Der 44. Fall aus der Leo-Schwartz-Krimireihe
1.
Anderl Untermaier begriff nicht, was los war. Wo war er? Und was hatte er hier zu suchen? Ein nur schwer zu ertragender Kopfschmerz raubte ihm fast den Atem. Er musste sich zwingen, die Schmerzen zu ignorieren und zu verstehen, wo er sich befand. Das hier war nicht sein Bett, auch das Zimmer war ihm völlig unbekannt. Der Platz neben ihm war zerwühlt, also lag er heute Nacht nicht allein hier. Er hob die Bettdecke – er war nackt. Was sollte das? Erst jetzt bemerkte er das Blut an seinen Händen. Das war nicht seins, er war unverletzt. Was, verdammt nochmal, war hier los?
Trotz der rasenden Kopfschmerzen stand Anderl auf und sah sich um.
„Hallo?“, rief er immer wieder, aber hier war niemand. Das beruhigte ihn zwar, warf aber noch mehr Fragen auf.
Im Badezimmer wusch er das Blut von den Händen. Fassungslos musste er zusehen, wie die braunrote Brühe langsam im Abfluss verschwand. Nachdem er sich die Hände abgetrocknet hatte, bemerkte er die blutunterlaufenen Knöchel beider Hände. Hatte er sich geprügelt? Nein, das war nicht möglich, denn er war ein friedliebender Mensch, der sich – wenn überhaupt – verbal auseinandersetzte. Eine Schlägerei käme nie infrage, damit würde er auch in seinem Job Probleme bekommen, denn prügelnde Polizisten hatten in seiner Position keine Chance. Aber woher stammten die Verletzungen? Dafür gab es sicher eine plausible Erklärung.
Er suchte nach seiner Kleidung, die im Wohnzimmer verstreut lag. Das war nicht seine Art, denn Unordnung war ihm zuwider. Was war gestern passiert? Er erinnerte sich daran, dass ihn ein Kollege auf ein Feierabendbier einlud. Der erschien aber nicht. Während sich Anderl anzog, versuchte er sich krampfhaft daran zu erinnern, was danach geschah, aber da war nichts, alles war leer. Sein Smartphone! Darin fand er vielleicht Hinweise auf gestern. Hektisch suchte er nach seinem Smartphone, fand es aber nicht. Zum Glück lag sein Schlüsselbund auf dem Küchentisch, was ebenfalls seltsam war, denn noch niemals vorher hatte er die Schlüssel auf irgendeinen Tisch gelegt. Die behielt er immer in seiner Jackentasche – und die Jacke hing im Flur an der Garderobe. Die kleinen Puzzleteile passten für ihn nicht zusammen. Anderl spürte den Drang zu gehen, aber das durfte er noch nicht. Er zwang sich, sich nochmals in der fremden Wohnung umzusehen. Er suchte nach einem Hinweis darauf, wer hier wohnte und was geschehen war. Aber hier war nichts. Kein Foto, keine Korrespondenz – einfach nichts. Es gab kein einziges Detail, das ihn auch nur annähernd an irgendetwas erinnerte.
Frustriert verließ er die Wohnung. Ob er die Tür zuziehen sollte? Warum nicht.
Das Treppenhaus war hell, seine Schritte hallten auf den Fliesen. Vor dem Mehrfamilienhaus stand sein Wagen, der akkurat eingeparkt war – auch etwas, das er eigentlich nie machte. Das war eine Marotte von ihm, über die sich die Kollegen seit Jahren lustig machten. Bevor er einstieg, sah er sich um. Das Haus, die Straße, die ganze Gegend sagten ihm nichts. Wie war er hierhergekommen? Im Wagen sah er sofort im Navi nach, aber darin war nur die Adresse der Kneipe in Gangkofen gespeichert, mehr war da nicht. Dann bemerkte er das Kfz-Kennzeichen auf einem der anderen Fahrzeuge: EG für Eggenfelden. Ein Besucher? Anderl stieg wieder aus und sah sich auch die anderen Kennzeichen an. Hier stand kaum ein Fahrzeug, das nicht ein EG- oder ein PAN-Kennzeichen hatte, Letzteres stand für Pfarrkirchen, einer der Nachbarorte, der sich in Niederbayern befand. Anderls Verzweiflung wich nun Wut. Was war hier los, verdammt nochmal! Er zwang sich dazu, sich an gestern zu erinnern. Er hatte Feierabend gemacht wie jeden Tag, gestern hatte er Tagschicht. Die Arbeit bei der Landshuter Polizei wurde in drei Schichten eingeteilt, gestern war um 17.00 Uhr Schluss. Er selbst lebte noch nicht lange in Massing, einem kleinen Ort in Niederbayern. Hier bewohnte er ein Haus, das er von seiner Lieblingstante geerbt hatte. Das Haus war stark renovierungsbedürftig, normale Menschen hätten es einfach über den Haufen geschoben und ein neues gebaut. Aber das war nicht Anderls Art, denn er hatte sehr gute Erinnerungen daran und an seine Tante Heidi. Sofort nach der Testamentseröffnung hatte er mit dem Umbau begonnen und es tatsächlich geschafft, dass zumindest vier der kleinen Räume seit einigen Monaten bewohnbar waren. Massing und Landshut lagen nur eine dreiviertel Stunde Fahrzeit voneinander entfernt, das war leicht zu bewältigen. Der Wichtl Sepp hatte ihm eine Nachricht geschickt, ihn in Gangkofen, einem popligen Nachbarort Massings, in einer Kneipe zu treffen. Dass er sich daran erinnerte, freute ihn wahnsinnig, also war nicht alles aus seinem Gedächtnis verbannt. Dass er vor Freude fast weinte, merkte Anderl nicht. Wenn ihm das wieder einfiel, dann vielleicht auch die anderen Geschehnisse des letzten Abends oder der letzten Nacht? Gestern fuhr er zu dieser Kneipe, das war klar, aber er wartete dort vergebens auf den Sepp. In seinen Gedanken sah sich Anderl am Tresen sitzen, vor ihm stand ein Glas Wasser. Er konnte sich plötzlich sehr gut daran erinnern, dass sich darin eine Scheibe Zitrone befand. Ihn sprach ein junges Mädl an. Sie wollte, dass er ihr ein Getränk spendiere, was er auch bei dem schweigsamen Wirt geordert hatte. An einem Gespräch mit dem Mädl hatte er kein Interesse und saß dann wieder allein vor seinem Wasser. Wahnsinn, was alles vor seinen Augen lebendig wurde, wenn er sich nur anstrengte! Seine Freude über diese Erinnerungen schwand, denn mehr fiel ihm zum gestrigen Abend partout nicht ein. Anderl schlug sich auf den Kopf, gab sich zwei Ohrfeigen. Ob er sich so an den gestrigen Abend und die letzte Nacht erinnern konnte? Nein. So sehr er sich auch bemühte, fiel ihm absolut nichts ein. Wütend über sich selbst lief er auf und ab. Das hier war nicht seine Gegend, hier hatte er nichts verloren. Aufgebracht stieg er in seinen Wagen und fuhr zu der letzten Adresse seines Navis – der Kneipe in Gangkofen. Der Parkplatz war leer. Diese Kneipe, die jetzt bei Tageslicht ziemlich zwielichtig aussah, sagte ihm nicht viel. Vor dem gestrigen Abend war er niemals hier gewesen, das stand für ihn fest. Auch hier fiel ihm nichts ein, das ihm weiterhelfen konnte. Er startete den Wagen und fuhr zu der Straße zurück, in der er heute aufgewacht war. Er stieg aus und lief umher, wobei er sich nicht weit von dem fraglichen Haus entfernte. Was wollte er hier? Wer wohnte hier? Je mehr Zeit verging, desto verzweifelter wurde er. Irgendwann sprach er eine Passantin an.
„Das hört sich jetzt blöd an, ich weiß, aber könnten Sie mir sagen, wo wir hier sind?“
„In der Sudetenstraße.“
„In welchem Ort?“
„Massing.“ Die Frau schüttelte den Kopf und ging weiter. Dass sie ihn für verrückt hielt, war Anderl zwar klar, aber auch egal.
Massing! Die Sudetenstraße lag am anderen Ende des Ortes, in dem er seit einigen Monaten lebte. Was wollte er hier? Was sollte der Mist?
Anderl war verzweifelt, dann wurde er wieder wütend. Da hat sich jemand einen sauberen Witz erlaubt, anders war das alles nicht zu erklären. Aber das war nicht witzig, das hier überstieg jede Grenze. Er stieg in den Wagen und fuhr durch die Gegend. Vielleicht irrte sich die Frau und er war doch woanders. Das bestätigte sich aber nicht, er war tatsächlich in Massing. Es war kurz nach neun Uhr, er müsste längst im Büro sein. Verdammter Mist!
Trotz der Eile fuhr Anderl zuerst nach Hause, schluckte erst einige Schmerztabletten, duschte und zog sich um. Was auch immer in der Nacht geschehen war, er musste es auch äußerlich loswerden.
Vom Festnetz aus rief Anderl einen seiner Mitarbeiter bei der Polizei Landshut an. Oliver Sailer war sein bester Mann, ihm konnte er vertrauen.
„Servus Oliver. Ich komme heute später, ich habe verschlafen.“
„Mach, dass du deinen Hintern hierherschaffst, der Chef sucht nach dir. Hier ist irgendetwas im Busch, das mit dir zu tun hat.“
„Was soll das sein? Ich habe mir nichts vorzuwerfen.“
„Keine Ahnung, aber die Stimmung ist sehr angespannt. Komm endlich und klär das, wir machen uns hier alle große Sorgen.“
„Alles klar.“ Anderl machte sich Gedanken über das, was Oliver eben gesagt hatte. Was wollte der Chef von ihm? Anderl war sich keiner Schuld bewusst. Das, was anlag, war sicher nicht so dramatisch, wie es der Kollege schilderte.
Bevor er das Haus verließ, legte er die gebrauchte Wäsche fein säuberlich zusammen und gab sie dann in den Wäschekorb. Das war eine Marotte, die er nicht gedachte, heute schleifen zu lassen.
Anderl ging zu seinem Wagen. Die neugierige Nachbarin Resi Gschwend stand wie immer am Fenster. Die neugierige Matz hatte immer alles und jeden fest im Auge, wobei sie auf Fehler lauerte, die sie dann lautstark hinausbrüllte und nicht selten zur Anzeige brachte. Unter normalen Umständen würde er zumindest einen dummen Spruch anbringen, aber dafür war keine Zeit. Der ausgestreckte Mittelfinger musste heute reichen.
Eineinhalb Stunden nach dem Telefonat mit Oliver Sailer war Anderl endlich in Landshut angekommen. Sein Weg führte ihn direkt zum Polizeichef, aber zuerst sprach er einige Worte mit der Sekretärin des Chefs, Gitte Prinz. Sie war immer gut informiert und wusste sicher, was der Chef von ihm wollte.
„Ich habe keine Ahnung, Anderl, aber es muss sehr ernst sein“, sagte die kleine Frau mit den braunen, wilden Locken.
„Du weißt doch sicher was“, setzte Anderl nach. Er wollte nicht unvorbereitet zum Chef gehen.
„Ich weiß nur, dass etwas gegen dich vorliegt.“
„Was soll das sein? Ich habe mir nichts vorzuwerfen.“
„Da läuft etwas, das nicht gut ist.“
Anderl lachte und strich ihr durch die Lockenpracht, wie er es sonst auch immer machte. Die beiden kannten sich seit vielen Jahren und hatten sehr viel gemeinsam erlebt, weshalb Gitte Prinz ihm die vertrauliche Geste nicht übel nahm. Allerdings durfte das nur er, sonst niemand.
Gitte Prinz sah Anderl hinterher, wie er im Büro des Chefs verschwand. Anderl war unbedarft und ahnte nichts davon, was ihm jetzt bevorstand. Natürlich wusste sie, was ihn erwartete, schließlich kannte sie jedes Detail. Nicht nur aus den Unterlagen, sondern auch von den Gesprächen, die sie belauscht hatte. Wie es ihre Art war, hatte sie dem Chef gegenüber einige Sätze fallenlassen. Nicht nur, um ihn in eine bestimmte Richtung zu beeinflussen, sondern um ihre eigenen Interessen zu forcieren.
Anderl trat trotz der immer noch hämmernden Kopfschmerzen so sorglos und fröhlich wie möglich ins Büro des Chefs Bernhard Dunst.
„Sorry, ich habe verschlafen. Du wolltest mich sprechen?“
„Setzen Sie sich.“ Der Ton war sehr scharf, was Anderl misstrauisch werden ließ. Vor allem, dass ihn der Chef nicht mehr duzte, sondern das SIE sogar betonte, war sehr ungewöhnlich. Was war hier los? Bernhard Dunst war sonst ein umgänglicher, äußerst freundlicher und auf Harmonie bedachter Mann, wovon jetzt nichts zu spüren war.
„Was ist hier los? Was ist passiert?“
„Gegen Sie wurde Anzeige erstattet.“
„Anzeige gegen mich? Das kann nicht sein, das ist sicher ein Missverständnis. Du musst mir glauben, dass ich mir nichts vorzuwerfen habe.“ Anderl erinnerte sich an den Stinkefinger seiner Nachbarin gegenüber. War sie so dreist und würde ihn wegen so einer Lappalie anzeigen? Zuzutrauen wäre es ihr. „Geht es um meine Nachbarin Frau Gschwend? Die Alte ist eine Nervensäge, die legt sich mit jedem an.“
„Darum geht es nicht! Eine sehr junge Frau, fast noch ein Kind, hat Anzeige wegen Vergewaltigung, Nötigung und Körperverletzung erstattet.“ Der Polizeichef kochte vor Wut und Enttäuschung. „Ich dachte auch erst an ein Missverständnis, da ich Sie schon seit vielen Jahren kenne und Sie bisher auch sehr geschätzt habe. Die Fotos, die ich mir ansehen musste, waren schrecklich. Sie haben ein junges Mädl geschlagen und sexuell missbraucht, so etwas werde ich bei meiner Polizei nicht dulden.“
„Das ist doch Blödsinn! So etwas würde ich niemals tun!“
„Dann sind Sie damit einverstanden, dass wir Spuren an Ihnen sichern?“
„Normalerweise ja, aber ich habe geduscht, da wird man nicht viel sichern können. Die Kleidung der letzten Nacht liegt zuhause im Wäschekorb.“ Hoffnung keimte auf, denn daran waren sicher keine Spuren zu finden.
„Die Tatsache, dass Sie geduscht haben, ist belastend.“
„Weil ich geduscht habe? Das macht man morgens so, daraus kann man mir keinen Strick drehen.“
„Wir werden die Kleidung, von der Sie eben sprachen, untersuchen. Versprechen Sie sich nicht zu viel davon, schließlich wissen wir nicht, was genau Sie während der Tat getragen haben. Sie sind vorrübergehend suspendiert, Herr Untermaier, mir bleibt keine andere Wahl. Ausweis und Waffe!“
Anderl war völlig durcheinander.
„Spinnst du jetzt komplett, Bernhard? Du traust mir die Tat wirklich zu? Du kennst mich doch!“
„Das dachte ich auch, aber die Beweise sind erdrückend. Und wenn ich mir Ihre Hände ansehe, muss ich erkennen, dass ich Sie völlig falsch eingeschätzt habe.“
„Das muss ein Missverständnis sein. Betrachten wir die Sache ganz nüchtern. Wen soll ich misshandelt und missbraucht haben? Und wo soll das stattgefunden haben? Ich war letzte Nacht nicht in Landshut.“
„Und wo wollen Sie gewesen sein?“
„In Massing. Die Umstände sind mir selbst noch nicht ganz klar, aber ich war definitiv nicht in Landshut!“ Innerlich war Anderl erleichtert, dass die Sache damit hoffentlich vom Tisch war.
„Die Tat hat in Massing stattgefunden, und zwar in der Sudetenstraße. Ihr Smartphone ist eines der Beweisstücke. Die darauf befindlichen Fotos sind eindeutig, das können Sie nicht wegdiskutieren. Sie haben sich selbst belastet, als Sie zugaben, letzte Nacht in Massing gewesen zu sein, das ist Ihnen hoffentlich klar.“
„Mein Aufenthalt ist nachvollziehbar, schließlich wohne ich dort seit einigen Monaten. Das weißt du doch, Bernhard! Du glaubst doch nicht wirklich, dass ich das Mädchen wirklich geschlagen und missbraucht habe!“ Mehr konnte Anderl nicht dazu sagen. Das Wort Sudetenstraße schwirrte in seinem Kopf. Das durfte doch alles nicht wahr sein!
„Ich werde diese Aussage den Akten zufügen, dazu bin ich verpflichtet. Und jetzt möchte ich Ihren Ausweis und Ihre Dienstwaffe!“
Anderl legte beides auf den Tisch.
IreneDorfner –
Auszug aus der PAN (Passauer Neue Presse) vom 03.06.2023 zum Buch:
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