Der 48. Fall aus der Leo-Schwartz-Krimireihe
1.
„Könnt ihr bitte mitkommen?“ Der Uniformierte blickte in die fragenden Gesichter der Kollegen der Mühldorfer Mordkommission.
„Warum?“, maulte Leo Schwartz.
„Es wurde etwas abgegeben.“ Mehr sagte der Mann nicht, der sich aber ein Grinsen nicht verkneifen konnte.
Der neunundfünfzigjährige Leo Schwartz hatte keine Lust, dem Kollegen zu folgen. Am gestrigen Sonntag und auch am Tag zuvor musste er seiner Vermieterin und Ersatzmutter Tante Gerda im Garten helfen. Jetzt litt er unter Muskelkater, der ihm jede Bewegung zur Qual machte. Theatralisch hielt er sich am Rücken und stöhnte, wobei er die Kollegen Hans Hiebler und Diana Nußbaumer ansah. Die machten aber keine Anstalten aufzustehen. Sie kannten Leo und seine Übertreibungen nur zu gut. Warum sollten sie ihn darin auch noch unterstützen?
„Würde einer von euch sich bequemen mitzugehen? Ihr seht ja, dass ich unerträgliche Schmerzen habe.“ Leo wurde ungeduldig und sah die Kollegen vorwurfsvoll an.
Diana stand auf. Hans dachte nicht daran, Leos Gejammer auch noch zu unterstützen.
„Sie müssen auch mitkommen, Kollege Schwartz. Vor allem Sie!“
„Warum ich?“
„Weil das, was abgegeben wurde, offenbar Ihnen gehört.“ Der Kollege übergab Leo mit einem fetten Grinsen einen Zettel.
„Leo Schwartz, Mordkommission“, las Leo vor, dann sah er den Kollegen an. „Warum haben Sie das, was offenbar mir gehört, nicht gleich mitgebracht?“
„Das wollte ich ja, aber die Treppenstufen waren ein Hindernis, deshalb entschied ich mich dagegen.“
„Ein Hindernis wofür?“
„Kommen Sie mit und sehen Sie es sich selbst an.“
„Mein Gott! Was ist denn das für ein Theater!“ Leo stand auf, wobei er laut stöhnte. Dass er sauer war, sah man ihm an.
Hans und Diana wurden neugierig und folgten Leo.
Als Leo und die Kollegen am Empfang der Mühldorfer Polizeiinspektion ankamen, trauten sie ihren Augen nicht. Dort standen ein Kinderwagen und eine dazugehörige Tasche. Leo sah in den Kinderwagen, darin lag ein schlafendes Baby.
„Verstehen Sie jetzt, was ich meine?“, grinste der uniformierte Kollege vielsagend. Leo bemerkte, dass nicht wenige der anderen Kollegen hinter der Sicherheitsscheibe der Anmeldung hämisch lachten und jede seiner Bewegungen beobachteten. Im ersten Moment war Leo nervös und hilflos. Er wusste nicht, was das sollte und was er damit zu tun hatte. Aber genauso schnell beruhigte er sich wieder, denn er war sicher, dass es dafür eine logische Erklärung gab.
Dann betrat Rudolf Krohmer die Polizeiinspektion. Der Chef der Mühldorfer Polizei sah in den Wagen und lächelte.
„Wen haben wir denn da?“
„Keine Ahnung“, sagte Leo und übergab dem Chef den Zettel.
„Ist das Ihr Kind?“
„Natürlich nicht. Ich weiß nicht, was das zu bedeuten hat.“
„Hat niemand etwas gesehen?“, wandte sich Krohmer an die Kollegen, die alle die Situation an der Anmeldung verfolgten. Außer Kopfschütteln gab es keine Reaktion. Krohmer fragte nochmals nach, leider vergebens.
„Das gibt es doch nicht! Niemand hat etwas gesehen? Da spaziert jemand mit Kinderwagen in die Polizei und keinen interessiert das?“ Krohmer war sauer. „Finden Sie heraus, was es damit auf sich hat“, wandte er sich Leo, Hans und Diana zu. Krohmer bemerkte, dass sie immer noch von den anderen Kollegen beobachtet wurden. „Haben Sie nichts zu tun? Los! An die Arbeit!“
„Was machen wir mit dem Kind, Chef?“ Dass die Kollegen gafften, war Leo völlig egal. Er an deren Stelle wäre auch daran interessiert, was hier los war, deshalb kümmerte er sich nicht darum.
„Für solch einen Fall gibt es Vorschriften. Zuerst muss das Jugendamt informiert werden, das dann weitere Schritte einleitet. Natürlich könnte man das Kind auch unterbringen, bis die Mutter ausfindig gemacht wird, was allerdings nicht üblich ist. – Das Kind wurde Ihnen anvertraut, Herr Schwartz, Sie entscheiden.“
„Ich möchte nicht, dass es den Behörden übergeben wird, zumindest nicht sofort. Wenn Sie erlauben, würde ich anders vorgehen. Keine vernünftige Mutter würde ihr Kind einfach abgeben, da steckt mehr dahinter. Vielleicht eine persönliche Tragödie? Eine Torschluss-Handlung? Ich weiß es nicht, aber das finden wir raus. Wir suchen nach der Mutter und geben ihr das Kind zurück. Das Polizeigebäude ist mit Kameras ausgestattet, das dürfte nicht allzu schwer werden. Sollten wir wider Erwarten die Mutter nicht finden, entscheiden wir neu.“
„Einverstanden.“
„Aber erst muss sich Fuchs das alles genau ansehen, um Spuren zu sichern. Niemand fasst den Kinderwagen und die Tasche an, verstanden?“
„Gute Idee, aber das machen wir nicht hier. Hier zieht es, das ist zu gefährlich fürs Kind“, entschied Krohmer. Kleinkinder waren empfindlich und solange das Baby in der Obhut seiner Polizei war, war er für dessen Wohl mitverantwortlich.
Leo zog Handschuhe an, nahm den Kinderwagen und die Tasche und ging damit zur Kantine, die im Erdgeschoss gut zu erreichen war. Inzwischen rief Hans die Spurensicherung. Friedrich Fuchs war erstaunt, dass der Einsatz diesmal im Haus stattfand. Dass es sich um ein Baby handelte, interessierte ihn nicht wirklich. Vom Kinderwagen, der Tasche und den darin befindlichen Gegenstände wurden Fingerabdrücke und sämtliche Spuren aufgenommen. Parallel kümmerte sich Diana um die Kameraaufzeichnungen, die sie jetzt auf einem Speicherstick zusammen mit ihrem Laptop bei sich hatte. Sie hätte sich die Bilder auch in Ruhe im Büro ansehen können, aber dann würde sie verpassen, was in der Kantine vor sich ging, und das wollte sie auf keinen Fall.
Das Baby schlief tief und fest. Alle verhielten sich sehr leise, um das Kind nicht zu wecken. Zwei Kollegen kamen laut schwatzend und lachend in die Kantine, wovon das Baby aufwachte. Alle kommentierten das mit verständnislosem Kopfschütteln. Das Kind weinte und schrie, aber niemand wusste, was zu tun war. Schließlich nahm Hans das Kind auf den Arm und versuchte es zu trösten, was ihm sehr gut gelang.
„Was ist es? Junge oder Mädchen?“, wollte Krohmer wissen.
„Keine Ahnung. Die sehen doch alle gleich aus“, sagte Hans.
„Das ist ein Junge, das Jäckchen ist hellblau“, meinte die dreiunddreißigjährige Diana.
„Das sagt heute doch nichts mehr“, brummte Leo. „Man kann Kindern doch heute alle möglichen Farben anziehen, schließlich leben wir nicht mehr im Mittelalter.“
„Wussten Sie, dass das mit der geschlechtsspezifischen Babykleidung noch vor gut einhundert Jahren genau andersherum war?“, bemerkte Krohmer, der diese Weisheit von seiner Frau hatte. „Früher war blau die Farbe der Reinheit und der Jungfrau Maria, weshalb man Mädchen blau anzog. Somit galt Rosa, das kleine Rot, als Farbe der Jungs. Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts war Blau die Farbe der Matrosen und der Arbeiter, erst dann wurden Jungs blau gekleidet und Mädchen rosa.“
„Wir werden das Geschlecht gleich herausfinden“, lachte Hans. „Riecht ihr das? Der kleine Wurm gehört dringend gewickelt. Ich habe keine Ahnung von Babys. Irgendwelche Freiwilligen?“
„Gib her, das ist doch kein Hexenwerk“, sagte Leo und stellte sich nicht ungeschickt an. „Ein Mädchen“, lächelte er, als er das Baby säuberte. Hans und Diana drehten sich zur Seite, beiden wurde fast schlecht von dem Gestank. Leo schien das nichts auszumachen, auch Krohmer verzog keine Miene. Als Leo eine frische Windel in die Hand nahm, hielt er kurz inne und sah Hans an. „Damit stimmt etwas nicht, gib mir eine andere.“ Er wog die andere Windel in der Hand und hielt sie ins Licht, gegen die hatte er nichts einzuwenden. Er brauchte einen Moment, um die Klebetechnik der Windel zu verstehen, schaffte es dann aber recht schnell und die Kleine war frisch gewickelt und angezogen.
„Gut gemacht, Herr Schwartz, ich bin beeindruckt“, klopfte Krohmer ihm auf die Schulter. Auch andere Kollegen, die die Szene beobachteten, nickten anerkennend.
Hans untersuchte die von Leo bemängelte Windel genauer, denn auch er merkte, dass damit etwas nicht stimmte. Sie war viel zu schwer, sehr viel schwerer als die anderen. Als er sie ins Licht hielt, fiel ihm ein weiterer Unterschied auf. Als er sie abtastete, fühlte er mindestens zwei harte Gegenstände, die dort nicht reingehörten. An der Windel war manipuliert worden, das bestätigten auch zwei stümperhafte Klebestellen. Mit einem Messer, das ihm Diana reichte, schnitt er die Windel vorsichtig auf – und fand darin zwei Edelsteine. Er legte beide auf den Tisch. Die Steine funkelten im Schein der vielen Deckenlampen.
„Donnerwetter!“, sagte Krohmer. Er nahm Gummihandschuhe und sah sich die Steine genauer an. „Ich bin kein Fachmann, aber ich denke, dass die echt sind. Wenn ich richtig liege, sind die ein Vermögen wert. Es geht also nicht nur um das Kind, sondern um sehr viel mehr.“
„Wir müssen die Kleine unterbringen und umfassende Ermittlungen einleiten“, entschied Leo und sah seinen Chef an. „Das Kind wurde uns anvertraut, das sollten wir sehr ernst nehmen. Sollten die Steine tatsächlich echt sein, sind die viel wert und daran sind bestimmt einige Leute interessiert. Solange wir nicht wissen, was das hier zu bedeuten hat, bleibt das Kind bei uns, die Edelsteine selbstverständlich auch. Würden Sie das übernehmen, Chef? Können Sie das Kind sicher unterbringen?“
„Das kann ich machen, obwohl mir nicht ganz wohl dabei ist. Aber ich bin Ihrer Meinung, Kollege Schwartz. Bis wir wissen, was das hier soll, bleibt das Kind in unserer Obhut. Wenn Sie fertig sind, Kollege Fuchs, werden die kleine Maus und ich jetzt gehen.“
„Ich habe alles, was ich brauche. Von mir aus können Sie gehen.“
„Sehr gut. Dann erwarte ich Ergebnisse. Dass Sie sich ab sofort nur noch um diesen Fall kümmern, muss ich nicht extra betonen?“ Krohmer sah dabei nicht nur Fuchs, sondern auch Leo, Hans und Diana an.
„Natürlich nicht.“
„Außerdem verlasse ich mich darauf, dass vor allem über das Kind nicht gesprochen wird. Instruieren Sie die Kollegen, die das Kind gesehen haben. Kein Wort darüber!“
„Alles klar. Wohin bringen Sie die Kleine?“
„Ich habe eine Idee, aber die behalte ich für mich. Solange wir nicht wissen, was das alles soll, halten wir den Aufenthaltsort der Kleinen geheim. Es ist besser, wenn niemand weiß, wo ich das Kind unterbringe. Dasselbe gilt auch für die Edelsteine.“
„Alles klar, Chef.“
Erst jetzt bemerkte Krohmer den Aufdruck auf dem T-Shirt des Kollegen Schwartz. Dort stand: ICH BIN NICHT STUR SONDERN MEINUNGSSTABIL.
„Endlich mal ein Spruch, der gut zu Ihnen passt.“
„Sie haben diesmal nichts dagegen einzuwenden?“, strahlte Leo.
„Eine angemessene Kleidung wäre mir zwar lieber, aber damit kann ich leben.“
Krohmer nahm die Diamanten, die Tasche und den Kinderwagen, drehte sich um und ging zu seinem Wagen. Er wusste sehr gut, wem er das Baby übergeben wollte, denn dafür gab es für ihn nur eine Lösung.
„Warum ich? Warum wurde die Kleine und damit die Steine mir anvertraut? Was soll das?“
„Für mich gibt es dafür nur eine Antwort: der- oder diejenige kennt dich persönlich und vertraut dir.“
„Das können nicht allzu viele sein.“
„Spinnst du?“, rief Diana. „Du kannst zwar unangenehm, sehr direkt und auch beleidigend sein, aber du bist zuverlässig und ehrlich. Ich persönlich kenne niemanden, der dir nicht vertrauen würde. Sehen wir uns die Überwachungsbilder an, dann sind wir schlauer.“
Leo, Hans und Diana waren enttäuscht. Die Überwachungsbilder waren zwar gestochen scharf, aber die Person, die den Kinderwagen zur Polizei brachte, war darauf nicht zu erkennen. Die Mütze war tief ins Gesicht gezogen, die Haare sah man nicht. Die Statur und Größe waren durchschnittlich, die Kleidung ebenfalls.
„Wir wissen noch nicht mal, ob das eine Frau oder ein Mann war“, maulte Hans, wobei Leo ihm zustimmte.
„Das ist eindeutig eine Frau, das sieht man am Gang“, meinte Diana.
„Bist du dir ganz sicher?“
„Ich bitte dich, das sieht man doch. Schau doch, wie die Frau geht. Bemüht gerade, den Kopf immer nach unten. Dass im und am Polizeigebäude Kameras hängen, ist dieser Person nicht unbekannt.“
„Was ist mit dem Fahrzeug?“
Diana schüttelte den Kopf.
„Auf den Aufzeichnungen deutet nichts auf ein Fahrzeug hin. Es sieht ganz danach aus, als wäre die fragliche Person zu Fuß gekommen.“
„Was für ein verdammter Mist! Wir haben bisher nichts, nicht den kleinsten Anhaltspunkt. Was sagt Fuchs?“
Hans rief Fuchs an, der aber auch nicht wirklich etwas beitragen konnte.
„Die Fingerabdrücke sind nicht in unserem System“, war die ernüchternde Antwort des Kollegen Fuchs. „Aufgrund der DNA-Spuren, die ebenfalls nicht registriert sind, kann ich nur mit Sicherheit sagen, dass es sich um weibliche DNA handelt. Und zwar von zwei Frauen.“
Die Kriminalbeamten waren noch enttäuschter als zuvor.
„Mehr haben Sie nicht?“
„Nein.“ Fuchs war enttäuscht, denn für die kurze Zeit hatte er für seine Begriffe sehr viel herausgefunden. Ohne einen Gruß legte er auf.
„Dann haben wir nur die Edelsteine.“ Hans warf seinen Kugelschreiber weit von sich. Die Chancen darauf, die Mutter schnell zu finden, waren gleich Null.
„Es gibt Eintragungen bezüglich der Geburt in Krankenhäusern und Standesämtern. Das wird eine Heidenarbeit werden, denn wir wissen ja noch nicht mal, wie alt das Kind ist und ob es hier überhaupt zur Welt kam. An die Arbeit, Leute, es gibt viel zu tun“, sagte Leo.
„Was machen wir mit der Presse?“
„Kein Wort zu niemandem, verstanden? Wenn das mit dem Kind und vor allem mit den Edelsteinen publik wird, ist die Hölle los. Das wird Wellen schlagen, die ich mir nicht vorstellen möchte. Spekulationen und Mutmaßungen, die uns alle nur aufhalten. Außerdem möchte ich mich nicht mit irgendwelchen Pseudo-Eltern herumschlagen, die nur scharf auf die Diamanten sind“, sagte Leo. „Absolutes Stillschweigen!“
„Dann halt du dich auch daran und plaudere zuhause nicht über den Fall“, sagte Hans. „Wenn deine Frau Wind davon bekommt, sind wir geliefert.“
Leo nickte, auch wenn er wusste, dass ihm das nicht leichtfallen wird. Seine Frau kannte ihn sehr gut und würde sehr schnell feststellen, dass er ihr etwas verheimlichte. Leo war sehr schlecht darin, Dinge vor seiner Frau zu verheimlichen, aber irgendwie musste er es schaffen, diesmal standhaft zu bleiben. Wie er das anstellen sollte, wusste er noch nicht.
Dass Sabine Schwartz in ihrer Funktion als Journalistin der örtlichen Tageszeitung das kleinste Problem werden würde, ahnte in dem Moment noch niemand…
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