Der 49. Fall aus der Leo-Schwartz-Krimireihe
1.
Dienstag, 5.30 Uhr, Töging, Gluckstraße 1
Die Angst hielt ihn auch heute wieder fest umklammert. Die Nacht war beschissen, wie alle anderen Nächte auch. Der siebenundvierzigjährige Alex Zankl konnte nicht schlafen und irrte durchs Haus. Wie immer. Er wusste, dass er unter Beobachtung stand, und das schon seit vielen Jahren. Wie viele Jahre seit damals vergangen waren? Er musste nicht lange nachdenken. Es waren sechs Jahre, vier Monate und zwölf Tage. Seit damals war nichts mehr so wie es war. Er hatte den Mord mit eigenen Augen gesehen. Eine junge Frau wurde erschossen, ihre Leiche wurde in den Inn geworfen. Einfach so, vor seinen Augen. Ja, er hatte nicht nur die Tat, sondern auch den Mörder gesehen, genauso wie dessen beide Handlanger. Und ja, er hatte sich einschüchtern lassen und nahm das Geld, das immer noch in dem Umschlag in der Schublade der Kommode lag. Keinen Cent hatte er angerührt. Das war für ihn schmutziges Geld, das er niemals anrühren würde. Warum er das Geld nahm und mit allem einverstanden war? Weil er Schiss hatte, ganz einfach. Er war noch nie der Mutigste gewesen, aber damals hatte er den Höhepunkt der Jämmerlichkeit erreicht, der nicht mehr abflachte. Seitdem lebte er in ständiger Angst, wagte es nicht, während seiner Freizeit vor die Tür zu gehen oder irgendwelche Kontakte zu pflegen. Er war einsam und vermeintlich sicher, solange er diese schrecklichen Männer nicht provozierte. Und das machte er nicht. Er ging zur Arbeit, erledigte Einkäufe und Arztbesuche. Mehr gab es seitdem nicht mehr, er saß nur noch zuhause. Während die ganze Welt über Corona jammerte, änderte sich dadurch für ihn nichts. Ganz im Gegenteil. Mit der schützenden Maske fühlte er sich sehr viel wohler. Aber damit war es schon lange vorbei, längst hatte der Alltag wieder alles fest umklammert und Corona war Geschichte. Alex Zankl führte ein langweiliges, ängstliches Leben, das keinerlei Ablenkung bot. Bis auf eine Zeugenaussage bei der Polizei wegen eines harmlosen Remplers auf dem Parkplatz eines Supermarktes in der Erhartinger Straße vor zwei Wochen gab es absolut keine Besonderheiten in seinem Leben. Alex verhielt sich ruhig. Und zwar so ruhig, wie es ihm damals eingetrichtert wurde. An die damaligen Schreie, Drohungen und brutalen Schläge konnte er sich auch nach all der Zeit noch sehr gut erinnern. Auch daran, dass in der Nähe eine Frau stand, die auch alles beobachtete. Er hatte noch versucht sie zu warnen, aber sie schien unfähig zu reagieren und blieb einfach stehen. Das konnte er so gut verstehen. Ob es ihr genauso erging wie ihm? Ob auch sie unter Druck gesetzt wurde und genauso litt wie er?
Seit damals hatte sich alles verändert. Hätte er diesen Mord nicht gesehen, könnte er leben wie jeder normale Mensch. Aber das war ihm nicht vergönnt. Tagaus, tagein lebte er in ständiger Angst. Und diese Verbrecher sorgten dafür, dass er seine Angst nicht verlor. In unregelmäßigen Abständen fand er Nachrichten in seinem Briefkasten, vor der Tür und an seinem Wagen. Immer wieder wurde er daran erinnert, sich ruhig zu verhalten und kein Wort über das zu sagen, was damals geschah. Die Drohungen waren unmissverständlich, und er fügte sich. Was sollte er auch anderes tun? Mutig sein und diese Verbrecher der Polizei ausliefern? Das wäre sein Todesurteil, davon war er überzeugt. Dieser einzige Tag, dieser kurze Moment am Inn veränderte sein ganzes Leben, und das vermutlich für immer. Warum er damals am Inn in der Nähe Neuöttings saß? Er ging einfach nur spazieren, wollte den Kopf freimachen von den ungerechten und fiesen Angriffen der hinterfotzigen Kollegen in der Baufirma, in der er seit fünfzehn Jahren in der Buchhaltung arbeitete. Er wollte sich damals nur auf diese Bank am Inn setzen und nachdenken, mehr nicht. Während dieser wenigen Minuten geschah der Mord fast vor seinen Augen. Alex Zankl schüttelte den Kopf, weil er so dumm gewesen war und sich genau zu dem Zeitpunkt dort aufhielt, aber daran konnte er nichts mehr ändern. Seit damals verhielt er sich ruhig und unauffällig und fügte sich – aber jetzt war alles anders. Vor einer halben Stunde hatte sich sein Leben erneut verändert. Was war passiert? Er hatte nichts getan, was diese Männer verärgern könnte. Aber sein einziger Freund war tot. Fassungslos starrte er auf die tote Katze vor seiner Haustür. Luis lebte nicht mehr. Mit Tränen in den Augen kniete er neben dem toten Tier, dessen Augen ihn anzustarren schienen. Vorsichtig hob er den Kopf an, um sich zu vergewissern, ob das auch wirklich sein Luis war. Der Knick im linken Ohr war deutlich zu sehen. Das war sein über alles geliebter Kater, ohne Zweifel. Er wollte ihn aufheben, aber seine Hände zitterten, also ließ er den Kopf wieder los. Dann sah er den Zettel, auf dem das Tier lag. Ganz vorsichtig, als wolle er seinem toten Luis nicht wehtun, zog er den Zettel hervor. Letzte Warnung, das nächste Mal bist du dran! stand darauf. Mehr nicht. Eine Nachricht wie viele vorher, aber zu dieser gab es seinen Kater als Leiche dazu. Das war mehr als eine Drohung. Alex Zankl wusste sehr gut, was mit diesem Satz gemeint war, auch wenn ihm der Grund dafür ein Rätsel war. Er stand auf und sah sich um. Dann entdeckte er einen Mann, der direkt vor seinem Grundstück unter der Laterne stand. Wer das war, konnte man nicht erkennen, aber es war eindeutig ein Mann.
„Was wollt ihr von mir? Ich habe nichts getan!“, schrie Alex aufgebracht in die Stille.
Der Mann sagte nichts darauf. Er sah ihn nur an. Sekunden vergingen, in denen nichts geschah. Und dann machte der Mann eine unmissverständliche Geste. Er hob den Arm und tat so, als würde er mit einer Pistole auf ihn zielen und dann langsam abdrücken. Eine Erklärung gab es nicht.
Alex Zankl nickte, die Warnung war angekommen. Fast genauso wie damals. Aber nur fast, denn diesmal waren diese Leute zu weit gegangen. Sie hatten seinen liebsten Freund getötet – und das durfte er nicht hinnehmen. Zum ersten Mal seit dem Ereignis am Inn spürte er Wut in sich. Er ballte die Hände zu Fäusten, atmete tief ein und beobachtete, wie der Fremde lachend in einen Wagen stieg und wegfuhr. Hier stand Zankl nun. Wütend, hasserfüllt und voller Trauer. Von Angst war nichts mehr zu spüren. Der fremde Mann war längst weg, aber Alex stand immer noch vor seiner Haustür. Alles war ruhig, die Bewohner der Gluckstraße und des angrenzenden Beethovenplatzes schienen noch zu schlafen. Für Zankl nichts Neues. Jeder kümmerte sich nur um sich selbst. Niemand interessierte sich für ihn und seine Probleme. Während sich Alex in Selbstmitleid badete, dachte er nur an seinen kleinen Freund Luis, der ihm vor zwei Jahren zugelaufen war und der seitdem sein bester, sein einziger Freund war. Warum hatte niemand seinem kleinen Liebling geholfen?
Alex holte einen Karton, legte Luis behutsam hinein und begann, unter Tränen im Garten ein Loch zu graben und seinen einzigen Freund zu beerdigen. Er brauchte lange, bis er endlich so weit war und ins Haus ging. Es war kalt geworden, außerdem war es inzwischen hell. Für Anfang November nicht ungewöhnlich. Alex setzte sich an den Küchentisch und weinte. So lange, bis er keine Tränen mehr hatte. Er nahm sein Smartphone und sah sich ein Foto nach dem anderen an. Niemand wusste, dass er Beweise der damaligen Tat besaß, die er sich jetzt nach all den Jahren zum ersten Mal wieder ansah. Jede Sekunde dieser schrecklichen Tat war präsent. Jedes Geräusch und jedes gesprochene Wort. Alles lief wie ein Film vor seinem inneren Auge ab. Ein Bild nach dem anderen sah er sich genau an. Der Mord geschah im Sommer. Er konnte die Vögel hören, das Wasser des Inns rauschte in seinen Ohren. Es war fast so, als säße er wieder dort. Dann erschien ein Foto, das nichts mit der Tat zu tun hatte. Er sah in das vertraute Gesicht des kleinen Luis, der ihm so viel gab und der wegen ihm sterben musste. Alex spürte erneut diese unglaubliche Wut in sich, sehr viel stärker als zuvor. Und dann fasste er einen Entschluss, der ihn selbst überraschte. Er hatte genug von diesem Leben und diesen Leuten. Es war an der Zeit, sich endlich zu wehren und Rache zu nehmen. Luis soll nicht umsonst gestorben sein. Dieser Mord an seinem kleinen Freund war ein Zeichen, da war er sich absolut sicher. Ein Zeichen dafür, sich endlich zusammenzureißen und sein Leben wieder zurückzubekommen. Und nicht nur das. Er wollte endlich ein Leben führen, wie er es sich wünschte. Unabhängig, mutig und frei. Jede Sekunde wollte er in sich aufsaugen und versuchen, das nachzuholen, worauf er verzichtet hatte. Um das zu erreichen, musste er sich wehren, sich seinen Gegnern stellen und sie vernichten.
Entschlossen ging er in den Keller und suchte nach einer bestimmten Schachtel, die er dort vor über zwanzig Jahren deponiert hatte – und zwar nach dem Tod seines Großvaters, der ein glühender Anhänger des Dritten Reichs und der damaligen Ideologie war. Alex teilte die Ansichten des alten Mannes nicht, liebte aber die hitzigen Diskussionen, die ihm besonders in den letzten Jahren der Einsamkeit fehlten. Großvater Adolf war nach dem frühen Tod der Mutter für seine Erziehung verantwortlich gewesen. Er war der einzige, der bereit war, sich um ihn zu kümmern. Während sich alle anderen abwandten und sich mit fadenscheinigen Erklärungen entschuldigten, stellte sich der betagte Mann der Verantwortung.
„Der Bub bleibt bei mir“, bestimmte er und alle anderen schienen erleichtert. Also wuchs Zankl bei ihm auf, in diesem Haus in der Gluckstraße 1. Der alte Mann war hart, aber gerecht. Alex erbte außer dem Haus nicht viel von Opa Adolf, schon gar nicht dessen Ansichten. Aber er erbte eine alte Armeewaffe und jede Menge Munition, die sein Opa von seinem Vater geerbt hatte und die er hegte und pflegte. Schon allein aus Sentimentalität behielt Alex diese Waffe, auch wenn er sich selbst immer als Pazifist bezeichnete. Damit war jetzt Schluss. Wo war diese verdammte Schachtel? Endlich fand er, wonach er suchte. Er hielt die Waffe in Händen, die gut eingefettet in einem Tuch sorgfältig eingewickelt war und an der kaum Spuren der vielen Jahrzehnte zu erkennen waren. Bilder seines Großvaters waren präsent, als er die Waffe wieder zurücklegte. Lächelnd nahm Alex die Schachtel mit nach oben. Dort setzte er sich an den Küchentisch und säuberte die Waffe so, wie es ihm Opa Adolf immer wieder gezeigt hatte. Alex legte die Patronen ein. Ob die noch funktionierten? Das musste er dringend vorher testen, schließlich musste jede Kugel sitzen.
Die alte Waffe glänzte im Schein der Deckenlampe. Wie eine Trophäe hielt Alex sie in Händen und lächelte immer noch. Er war zufrieden mit sich und spürte die Energie, die seinen Körper einnahm. Was für ein herrliches Gefühl. Opa Adolf wäre mächtig stolz auf ihn. Alex blickte nach oben und grüßte den toten Ersatzvater. Ob es so war, dass jetzt, mit Ende Vierzig, die Gene durchkamen? Es war ihm gleichgültig. Man zwang ihn dazu so zu sein, wie er nie werden wollte.
Alex Zankl stand entschlossen auf. Es konnte losgehen…
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