Der 45. Fall aus der Leo-Schwartz-Krimireihe
1.
Fassungslos starrte Winfried Schlesinger auf die Leiche, die langsam den schweren, alten Teppich mit Blut tränkte. Schlesinger war nicht in der Lage, irgendwie zu reagieren, er stand einfach nur da. Irgendwann versagten die Knie des siebenund-sechzigjährigen Rentners, der seit dem Tod seiner Frau vor knapp einem Jahr allein in dem alten Haus in der Dortmunder Straße im oberbayerischen Töging am Inn lebte. Er setzte sich in den abgewetzten Sessel, den er als einziges Möbelstück im Wohnzimmer benutzte. Die Couch war immer der Platz seiner Frau gewesen, die rührte er nicht an. Auch den Wohnzimmerschrank hatte er seit Monaten nicht mehr geöffnet, auch das war immer Marias Reich gewesen. Schlesinger musste nicht überprüfen, ob die Frau tatsächlich tot war, das war ihm sofort klar gewesen, als er ihr die Kehle mit einem Ruck durchgeschnitten hatte. Er hatte sein Können noch nicht verlernt, was ihn nicht überraschte. Es war nicht so, dass er noch nie getötet hätte, das war ihm als ehemaliger Fremdenlegionär nicht unbekannt. Früher musste er töten. Das war sein Job gewesen, für den er sich nicht schämte. Heute sah er die Zeit unter den Kameraden und mit Einsätzen auf der ganzen Welt als die schönste seines Lebens an, auch wenn die Jahre sehr hart gewesen waren. Aber diese Zeit war längst vorbei. Niemals rechnete er auch nur im Traum damit, dass er in seinem Alter und im Ruhestand immer noch damit zu tun hatte. Warum war die Frau auch so penetrant vorgegangen und ließ ihn nicht einfach in Ruhe? Schon am Telefon hatte er sie mehrfach abgewimmelt, bis er irgendwann doch mit ihr sprach. Sie war verdammt clever und ging sehr geschickt vor, weshalb er sich schließlich doch auf ein Gespräch einließ. Er war neugierig, was sie wirklich wollte, auch wenn er es bereits ahnte – sie wollte ganz sicher nur das Beste von ihm: sein Geld! Die Fremde mit der angenehmen Stimme gab sich als Polizistin aus. Schlesinger blieb ruhig und hörte sich an, was sie zu sagen hatte. Die Geschichte, die sie ihm präsentierte, klang schlüssig, trotzdem glaubte er ihr kein Wort. Sie gab vor, dass in der Nachbarschaft eingebrochen wurde und man seinen Namen auf einem Zettel fand, der an einem Tatort sichergestellt wurde und er somit gefährdet wäre. Sie brachte den Namen Schlesinger immer wieder ins Spiel und auch die ehemalige Spielwarenfabrik, die mit seinem Namen in Verbindung stand. Das war Fehler Nummer 1, denn mit dieser Fabrik hatte er nichts zu tun. Eigentlich auch nicht mit dem Namen. Nach seiner aktiven Zeit vor dreizehn Jahren hatte er einen fiktiven Namen angenommen, seinen früheren Namen hatte er seitdem niemals benutzt. Der Name Schlesinger war so gut wie jeder andere, einen persönlichen Bezug hatte er davor nicht dazu. Sein jetziger Name stand direkt unter der ehemaligen Fabrik Schlesinger, die Telefonnummern unterschieden sich nur in zwei Zahlen. Die vermeintliche Polizistin war nicht gut vorbereitet, arbeitete schlampig. Winfried Schlesinger spielte das Spiel trotzdem mit. Warum auch nicht? Es war lange her, dass er mit jemandem gesprochen hatte, außerdem reizte ihn, wie weit die Frau noch gehen würde. Schlesinger spürte, worauf das Telefonat hinauslief, schließlich las er jeden Tag Zeitung und wusste, wie Telefonbetrüger und falsche Polizisten vorgingen. Sie wickelten alte Leute mehr und mehr ein, um schließlich an das Ersparte zu gelangen. Jetzt war es also so weit und auch er zählte zu der Zielgruppe dieser Betrüger, was ihn erst erschreckte und dann schmunzeln ließ. Je länger Schlesinger mit der Frau sprach, desto mehr amüsierte er sich über die ganze Sache. Er gab sich senil und dumm, was die vermeintliche Polizistin nur noch mehr anspornte. Irgendwann kam die Frau dann auf den Punkt und fragte frech nach seinen Vermögensverhältnissen – das war ihr zweiter Fehler. Statt geschickt vorzugehen, preschte sie plump vor, was Schlesinger ärgerte. Trotzdem unterbrach er das Gespräch nicht, sondern unterhielt sich weiter mit ihr. Es ging also tatsächlich um Geld, um sein Geld. Natürlich log er sie dreist an und prahlte mit Bargeld und Schmuck, obwohl er nicht viel auf der hohen Kante hatte. Als Fremdenlegionär verdiente man zwar gut, aber man gab das Geld auch schnell wieder aus. Er bezog eine kleine Pension, dazu kam ein Rentenanteil seiner verstorbenen Frau. Das reichte zum Leben, aber von Reichtum war er weit entfernt. Während er mit der vermeintlichen Polizistin sprach, dachte er an seine Maria und lächelte – sie hätte ihren Spaß an dem Telefonat und an seinem schau-spielerischen Talent gehabt.
Irgendwann verging Schlesinger die Lust an dem Gespräch und er legte einfach auf. Nur eine Stunde später stand plötzlich diese Fremde an seiner Haustür. Er sah sofort, dass der Ausweis, den sie ihm unter die Nase hielt, gefälscht war. Das hier war noch ein alter grüner Ausweis, der lange schon keine Gültigkeit mehr hatte. Außerdem trug sie ein T-Shirt, auf dem das Wort POLIZEI groß aufgedruckt war. Diese T-Shirts konnte man überall für wenig Geld kaufen, das sagte nichts aus. Nur Stümper würden freiwillig solche T-Shirts tragen, Profis ganz sicher nicht.
„Ich brauche Ihre Hilfe nicht“, brummte Schlesinger und wollte die Haustür schließen. „Seien Sie doch vernünftig, guter Mann. Die Polizei will Sie vor einem großen Schaden bewahren, dafür sind wir da!“
„Ja, genau, dafür ist die Polizei da. Wo ist eigentlich Ihr Kollege? Müssen Sie nicht immer zu zweit unterwegs sein?“
Die Frau antwortete nicht darauf und wiederholte, warum sie hier war. Sie sprach mit Schlesinger wie mit einem dummen, kleinen Kind, was ihn mehr und mehr ärgerte. Was fiel dieser dreisten Frau eigentlich ein? Gab es wirklich Menschen, die auf diese plumpe Art hereinfielen?
Schlesinger hatte genug. Er wollte die Frau loswerden. Er blieb höflich und schob einen Termin vor. Aber sie hörte nicht auf, ihn zu bedrängen. Sie bestand darauf, ihr das Bargeld und den Schmuck zu übergeben, den sie dann sicher aufbewahren wollte – beides könnte er nicht mal im Ansatz vorweisen. Ja, er hatte sie angelogen, aber sie log schließlich auch. Irgendwann wurde sie frech, drängelte sich an ihm vorbei und betrat einfach das Haus – SEIN Haus. Schlesinger war überrumpelt, was ihm nicht oft passierte. Er sah ein, dass er tatsächlich alt geworden war. Rasch lief er ihr hinterher, aber sie war schnell und stand bereits im Wohnzimmer. Sie schien enttäuscht von der Einrichtung zu sein, sie hatte vermutlich etwas mehr Luxus erwartet. Nachdem sie ihre Forderung mit Nachdruck wiederholte, verneinte Schlesinger. Sie stand ihm direkt gegenüber und sah ihm in die Augen. Damit versuchte sie, noch mehr Druck auf ihn auszuüben. Er hielt ihren Blicken stand, was sie aber nicht beeindruckte. Schlesinger war zwar wütend über die Dreistigkeit der Frau, aber auch neugierig. Wie weit würde sie gehen?
„Verstehen Sie denn nicht, dass Sie in Gefahr sind? Was machen Sie, wenn Einbrecher kommen und Ihnen alles wegnehmen? Seien Sie doch vernünftig und geben Sie alles in die Obhut der Polizei, dort sind Ihr Geld und die Wertsachen sicher.“ Nadja war genervt. Sie war bereits den ganzen Tag unterwegs und hatte erst eines der Opfer abziehen können. Und jetzt gab es schon wieder Probleme mit diesem Alten, der sich einfach nicht überzeugen ließ. War sie falsch vorgegangen? Das könnte sein, denn sie war müde und brauchte dringend ein Bier. Oder lag es vielleicht an den vielen Berichten in den Medien? Griffen die Maßnahmen der Polizei? Nadja wurde wütend. Es war spät, sie musste Erfolge vorweisen, schließlich hatte sie einen Ruf zu verlieren. Nadja gab alles, aber der Mann ließ sich nicht überzeugen. Da sie spürte, dass es hier einiges zu holen gab, zog sie die Schraube enger. Sie sprach ohne Punkt und Komma. Dass ihr Ton immer schroffer wurde, war Teil des Plans. Normalerweise gaben die Alten irgendwann doch nach, aber Schlesinger war ein sturer Mann, der vermutlich bereits unter Altersstarrsinn litt.
Schlesinger hatte genug von der Frau. Er sagte kein Wort mehr und zeigte auf den Ausgang. Aber sie reagierte nicht darauf und hörte nicht auf, ihn zu belabern. Als sie ihm schließlich drohte, wurde er richtig wütend. Dann kam sie mit ihrem Zeigefinger und fuchtelte ihm damit vor der Nase herum, was er auf den Tod nicht leiden konnte. Trotzdem reagierte er nicht mehr auf sie, was sie nur noch mehr motivierte. Sie war sehr bestimmend – und hier bestimmte nur einer, und das war er selbst. Er holte Luft und wollte ihr schließlich Contra geben, aber dann drehte sie sich plötzlich um und fing an, unverschämt zu werden, indem sie einfach an den Wohnzimmerschrank ging. Sie öffnete Schubladen, was nur seine Maria durfte. Sie durchwühlte tatsächlich Schubladen und Fächer, die er selbst seit Marias Tod nicht mehr angefasst hatte. Das war zu viel für Winfried Schlesinger. Er verpasste ihr einen Schlag, der sie straucheln ließ. Daraufhin wurde die Frau richtig wütend und ging auf ihn los. Wie eine Wahnsinnige schlug sie auf ihn ein.
Nadja konnte nicht fassen, was hier ablief. Ja, sie war zu weit vorgeprescht. Sie wollte mit aller Gewalt an die Wertsachen des Mannes und überschritt eine Grenze, was sie sonst nie tat. Aber musste der Alte gleich gewalttätig werden? Niemand durfte sie ungestraft schlagen, das hatte sie sich geschworen. Mit ihrer Kindheit, in der sie von ihrer Mutter regelmäßig geschlagen wurde, hatte sie noch heute zu kämpfen. Niemand durfte sie schlagen – niemals! Sie musste sich wehren, und zwar mit allen Mitteln. Nadja war außer sich. Alles, was jetzt geschah, nahm sie nicht real wahr, alles lief wie in einem Film vor ihr ab.
Schlesinger bemerkte die innere Wandlung der Frau. Sie war wie von Sinnen. Er wehrte sich erfolgreich. Dann holte die Frau plötzlich ein Messer aus der Tasche. Die Klinge des Klappmessers funkelte im Licht der Deckenlampe. Schlesinger sah sofort, dass das ein Profimesser war, mit dem nicht zu spaßen war. Außerdem verstand die Frau, wie man damit umging. Sie ging auf ihn los, aber er konnte die ersten Angriffe abwehren. Er überlegte nicht, sondern reagierte nur. Die Frau war wie rasend. Obwohl er ihr einige heftige Schläge verpasste, gab sie nicht auf. Er wollte sie zum Aufgeben bewegen, aber sie hörte seine Worte nicht. Ein Angriff ihrerseits ging nur haarscharf an seinem Gesicht vorbei. Sie waren an einem Punkt angelangt, in dem es nur um eines ging: Entweder sie oder er.
Schlesinger war ganz ruhig. Instinktiv griff er nach dem Brieföffner, der auf der Anrichte lag. Er wehrte den nächsten Angriff ab und schaffte es blitzschnell, hinter sie zu treten – und schlitzte ihr die Kehle auf. Das dauerte keine zwei Sekunden, so hatte er es gelernt.
Jetzt lag sie vor ihm. Dass sie tot war, stand für ihn außer Frage. Sie röchelte nicht mal, sie gab keinen Laut mehr von sich.
Was sollte er jetzt tun? Sie vergraben – neben den anderen Gräbern?
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