mich selbst laufe ich umher, bis ich mich wieder beruhigt habe. Warum ich weine? Um Gloria? Um die tote Unbekannte? Wegen dem, was ich getan habe? Wegen der Anspannung der letzten Wochen? Ich weiß es nicht und es ist mir auch egal. Es ist vorbei, die Tränen sind versiegt. Ich knie neben dieser wunderschönen Frau und streiche ihr eine Strähne aus dem Gesicht. Warum war sie so gierig geworden? Finanziell ging es ihr gut. Wenn sie mehr Geld gebraucht hätte, hätte sie es mir doch nur sagen müssen. Warum diese Erpressung mit den Fotos? Sie hatte sich verplappert und damit wusste ich von der Kamera in dem Stofftier auf dem Regal, die Speicherkarte habe ich bei mir. Alles, mit dem man mein Leben ruinieren könnte, ist jetzt in meinen Händen.
Ich fühle mich plötzlich wieder unendlich gut und lache laut. Das kann ich mir erlauben, denn hier auf dem Acker hört mich niemand. Ein letztes Mal würde ich die Frau gerne küssen, aber das würde Spuren hinterlassen. Ich war vorsichtig und ging klug und strukturiert vor, das würde ich durch eine unüberlegte Handlung kaputt machen. Nur einen letzten Blick in ihre Augen kann ich mir erlauben, mehr ist nicht drin. Leb wohl, mein Täubchen! Ich werde wieder in mein langweiliges Leben zurückkehren, in ein Leben ohne dich. Ob ich Mitleid empfinde? Mit wem? Mit Gloria? Mit der Polizei? Nein. Mit mir hatte auch niemand Mitleid.
Drei Stunden später sehe ich dabei zu, wie sich die Beweise in Rauch auflösen, die lodernden Flammen tanzen vor meinen Augen. Ein herrlicher Anblick! Glorias Smartphone, die Speicherkarte, die Lederhandschuhe und die Kleidung, die ich getragen habe, verbrennen vor meinen Augen zwischen trockenem Holz, Papier und Pappe. Von zuhause habe ich einen Jogginganzug mitgenommen, den ich jetzt trage. Ich stehe auf dem Firmengelände meiner eigenen Firma vor einer alten Tonne, in der ich gestern Abend das Brennmaterial gestapelt habe, daneben stand Brennspiritus parat. Alles war perfekt vorbereitet, niemand hatte dumme Fragen gestellt. Auch die Spritze und das Fläschchen verschwinden jetzt in den gierigen Flammen fast spurlos. Dass es stark qualmt, interessiert mich nicht. Warum sollte es? Bis sich jemand darüber aufregen könnte, wären alle Beweise verschwunden. Außerdem war es unwahrscheinlich, dass um diese Uhrzeit irgendjemand auf war. Ich sehe auf die Uhr und erschrecke – es ist kurz vor sechs. Wahnsinn, wie schnell die Zeit vergangen war. Ich habe mich verschätzt, was die Uhrzeit betrifft, trotzdem liege ich noch gut in der Zeit. Wie lange es dauerte, bis jemand das Feuer bemerkte? Das ist jetzt auch egal. In aller Ruhe trinke ich eine Flasche Bier und gönne mir eine Zigarre. Ja, das ist um diese Uhrzeit sehr ungewöhnlich, aber jetzt entscheide nur noch ich, was in meinem Leben passiert.
Noch immer sehe ich das hübsche Gesicht vor mir, das ich jetzt niemals mehr sehen würde. Gloria war Geschichte, ich musste sie aus meinem Gedächtnis streichen. Sie war jetzt nicht mehr Teil meines langweiligen Lebens. Ich fühle mich euphorisch und könnte Bäume ausreißen, denn ich hatte es tatsächlich geschafft, das Problem, das mich lange beschäftigte und nicht mehr zur Ruhe kommen ließ, aus der Welt zu schaffen. Hämisch lachend gehe ich zu Fuß nach Hause. Um die letzten Reste des Feuers brauche ich mich nicht mehr kümmern, das würde von allein ausgehen. Die Leiche habe ich mit einem der Firmenfahrzeuge transportiert. Gleich zu Arbeitsbeginn muss ich meine Leute bitten, alle Fahrzeuge zu reinigen, dann würden auch die letzten Spuren beseitigt sein.
Zuhause angekommen gönne ich mir noch ein Bier. Ob meine Frau inzwischen aufgewacht war? Ich denke nicht, schließlich habe ich ihr ein starkes Schlafmittel gegeben, so wie immer, wenn ich bei Gloria war. Nein, meine Frau war kein Problem, die war einfältig, fast dumm. Außerdem liebte sie mich, die fraß mir aus der Hand. Sollte sie wach werden, würde ich ihr irgendeine Geschichte erzählen, die sie nicht hinterfragen würde. Die würde sowieso niemals glauben, wozu ich fähig war. Nein, sie war kein Problem. Mein Problem war einzig die Polizei. Ob die mir jemals auf die Spur kam? Warum sollte sie? Und wenn doch, müsste ich Spuren auf andere Personen lenken. Zum Glück war ich Gloria einige Wochen gefolgt und kannte ihre Gewohnheiten – und auch ihre Liebhaber. Das würde eine Kleinigkeit werden.
2.
Es schneite, was für Ende November nicht ungewöhnlich war. Der achtundfünfzigjährige Kriminalhauptkommissar Leo Schwartz stand mit seinen alten Cowboystiefeln im Schnee, was ihm unter normalen Umständen echt stinken würde. Aber heute war alles anders. Als er zu diesem ungewöhnlichen Tatort mitten auf einem Acker zwischen Winhöring und Töging gerufen wurde, ahnte er nicht, dass das der Beginn eines sehr persönlichen Falles werden würde, der ihm sehr viel abverlangte. Es war noch nicht ganz hell, was die Arbeit der Polizei nicht erleichterte. Die Spurensicherung hatte dafür gesorgt, dass einige Scheinwerfer aufgestellt wurden, was wiederum Schaulustige anlockte, die man hinter die weiträumige Absperrung verbannte.
Schon nach den ersten Schritten bemerkte Leo die Handtasche, die der seiner Frau Sabine sehr ähnlich war: braun mit Lederfransen, womit er sie nicht selten aufzog. Für ihn sah das Teil aus wie eine Kindergartentasche, die ihn an frühere Zeiten erinnerte. An der Seite bemerkte Leo eine kleine gelbe Plüschfigur, wie sie auch Sabine hatte. Welches Tier das war? Er erinnerte sich nicht daran, für diese Kleinigkeiten hatte er keinen Sinn. Für einen kurzen Moment blieb ihm bei dem Anblick die Luft weg, was niemand bemerkte. Und wenn, dann wäre es ihm auch egal gewesen. Dass ein Kollege gerade dabei war, die Handtasche in einen Beutel zu stecken, beobachtete er zwar, aber begriff es nicht. Die Gedanken kreisten, ihm wurde schlecht. Leo rannte zur Leiche, was sein einundsechzigjähriger Kollege und Freund Hans Hiebler mit Kopfschütteln begleitete. Die Leiche war bereits abgedeckt worden. Noch ahnte Leo das Schlimmste. Er riss das Tuch zur Seite, was vor allem Friedrich Fuchs, den Leiter der Spurensicherung, sehr ärgerte.
„Sie können doch nicht…“, schimpfte Fuchs los und versuchte, den Kollegen Schwartz an seinem Vorhaben zu hindern, denn die Leiche gehörte vorerst ihm und nur er hatte darüber zu bestimmen, was damit geschah.
Leo wimmelte ihn barsch ab, was alle verwundert beobachteten.
Dann blickte er in das Gesicht einer Frau, die ihm unbekannt war. Es war nicht seine Sabine! Diese Erleichterung würde Leo nie vergessen, der Schreck saß tief. In Gedanken sah er dabei zu, wie einige Schneeflocken auf dem Gesicht der Unbekannten landeten. Einige lösten sich auf, andere blieben liegen. Unwillkürlich griff er nach der Haarsträhne, die der Wind in ihr Gesicht wehte.
„Jetzt ist es aber genug!“, schritt Fuchs energisch ein. „Sie fassen die Leiche erst an, wenn ich es erlaube. Sie haben ja noch nicht einmal Handschuhe an! Das ist doch nicht zu fassen!“
Die Kollegen machten sich über Leo lustig, was Hans nicht durchgehen lassen konnte. Leo war schließlich der Leiter der Mordkommission und keine Witzfigur, auch wenn er sich heute echt merkwürdig verhielt. Er wies die Kollegen zurecht, dann zog er Leo zur Seite.
„Was ist los mit dir? Du führst dich auf wie ein Verrückter!“, herrschte Hans ihn an.
„Die Tasche“, zeigte Leo auf die Handtasche in dem Plastikbeutel, neben der ein Fähnchen mit der Nummer vier steckte.
„Was ist damit?“
„Sabine hat dieselbe.“
Jetzt verstand Hans und klopfte Leo auf die Schulter.
„Du hast angenommen, dass das Opfer deine Frau ist. Komm runter und atme tief durch, damit wir unseren Job machen können. Du standest für einen Moment neben dir, was ich gut verstehe. Geht es wieder?“
Leo nickte, der Schock war verdaut.
„Was haben wir?“, fragte er nur wenige Augenblicke später den Kollegen Fuchs. Leo tat so, als wäre nie etwas gewesen.
„Weibliche Leiche, Alter etwa um die fünfzig.“
„Keine Papiere oder ein Handy?“
„Nein. In der Tasche befinden sich lediglich eine Sonnenbrille, ein Hausschlüssel und Taschentücher.“
„Ein Raubmord?“
„Das gilt es zu klären. Sie wissen doch, dass ich mich nicht mit Vermutungen abgebe, für mich gelten nur Fakten.“
„Hinweise auf einen Wagenschlüssel?“
„Nein.“
„Todesursache?“
„Schwer zu sagen, da es keine sichtbaren Verletzungen gibt. Wir sind hier in einer Stunde fertig, dann soll sich die Pathologie darum kümmern.“ Fuchs hatte seinen Besuch bereits angemeldet. Seine Partnerin Lore Pfeiffer arbeitete in der Pathologie München und war unter anderem für die Einteilung der Obduktionen zuständig, was ihn immer an die vorderste Stelle brachte. Ja, das war nicht ganz korrekt, aber warum sollte er das nicht ausnutzen? Von Lore wusste er, dass Doktor Schnabel Dienst hatte, weshalb er sich auf dessen Liste setzen ließ.
„Wer hat die Leiche gefunden?“
„Der Radlfahrer dort hinten.“
„Der in rot?“
„Wer denn sonst? Sehen Sie einen anderen Radlfahrer?“
Leo und Hans ignorierten den unfreundlichen Ton. Sie sahen den älteren Herrn mit der Glatze.
„Alte Männer im Radldress sehen echt lächerlich aus“, bemerkte Hans, der in den letzten Jahren registrierte, dass die Anzahl der Extremsportler unter Rentnern immer größer wurde. „Früher alterte man noch in Würde, davon ist heute nicht mehr viel zu sehen. Haben die alle keine Enkel, um die sie sich kümmern können, anstatt den Körper im hohen Alter mit Sport zu schinden?“
„Aus dir spricht doch nur der Neid. Lass doch die Rentner mit ihrer Zeit machen was sie wollen. Außerdem würde ich an deiner Stelle den Ball ganz flachhalten. Zum einen hast du gar keine Enkel, und zum anderen siehst du auch nicht so aus, wie man es bei einem Mann um die sechzig erwarten würde.“ Leos Augen scannten Hans ab, denn der sah auch heute aus, als würde er einem Modekatalog entspringen und sich gerade in Saint Tropez befinden. Bei diesem Wetter trug er eine Leinenhose, ein kurzärmeliges Hemd und Lederslipper – Letztere waren nach diesem Einsatz sicher ruiniert. „Außerdem ist dein Parfum heute wieder sehr grenzwertig.“
„Du bist derjenige, der neidisch ist“, sagte Hans patzig und winkte nur ab, obwohl er sehr froh darüber war, dass sich Leo wieder gefangen hatte.
Das Gespräch mit dem Zeugen war ernüchternd, denn der hatte nichts gesehen und nichts gehört.
„Jeden Morgen um dieselbe Zeit fahre ich eine Runde mit meinem Fahrrad, ob Sommer oder Winter. Immer um halb sieben geht es los, gegen halb neun bin ich dann wieder zuhause.“
„Lobenswert“, murmelte Leo, der sich dafür nicht interessierte. „Fahren Sie immer dieselbe Runde?“
„Selbstverständlich, sonst könnte ich meinen Leistungsgrad nicht messen.“ Der Mann beschrieb ausführlich die tägliche Strecke. „Die fahre ich am Morgen, am Nachmittag und am Abend fahre ich natürlich eine andere Strecke, sonst wird es langweilig.“
„Wann haben Sie die Leiche entdeckt?“
„Exakt um 6.40 Uhr habe ich die Frau auf dem Acker liegen sehen. Natürlich bin ich sofort zu ihr, aber da war nichts mehr zu machen. Dann habe ich die Polizei gerufen.“
„Haben Sie etwas angefasst?“
„Natürlich nicht, das kennt man doch aus den Krimis im Fernsehen.“ Der Zeuge wurde entlassen und konnte endlich seine Tour fortsetzen.
„Okay, dann an die Arbeit.“ Leo und Hans wussten sehr gut, was jetzt anstand. Es galt, alle Vermisstenmeldungen zu überprüfen. Wenn diese Arbeit erfolglos blieb, musste das Bild der Toten an die Medien gegeben werden.
Was nach Routinearbeit aussah, entwickelte sich zu einem Fall, den die Kriminalbeamten so schnell nicht mehr vergessen sollten…
Manuela Z. –
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