Psychothriller
2. Auflage 2020
Hardcover, 207 Seiten
1.
Als Manuela Kaufmann die tote Ratte in ihrem Briefkasten sah, wich sie unwillkürlich zurück. Sie hatte sich dermaßen erschrocken, dass sie sich einen kurzen Augenblick später übergeben musste. Der Schock über die gefährliche, rücksichtslose Fahrweise eines Verkehrsteilnehmers auf dem Nachhauseweg saß ihr immer noch in den Knochen. Es hätte nicht viel gefehlt, und sie wäre im Straßengraben gelandet. Zum Glück konnte sie über eine Parkbucht ausweichen, wodurch sie Schlimmeres verhindert konnte. Was war heute nur los?
Vorsichtig besah sie sich das tote Tier, dessen Augen sie anzustarren schienen. War das nur ein Streich dummer Kinder? Sie suchte in ihrer Tasche nach einem Papiertaschentuch. Sie nahm gleich drei davon und griff nach der Ratte. Sie hatte einen steifen, trockenen Körper erwartet, aber dieser hier war noch weich. Ein Schauer durchfuhr ihren Körper und sie ließ die Ratte fallen. Mit einem lauten Klatsch landete sie auf dem hellen Fliesenboden des Hochhauses der Aalener Straße in Orschel-Hagen, in das sie erst vor wenigen Monaten eingezogen war. Der Wohnort vor den Toren der schwäbischen Stadt Reutlingen war willkürlich von ihr gewählt worden. Sie hatte hunderte von Bewerbungen verschickt und von einer Spedition im Nachbarort bekam sie die erste Zusage, die sie sofort annahm. Der neue Wohnort war ihr genauso egal wie die neue Arbeitsstelle. Die Hauptsache war, dass beides weit genug von Nürnberg entfernt war. Es war ihr auch egal gewesen, in welchem Zustand die Wohnung und das Haus waren. Sie war auf der Suche nach Wohnraum, der ihr Schutz bot und in dem sie sich vielleicht endlich wieder sicher fühlen konnte. Ein Gefühl, das sie sehr lange vermisst hatte.
Die tote Ratte lag vor ihr. Daneben lag ihr Erbrochenes, für das sie sich jetzt schämte. Sobald der ekelhafte Tierkadaver beseitigt war, musste sie ihre Hinterlassenschaft beseitigen. Sie sah sich um. Von den vielen Nachbarn, deren Neugier sie sonst verfolgte, war gerade heute nichts zu sehen. Kein Kavalier, den sie um Hilfe bitten konnte, leider. Da es Kinder in dem Haus gab, konnte sie die Ratte dort nicht liegen lassen. Es blieb ihr also nichts anderes übrig, als sich erneut darum zu bemühen, das Tier zu packen und in die Abfalltonne vor der Haustür zu werfen. Auf die Papiertaschentücher musste sie verzichten, die waren nicht stabil genug. Wenn sie an den weichen Körper dachte, kroch der Würgereiz wieder nach oben. Sie hasste Ratten und Mäuse, sie hatte regelrecht Angst vor ihnen. Selbst Filme, in denen diese Nager vorkamen, konnte sie sich nicht ansehen. Trotzdem musste sie dieses grässliche Vieh wegschaffen.
Sie zog einen Blickpunkt, eine kostenlose wöchentliche Zeitung, aus einem der Nachbarbriefkästen, die ihr mit den vielen Prospekten darin stabil genug schien. Das musste reichen, etwas anderes hatte sie nicht. Mit dem Fuß schob sie die Ratte auf die Zeitung. Dann stutzte sie. War dem Tier etwas aus dem Maul gefallen? Sofort meldete sich wieder der Mageninhalt, denn das, was jetzt auf der Zeitung lag, war ein kleiner, klumpiger Brocken.
Aber…konnte das sein? Panik stieg in ihr auf. Vergessen war die Ratte, denn sie konzentrierte sich nur auf diesen Brocken. Vorsichtig nahm sie ihn mit einem Papiertaschentuch und drehte ihn im Licht. In diesem Moment ging die Beleuchtung aus. Sie drückte erneut auf den Schalter. Dann sah sie es: Ein kleiner, hellblauer Edelstein, den sie gut kannte. Ihr versagten die Knie und sie sackte auf die kalten Fliesen. Das Auto vorhin, das sie bedrängte, war kein Zufall. Und auch die Ratte war kein übler Scherz. Beides galt ihr, um ihr Angst zu machen: Er war wieder hier!
2.
Die Beamten des Polizeipostens Reutlingen-Nord in Orschel-Hagen waren freundlich, schienen sie aber nicht ernst zu nehmen.
„Sicher nur ein dummer Streich“, lächelte sie der Mann Anfang vierzig mitleidig an.
Manuela kannte das schon. Man hielt sie für überdreht und wollte sie schnell loswerden. Aber sie ließ sich nicht mehr abwimmeln. Das, was sie viele Jahre durchmachen musste, hatte sie fast in den Wahnsinn getrieben. Vor einem Jahr hatte sie sich gegen ihren Peiniger zur Wehr gesetzt und hatte ihn angezeigt. Danach hatte sie ein neues Leben angefangen, was mit Ende dreißig nicht ganz leicht war. Sie war sich sicher gewesen, alles hinter sich gelassen zu haben, aber die Vergangenheit hatte sie wieder eingeholt.
„Ich möchte gegen Walter Neubert Anzeige erstatten“, bestand sie auf ihr Anliegen. Bewusst verzichtete sie auf die Bezeichnung Herr, die Walter nicht verdient hatte.
„Sie haben Beweise, dass dieser Herr Neubert Sie mit dem Wagen bedrängt hat und Ihnen auch die Ratte in den Briefkasten gesteckt hat?“
„Beweisen kann ich das nicht, aber ich bin mir sicher, dass er es war.“
Der Mann, auf dessen Brust der Name Kimmerle prangte, lächelte gequält.
„Ich kann leider nicht aufgrund einer Vermutung eine Anzeige aufnehmen, das müssen Sie verstehen, Frau Kaufmann.“
„Vielleicht überzeugt sie das“, sagte Manuela und zog eine dicke Mappe aus ihrer riesigen Handtasche. „Sehen Sie sich die Unterlagen durch. Darin werden sie mehrere Anzeigen gegen Herrn Neubert finden, für die es genug Beweise gab. Der Mann darf sich mir nicht weiter als fünfzig Meter nähern.“
Kimmerles Interesse war geweckt, als er auf die prall gefüllte Mappe starrte. Es war spät und er war müde. Durch die Urlaubszeit waren sie unterbesetzt, was sich in vielen Überstunden bemerkbar machte. Es war heute Abend sehr ruhig, also blätterte er die Unterlagen durch. Mit jedem einzelnen Blatt wurde er wütender. Es war unvorstellbar, was diese Frau durchgemacht hatte. Sie wurde wie ein Tier gehalten und verprügelt, die vielen Fotos der Verletzungen waren eindeutig und widerten ihn an. Trotzdem hatte sie ihren Peiniger angezeigt und es gab eine Gerichtsverhandlung. Kimmerle war nicht überrascht, dass trotz der vielen Gutachten der Gegenseite zugunsten der Frau entschieden wurde, denn die Beweislast war eindeutig. Neben einer hohen Geldstrafe bekam Neubert nur zwei Jahre auf Bewährung, was er vermutlich auch den vielen Leumundszeugen zu verdanken hatte. Für Kimmerle ein viel zu mildes Urteil, aber das hatte er nicht zu bewerten. Er fand den gerichtlichen Bescheid, den Frau Kaufmann eben erwähnt hatte. Dabei fiel ihm auf, dass das Gericht in Nürnberg die ausstellende Behörde war.
Manuela folgte den Blicken des Beamten und verstand.
„Walter Neubert blieb trotz des Urteils auf freiem Fuß. Um diesem Mann zu entkommen, bin ich Anfang diesen Jahres nach Orschel-Hagen gezogen. Ich wollte und musste nochmals von vorn anfangen, in Nürnberg fühlte ich mich nicht mehr sicher. Walter hat mich gefunden! Er wird mich nicht mehr in Ruhe lassen. Der Fahrer des Fahrzeugs heute Abend war ganz sicher er. Und das mit der Ratte war auch Walter. Sie müssen mir glauben!“
„Beruhigen Sie sich, Frau Kaufmann“, sagte Kimmerle, der Mitleid mit der Frau hatte. Was der Frau unter anderem widerfahren war, war ein Paradebeispiel für häusliche Gewalt und Stalking, was ihn persönlich wütend machte. Trotzdem waren ihm die Hände gebunden. „Es tut mir sehr leid, aber für Ihre Anschuldigungen brauche ich Beweise, sonst kann ich nichts für Sie tun.“
„Ich bin mir sicher, dass er es war. Dieser Aquamarin ist der Beweis dafür!“ Manuela breitete das Papiertaschentuch aus. Kimmerle verzog angewidert das Gesicht, denn an dem Stein klebte noch Blut, das sicher von der Ratte stammte, von der Frau Kaufmann ein Foto gemacht hatte, bevor sie sie in der Restmülltonne entsorgt hatte.
„Vielleicht ist das nur ein Zufall und die Ratte hat den Stein sonst woher.“
Manuela kramte erneut in ihrer Tasche und zog ein Foto aus ihrer Brieftasche.
„Das ist Walters Mutter. Sehen Sie sich die Kette an und achten sie auf die Steine.“
„Blaue Steine. Ich muss zugeben, dass sich die Form der Steine ähneln. Ob die identisch mit diesem sind, kann ich nicht sagen, damit kenne ich mich nicht aus.“
„Jeder Juwelier wird Ihnen bestätigen können, dass die Steine identisch sind.“ Manuela wurde lauter, da dieser Polizist offenbar nicht verstand, wie wichtig diese Steine im Zusammenhang mit Walter waren. „Diese Kette hat zwölf Aquamarine. In der Vergangenheit hat mir Walter acht dieser Steine gegeben oder irgendwie zukommen lassen. Es schien ihm Spaß zu machen, mich in Panik zu versetzen. Die Steine lagen immer gut sichtbar in einer Schale auf dem Esszimmertisch. Wenn Walter der Meinung war, dass ich ihn über die Maßen verärgert hatte, gab er mir einen Stein oder ließ ihn mir zukommen – dabei war er sehr kreativ. Einmal fand ich einen Stein in einer Banane versteckt. Sobald ich einen der Steine hatte, wusste ich, dass er mich bestrafen würde. Auch hierbei ließ er sich immer etwas Besonderes für mich einfallen. Einige Male hat er mich einfach nur zusammengeschlagen, wobei das noch die harmloseste Bestrafung war. Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass er mich in einem Steinbruch in den Wagen setzte und ans Lenkrad fesselte. Er übergoss das Auto mit Benzin und ließ für mich gut sichtbar Streichhölzer aufflammen. Vier Stunden lang hat er mich damit gequält, danach musste ich ohne Schuhe fünf Kilometer nach Hause laufen. Ein anderes Mal sperrte er mich für drei Tage gemeinsam mit zwei Ratten in das eigens für mich gebautes Kellerzimmer. Fotos davon finden Sie in den Unterlagen. Walter wusste, dass ich mich vor Ratten ekle, weshalb er mir auch diese heute zukommen ließ. Wollen Sie weitere Beispiele hören, wie mich Walter gequält hat? Würde es sie überzeugen, wenn ich Ihnen sage, dass ich eine ganze Nacht mit gefesselten Händen und einer Schlinge um den Hals auf einem Stuhl stehend verbringen musste? Einmal hatte er mich spät abends zu einem Baggersee gebracht hat, wo ich mich ausziehen und ans andere Ufer schwimmen musste, während er mit einem Schlauchboot nebenher paddelte und mir die unterschiedlichsten Fragen stellte. Wenn ich falsch antwortete, drückte er mich mit dem Paddel unter Wasser. Er nannte das ein Quiz, während ich um mein Leben kämpfte. Überzeugt sie dieses Beispiel auch nicht? Nach den Bestrafungen gab er immer mir die Schuld dafür, dass er so grob sein musste.“ Manuela musste schwer schlucken, die Erinnerungen daran waren sehr schwer für sie. „Walter ist ein Psychopath, aber niemand hat mir wirklich geglaubt. Walter ist charmant und gebildet, außerdem kommt er aus einer sehr angesehenen, reichen Familie. Walter hat mich systematisch zu seinem Eigentum gemacht und nahm sich das Recht heraus, mit mir machen zu dürfen, was er wollte. Sobald ich mich mit irgendjemandem angefreundet habe, hat er das durch Lügen zerstört. Zwei Jobs habe ich wegen ihm verloren, bis ich schließlich keine Anstellung mehr gefunden habe. Überall hatte Walter seine Finger im Spiel. Ich sollte kein eigenes Leben führen, ich durfte nur für ihn da sein. Die besten Anwälte und viele Leumundszeugen, die ich noch nie vorher gesehen habe, haben das milde Urteil bewirkt. Nur die Arztberichte und Fotos meiner Misshandlungen haben überhaupt dazu geführt, dass er verurteilt wurde. Nach der Verhandlung ging er an mir vorbei. Unhörbar für alle drohte er mir. Er sagte mir, dass er mich überall finden würde und dass wir füreinander bestimmt seien. Die letzten Worte haben sich in meinem Kopf eingehämmert: Entweder du nimmst mich, oder du stirbst.“ Manuela zitterte am ganzen Körper. Ihre Ausführungen ließen auch Kimmerles Kollegen aufhorchen, die nicht fassen konnten, was die Frau erzählte. „Bitte verstehen Sie doch: Dieser Stein, den mir Walter heute zukommen ließ, ist die Nummer neun.“
Kimmerle verstand die aufgebrachte Frau, aber er konnte trotzdem nichts für sie tun.
„Für mich sehen die Steine auch gleich aus, aber das allein wird für eine Anzeige nicht ausreichen. Solange nichts Konkretes gegen Herrn Neubert vorliegt, sind uns leider die Hände gebunden.“
„Aber es gibt nur noch drei dieser Steine! Was passiert, wenn er mir die irgendwie alle zukommen lässt? Was passiert dann?“
„Das weiß ich nicht.“
„Ich kann Ihnen sagen, was dann passiert: Sobald ich den zwölften Stein habe, wird Walter mich töten!“
3.
Manuela Kaufmann hatte vergeblich versucht, Hilfe von der Polizei zu bekommen und musste unverrichteter Dinge wieder gehen. Traurig packte sie ihre Mappe wieder ein und ging. Seit diesem Fund fühlte sie sich um Monate zurückgeworfen und wurde wieder zu der eingeschüchterten, ängstlichen Frau, wie Walter sie haben wollte. Sie ging zu ihrem Wagen, wobei sie sich ständig umsah. Sie spürte, dass Walter hier irgendwo war. Aber wo?
Stefan Kimmerle war untröstlich und sah der Frau hinterher. Sie hatte Angst und auch jeden Grund dazu. Trotzdem durfte er eine Anzeige nicht ohne Beweise aufnehmen. Die Kollegen waren sprachlos und starrten Kimmerle an.
„Können wir wirklich nichts für die arme Frau tun?“, fragte Horst Deutschle immer noch sehr ergriffen.
„Was denn? Ohne Beweise? Denkst du, der Stein reicht für eine Anzeige aus?“
„Kaum. Schade, ich hätte der Frau sehr gerne geholfen.“
„Denkst du, ich nicht?“
Kimmerle tippte den Namen Walter Neubert Nürnberg in den Computer. Auf dem Bildschirm tauchte das Bild eines Mannes auf, der völlig harmlos aussah. Trotzdem war er aktenkundig, was den Anzeigen von Manuela Kaufmann und der damit zusammenhängenden Gerichtsverhandlung zu verdanken war. Fassungslos starrte Kimmerle auf das Gesicht, Deutschle stand hinter ihm.
„Das ist der Beweis dafür, dass du den Menschen wirklich nicht ansiehst, welche Sadisten und Psychopathen dahinterstecken können. Wenn mir der Typ auf der Straße begegnen würde, würde ich niemals glauben, zu was der alles fähig ist. Wenn ich doch nur mal so einen in die Finger kriegen könnte.“ Horst Deutschle war sein Leben lang Polizist mit Leib und Seele gewesen. Aber seine Tage im Polizeidienst waren gezählt. Er war krank und seine Pensionierung war nur noch eine Frage von Monaten. Trotzdem würde er nicht vor einer Konfrontation mit einem solchen Verbrecher zurückschrecken, auch wenn seine beste Zeit schon hinter ihm lag.
Nur noch eine halbe Stunde, dann hatte Kimmerle Feierabend. Frau Kaufmann ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Es kam nicht selten vor, dass er es mit häuslicher Gewalt und auch Stalking zu tun hatte. Die ängstlichen Augen der Opfer ließen ihn oft nicht zur Ruhe kommen, das ging auch an Polizeibeamten nicht spurlos vorbei. Das, was Frau Kaufmann erzählt hatte und was er dazu in den Unterlagen gelesen hatte, war einfach nur grausam und ekelhaft. Er hätte der Frau gerne geholfen, aber ihm waren die Hände gebunden.
Manuela Kaufmann sah immer wieder in den Rückspiegel. Sobald Scheinwerfer darin auftauchten, wurde sie panisch. Sie verriegelte die Türen von innen, auch wenn das nicht viel helfen würde. Wenn Walter es auf sie abgesehen hatte, konnte ihn nichts und niemand davon abhalten. Zum Glück war der Weg nach Hause nicht zu weit. Sie stellte den Wagen ab, griff nach dem Pfefferspray und rannte auf den Eingang des Hochhauses zu. Rasch machte sie die Tür zu, wobei sie es unterließ, das Licht einzuschalten. Sie wartete und sah nach draußen, aber nichts geschah. Als sich die Tür des Aufzugs hinter ihr schloss, atmete sie erstmals auf. Die sechste Etage war erreicht. Ob Walter vor ihrer Tür auf sie wartete? Sie umklammerte das Pfefferspray und war auf das Schlimmste gefasst.
Walter Neubert war immer in ihrer Nähe. Er war verärgert darüber, dass Manuela zur Polizei gegangen war. Hatte er ihr das nicht verboten? Und hatte sie nicht gelernt, dass sie ihn dadurch nicht abwimmeln konnte? Er konnte der Liebe seines Lebens ansehen, dass sie Angst hatte, was ihn wiederum freute. Nicht mehr lange, und er hatte sie genau da, wo er sie haben wollte.
Walter Neubert dachte nicht daran, seiner Angebeteten jetzt schon zu nahe zu kommen. Noch nicht, die Zeit war noch nicht reif. Außerdem hatte er sich für Manuela viel einfallen lassen. Die Freude daran wollte er sich nicht mit einem zu schnellen Vorpreschen verderben.
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4.
Drei Tage vergingen.
Der Polizeibeamte Stefan Kimmerle musste immer wieder an die ängstliche Frau denken, der er nicht helfen konnte. Ein paar Mal war er an dem Hochhaus vorbeigefahren. Er kannte Neuberts Kfz-Kennzeichen auswendig und hielt Ausschau danach, aber davon war weit und breit nichts zu sehen. Ob sich die Frau nicht doch geirrt hatte und alles nur ein dummer Zufall war? Nein, daran glaubte er nicht. Dieser Psychopath war hier irgendwo. Irgendwann würde dieses Arschloch aus seinem Loch kriechen und zuschlagen – und Kimmerle musste zumindest versuchen, das zu verhindern.
Stefan Kimmerle hatte Feierabend und auch heute nahm er wieder den kleinen Umweg über die Aalener Straße. In den letzten Tagen hatte er sich gemeinsam mit den Kollegen viele Gedanken darüber gemacht, wie sie der Frau helfen könnten. Es gab einige wichtige Ansatzpunkte, die vor allem von Horst Deutschle kamen. Der ältere Kollege hatte nach den vielen Dienstjahren reichlich Erfahrung und die war jetzt Gold wert. Kimmerle musste mit Frau Kaufmann sprechen, aber dafür war es heute schon zu spät. Wenn er jetzt bei ihr klingelte, würde er sie nur erschrecken. Trotzdem wollte er auch heute wieder an ihrem Haus vorbeifahren und nach dem Rechten sehen, nur ganz kurz.
Kimmerle sah den Wagen mit dem Nürnberger Kennzeichen sofort. Frau Kaufmann hatte absolut Recht gehabt, Neubert war hier.
Kimmerle hielt an und stieg aus, wobei er seine Hand an der Waffe hielt. In dem Wagen saß ein Mann, das musste Walter Neubert sein. Je näher er dem Wagen kam, desto deutlicher erkannte er das Gesicht des Mannes, dem er am liebsten eine reingehauen hätte. Aber das durfte er nicht. Er musste sich zusammenreißen und sachlich bleiben, auch wenn ihm das diesem Mann gegenüber sehr schwer fiel. Kimmerle klopfte an die Scheibe.
„Was ist los?“ Walter Neubert hatte eine tiefe Stimme.
„Guten Abend. Fahrzeugpapiere und Führerschein bitte.“
„Warum? Ich sitze nur hier in meinem Wagen, das ist nicht verboten.“
„Und ich möchte Ihre Papiere sehen. Wenn ich bitten darf?“
Walter Neubert war stinksauer. Wegen eines dringenden Termins hatte er nach Nürnberg fahren müssen und dadurch drei wertvolle Tage vergeudet. Erst seit zwei Stunden war er wieder hier. Niemand außer Manuela sollte wissen, dass er sie gefunden hatte. Offiziell durfte er sich ihr nicht nähern, aber noch hatte er die vorgeschriebene Grenze nicht unterschritten. Murrend gab er dem in seinen Augen übereifrigen Provinzpolizisten die Papiere.
Kimmerle war nicht überrascht, als er den Namen des Mannes las, der sich Frau Kaufmann nicht nähern durfte. Er entschied, sein Wissen vorerst für sich zu behalten.
„Was machen Sie hier?“
„Nichts.“ Walter Neubert fiel keine passende Erklärung ein. Was hätte er auch sagen sollen?
„Bitte fahren Sie weiter.“
„Warum?“
„Anwohner haben sich beschwert“, log Kimmerle. „Wenn Sie hier nichts verloren haben, möchte ich Sie bitten, meiner Aufforderung nachzukommen.“
Murrend startete Neubert den Wagen. Da der Polizist keine Anstalten machte, zu seinem Wagen zu gehen, blieb Neubert nichts anders übrig, als wegzufahren. Das passte ihm nicht. Er hatte drei Tage wegen diesem blöden, in seinen Augen völlig überflüssigen Termin, auf den sein Vater bestanden hatte, verloren. Jetzt musste er an Manuela dranbleiben und jede noch so kleine Information sammeln, denn noch wusste er nicht allzu viel. Er musste sie noch mehr ängstigen, denn noch ging es ihr nicht schlecht genug. Solange sie den Mut hatte, zur Polizei zu gehen, war sie noch nicht am Boden, und das musste er ändern. Während der Zeit, in der er vor dem Hochhaus auf Manuela wartete, hatte er sie nicht gesehen. Hätte sie nicht längst von der Arbeit zurückkommen müssen? In ihrer Wohnung brannte kein Licht, also konnte sie noch nicht hier sein. Oder etwa doch? Wollte ihn das kleine Luder an der Nase herumführen, wie sie es so oft getan hatte? Er musste seinen Posten verlassen, dieser Trottel von Polizist bestand darauf. Spätestens in einer halben Stunde war er wieder zurück und musste sich überlegen, wie er an den Schlüssel ihrer Wohnung kommen konnte.
Kimmerle sah dem Wagen hinterher und hatte kein gutes Gefühl. Die Augen des Mannes waren eiskalt, der Typ war sicher zu allem fähig. Die Angst von Frau Kaufmann war nicht unbegründet. Er musste dringend die Kollegen informieren. Er stieg in seinen Wagen und beschloss, noch zu bleiben und abzuwarten, ob Neubert wieder zurückkam. Wäre der Mann so dreist, sich seiner Anweisung zu widersetzen?
Tatsächlich kam der Wagen nach knapp dreißig Minuten zurück. Als der Fahrer ihn bemerkte, gab er Gas und fuhr mit hoher Geschwindigkeit an ihm vorbei. Das war die letzte Bestätigung für Kimmerle, dass man Neubert sehr ernst nehmen musste. Er rief die Kollegen an. Dass Kimmerle Neubert persönlich gesehen und gesprochen hatte, versetzte alle in Alarmbereitschaft. Sie kamen überein, in der Aalener Straße vermehrt Streife zu fahren und die Augen offen zu halten.
„Warum hast du den Typen nicht gleich festgenommen? Hast du nicht gesagt, es gibt eine gerichtliche Anordnung, dass er sich der Frau nicht nähern darf?“, fragte Horst Deutschle.
„Ja, die gibt es. Allerdings hat er sich außerhalb der fünfzig Meterzone aufgehalten, mir waren die Hände gebunden.“
„Verdammter Mist!“
Manuela Kaufmann war völlig am Ende. Sie hatte in den letzten Tagen kein Auge zugetan. Auch die Beruhigungstabletten, die sie seit Monaten nicht mehr gebraucht hatte, waren nun wieder ihre ständigen Begleiter. Bei ihrer Arbeitsstelle hatte sie sich krankgemeldet. Sie wagte es nicht, die Wohnung zu verlassen, denn draußen wartete Walter auf sie. Wieder und wieder kontrollierte sie alle Fenster und sogar die Balkontür, auch wenn es unwahrscheinlich war, dass sich Walter im sechsten Stock Zugang verschaffen konnte. Trotzdem fühlte sie sich für einen sehr kurzen Moment sicher, wenn sie alles kontrolliert hatte, was leider nicht lange anhielt. Es begann wieder die alte Manie, alles wieder und wieder kontrollieren zu müssen.
Sie setzte sich in die für sie sicherste Ecke des Wohnzimmer, von wo aus sie den besten Überblick hatte. Am Abend, wenn es dunkler wurde, vermied sie es, Licht anzuschalten. Nach außen sollte der Eindruck erweckt werden, dass sie verreist sei. Ob Walter ihr das abnahm? Walter! Der Mann war von ihr besessen und würde sie nicht in Ruhe lassen. Wie war sie nur auf die dumme Idee gekommen, ihm davonlaufen zu können? Er war sicher wütend darüber, was sie ihm durch die Gerichtsverhandlung und den damit verbundenen Strafen angetan hatte. Sie ahnte, dass sie sein ganzer Zorn treffen würde, sie konnte ihm nicht entkommen. Aber noch war sie in Sicherheit, solange sie in der Wohnung blieb und sich draußen nicht blicken ließ.
Der Plan hatte einen Haken: Die Vorräte waren langsam aufgebraucht. Es gab nur noch eine Dose mit Bohnen und zwei mit Pfirsichen, sonst nichts. Sie befand sich in einer Zwickmühle. Auf der einen Seite brauchte sie dringend Nahrungsmittel; dafür musste sie die Wohnung verlassen und ihr schützendes Umfeld aufgeben. Auf der anderen Seite lauerte Walter draußen auf sie und würde zuschlagen, sobald sich ihm die Gelegenheit bot. Entweder verhungerte sie, oder sie fiel Walter in die Hände – beides bedeutete ihren Tod. Aber noch gab sie nicht auf. Sie öffnete die Dose Bohnen und aß gierig. Zwei Stunden später konnte sie nicht anders und machte sich über die Pfirsiche her. Sie ärgerte sich darüber, dass sie sich nicht hatte zurückhalten können. Jetzt gab es nur noch eine Dose Pfirsiche, dann war nichts mehr zu essen da. Wie lange würde die ausreichen?
5.
Jede einzelne Minute war eine Qual für Manuela. Auch in dieser Nacht fand sie keine Ruhe. Neben den Lebensmitteln gingen nun auch ihre Medikamente zur Neige, was sie als sehr viel schlimmer empfand. Sie brauchte die Beruhigungsmittel und die Kapseln gegen ihre Angstzustände, daran klammerte sie sich und ohne die konnte sie nicht überleben. Beide Medikamente waren leer, woraufhin sie einen Weinkrampf bekam. Was nun? Es blieb ihr nichts anderes übrig: Sie musste das Haus verlassen um einzukaufen und ihren Arzt aufzusuchen, damit er ihr ein Rezept ausstellte. Ob sie das schaffen würde? Noch in der Nacht konnte sie sich nicht zurückhalten und aß auch die letzte Dose, wobei ihr die Pfirsiche nicht wirklich schmeckten. Bei jedem Bissen wusste sie, dass das Unvermeidliche näher rückte: Sie musste endlich aus dem Haus!
Am nächsten Morgen um kurz vor neun Uhr nahm sie all ihren Mut zusammen und verließ die Wohnung, nachdem sie bei ihrem Arzt anrief und um das Rezept für beide Medikamente bat. Der Moment, als sie die Tür aufsperrte und jeden einzelnen Riegel zur Seite schob, fiel ihr unendlich schwer. In ihrer Jackentasche war das Pfefferspray, das sie fest umklammert hielt. Sie musste sich zwingen, sich nicht ständig umzusehen. Sie durfte es nicht zulassen, Walter zu zeigen, dass er sein Ziel erreichte und dass sie sich ängstigte. Auch, wenn sie dadurch riskierte, ihn zu reizen. Gestern hatte sie im Internet, überraschenderweise ganz legal, einen Taser für knapp fünfzig Euro bestellt. Schon wenige Minuten später bekam sie die Nachricht, dass ihre Bestellung bereits auf dem Weg sei und für heute war die Lieferung angekündigt. Sehr gut. Mit diesem Gerät würde sie sich vielleicht sicherer fühlen.
Der Einkauf war eine Tortur. Hinter jedem Regal vermutete sie Walter, weshalb sie rasend schnell Dinge in den Einkaufswagen einlud, was sonst nicht ihre Art war. Sie wusste und spürte, dass Walter hier irgendwo war, aber wo? Würde er es wagen, ihr hier etwas anzutun, wo es von Menschen nur so wimmelte? Nichts geschah. Sie konnte unbehelligt einkaufen und fuhr zu ihrem Arzt, wo das Rezept erfreulicherweise für sie bereitlag. Sie hatte keine Lust auf ein Arztgespräch, da der doch nur versuchen würde, ihr die Einnahme auszureden. Das kannte sie aus früheren Zeiten und darauf konnte sie gerne verzichten. Der Apotheker machte sie auf die Risiken aufmerksam, was sie nicht interessierte. Der Mann machte sich in ihren Augen nur wichtig. Dass sie sehr schlecht aussah und dass sich der Mann Sorgen machte, ahnte sie nicht. Ohne Kommentar nahm sie die Medikamente, die sie die nächsten Tage leichter überstehen ließen.
Zuhause angekommen, trat der freundliche Nachbar Andreas Grießer auf sie zu. In seiner Hand hielt er ein kleines Paket, das er für sie angenommen hatte. Das war der Taser, den sie sehnlichst erwartete! Der handliche Elektroschocker würde von nun an ihr ständiger Begleiter werden. Grießer war erschrocken über das Aussehen der hübschen, aber sehr scheuen Nachbarin, von der er nicht viel wusste. Seit Tagen hatte er sie nicht gesehen und sich deshalb Sorgen gemacht. Jetzt, wo sie vor ihm stand und ihm das Päckchen mit einem gemurmelten Dankeschön fast aus der Hand riss, wurden seine Sorgen noch größer. Was war passiert?
Manuela ließ den Mann einfach stehen. Vollbepackt fuhr sie mit dem Lift nach oben. Alles war prima gelaufen, sie hätte sich nicht so viele Sorgen machen müssen. Schon als sie den Schlüssel ins Schloss steckte, bemerkte sie, dass etwas nicht stimmte. Sie hatte sich angewöhnt, immer zwei Mal abzuschließen, was diesmal nicht der Fall war. Was war hier los? In Panik ließ sie ihre Einkäufe fallen und rannte zum Lift. Sie nahm nur das Päckchen und ihre Handtasche mit, die über ihrer Schulter hing. Sie riss das Päckchen auf und griff nach dem Taser, den sie fest umklammert hielt und der hoffentlich funktionierte. Die Verpackung ließ sie achtlos liegen. Sie musste weg hier, und zwar so schnell wie möglich. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis der Lift endlich kam, und es dauerte noch viel länger, bis sich die Tür endlich schloss. Nun hielt sie den Taser mit beiden Händen, da sie vermutete, auf Walter zu stoßen, sobald sie im Erdgeschoss ankam. Vor ihr stand tatsächlich ein Mann, aber nicht Walter. Es war schon wieder der zweiundfünfzigjährige Andreas Grießer aus dem vierten Stock, der erschrocken einen Schritt zurückwich, als er Manuela und ihre Bewaffnung sah. Sie hätte sich erklären können, tat das aber nicht, dafür war keine Zeit. Sie rannte grußlos an ihm vorbei. An ihrem Wagen angekommen suchte sie hektisch in ihrer Jackentasche nach dem Autoschlüssel.
„Hallo, meine Schöne.“
Die Stimme erkannte sie sofort. Schon bei der ersten Silbe gefror ihr das Blut in den Adern. Sofort hielt sie ihren Taser in die Richtung, aus der die Stimme kam.
„Beruhige dich, ich tu dir doch nichts.“
Jetzt sah sie ihn. Er tauchte hinter einem der parkenden Autos auf, hinter dem er sich verkrochen hatte. Sie war ihm ins Netz gegangen. Er hatte gewusst, dass sie sofort flüchten würde. Sie ärgerte sich über sich selbst, aber noch größer war ihre Angst. Was hatte Walter vor? Er kam auf sie zu und sie wich einen Schritt zurück. Mehr Platz hatte sie nicht, denn sie stand mit dem Rücken am nächsten Fahrzeug. Wohin sollte sie gehen, wenn er noch näher kam?
„Du hast gemerkt, dass ich in deiner Wohnung war? Natürlich hast du das, schließlich habe ich nur einmal abgeschlossen. Du fragst dich, woher ich den Schlüssel habe? Dein Hausmeister ist keine große Leuchte. In einem unbeobachteten Moment habe ich ihm den Ersatzschlüssel einfach abgenommen. Du kannst mir nicht entkommen, meine Schöne. Ich werde dich überall finden, das weißt du doch. Warum sagst du nichts? Freust du dich denn nicht, mich nach so langer Zeit wiederzusehen?“
„Verschwinde!“, schrie Manuela hysterisch.
„Sei doch nicht so unfreundlich. Ich verzeihe dir alles, was du getan hast, wenn du mit mir nach Hause kommst. Wir beide sind füreinander bestimmt. Nichts und niemand wird uns trennen können, das ist uns doch beiden klar.“
„Du sollst verschwinden, sonst rufe ich die Polizei!“
„Es gefällt mir nicht, wie garstig du zu mir bist. Sobald wir zuhause sind, werde ich dir das wieder abgewöhnen. Bitte komm zurück und mach keinen Ärger, sonst muss ich böse werden.“ Walter Neuberts Stimme wurde lauter und bedrohlicher.
„Ich komme nicht zurück. Geh nach Hause und lass mich in Ruhe!“
„Du weißt, dass ich das nicht kann. Ich will und kann nicht ohne dich leben. Wir beide sind Seelenverwandte, so etwas gibt es nicht oft. Verstehst du denn nicht, was für ein Glück wir haben? Ich bitte dich nochmals: Komm mit mir nach Hause!“
„Niemals!“, flüsterte sie. Ihre Knie zitterten, und jetzt zitterten auch ihre Hände. Walter konnte das sehen und das wollte sie nicht, aber sie konnte nichts dagegen unternehmen.
„Was willst du jetzt tun, mein Engel? Willst du mich mit dem Spielzeug in deiner Hand daran hindern, dich zurückzuholen? Das ist doch lächerlich, davon lasse ich mich nicht abhalten, du müsstest mich eigentlich besser kennen. Komm endlich zur Vernunft, Manuela. Komm zu mir zurück und alles wird wieder gut. Was willst du denn in dem hässlichen Wohnbunker in diesem kleinen schwäbischen Kaff? Du gehörst nicht hierher, du gehörst zu mir.“ Walter kam noch einen Schritt näher.
Manuela umklammerte den Taser. Sie konnte Walters Atem spüren und sein Aftershave riechen, was die Erinnerungen noch lebendiger machte. Sie spürte den Drang, einfach wegzulaufen, aber Walter stand ihr im Weg. Was sollte sie tun?
„Manuela?“ Andreas Grießer war ihr gefolgt. An seiner Seite war der nette, alte Mann aus dem Erdgeschoss, Ibrahim Kalin, der mit Andreas gesprochen hatte und ihm zur Seite stehen wollte. Andreas hatte die Angst in ihren Augen gesehen und er befürchtete, dass etwas Schreckliches passiert sein musste. Andreas mochte die neue Nachbarin sehr und wollte ihr helfen. Dasselbe galt für Ibrahim Kalin, der sich in seinem ganzen Leben noch nie vor etwas gefürchtet hatte und für den Zivilcourage an erster Stelle stand. Auch wenn er nicht verstand, was hier vor sich ging, war es für ihn keine Frage, dass er Andreas Grießer ohne weitere Erklärung unterstützen wollte.
Als Walter Neubert die Fremden auf sich zukommen sah, stieß er eine letzte Warnung aus:
„Ich habe es dir schon einmal gesagt: Entweder du nimmst mich, oder du stirbst! Niemand außer mir soll dich haben!“ Dann verschwand er in der Dunkelheit.
Andreas hatte den Mann gerade noch gesehen. Ibrahim sah in der Dunkelheit mit seinen achtundsiebzig Jahren sehr schlecht, er hatte nur eine Silhouette wahrnehmen können. Erschrocken sahen die Männer Manuela an, die immer noch mit dem Taser im Anschlag dastand. Ibrahim sprach mit seinem akzentuierten Schwäbisch beruhigend auf sie, dasselbe versuchte Andreas Grießer. Es verging viel Zeit, bis Manuela endlich antwortete.
„Was wollte der Mann von dir?“
„Das ist eine lange Geschichte.“
„Ich habe Zeit. Wie sieht es mit dir aus, Ibrahim?“
„Mich brauchst du nicht fragen. Ich bin Rentner und habe immer Zeit.“
„Danke, aber ich möchte euch nicht langweilen.“
„Du kannst einen alten, einsamen Mann nicht langweilen. Du kommst jetzt mit. Ich mache uns einen schönen, starken Tee, der wird dir guttun.“ Ibrahim duzte die Frau einfach, das machte Andreas schließlich auch. Ibrahim und Andreas verband eine jahrelange, sehr gute Nachbarschaft, die sich in den vielen Jahren zur Freundschaft entwickelt hatte. Ibrahim war alleinstehend und Andreas half, wann immer seine Hilfe benötigt wurde.
Während Ibrahim sprach, nahm ihr Stefan den Taser aus der Hand, den sie immer noch fest umklammert hielt. Sie hatte einen Krampf, der sich nur langsam löste.
Manuela war immer noch geschockt davon, Walters Gesicht zu sehen und seine Stimme zu hören. Sein Atem und der Duft des vertrauten Aftershaves verursachten einen Würgereiz, dem sie nachgeben musste. Sie übergab sich auf dem Parkplatz, was weder sie, noch die beiden Männer, störte. Erschöpft lehnte sie sich an den Wagen. Dann suchte sie mit zitternden Händen nach den Beruhigungstabletten und nahm gleich drei davon. Langsam beruhigte sie sich.
„So, jetzt reicht es aber“, entschied Ibrahim und nickte Andreas zu. Beide griffen ihr unter die Arme und sie ließ sich widerstandslos mitführen. Um sich den Männern zu widersetzen hatte sie keine Kraft mehr. Am liebsten hätte sie sich irgendwo verkrochen, stattdessen fand sie sich in Ibrahims Wohnung wieder. Sie fühlte sich nicht wohl in der fremden Umgebung und brauchte lange, bis sie endlich bereit war, von sich zu erzählen.
Beide Männer waren fassungslos, als sie die Geschichte hörten, wobei Manuela die Teile wegließ, die ihr zu peinlich vor den beiden waren. Sie brauchten nicht alle Details zu wissen, für die sie sich schämte und ihr sehr unangenehm waren. Das, was sie bereit war zu erzählen, musste ausreichen.
Die beiden Männer hingen an Manuelas Lippen. Je mehr sie von ihrer Leidensgeschichte preisgab, desto fassungsloser waren sie. Wie war es möglich, dass ein Mann der Partnerin so etwas antun konnte?
Irgendwann kam Manuela zu dem Punkt, an dem sie die Mappe auf den Tisch legte, die sie in Kopie immer bei sich trug.
„Wenn ihr mir nicht glaubt: Hier sind die Beweise“, schloss sie ihre Ausführungen. Sie war müde, die Tabletten wirkten.
„Warum sollten wir dir nicht glauben?“ Ibrahim stand auf und langte in das prall gefüllte Bücherregal. Er zog eine Flasche hervor.
„Alkohol? Du bist Moslem, Ibrahim“, versuchte Andreas einen Witz zu machen, auch wenn er immer noch erschrocken davon war, was er eben gehört hatte.
„Das ist Medizin für Notfälle, und das ist ein Notfall.“ Er schenkte vorsichtig ein. „Trink, Mädchen. Den hat mein Neffe selbst gebrannt, reine Medizin.“
Das Gebräu brannte fürchterlich, trotzdem trank sie ein zweites Glas. Ob Alkohol in Verbingung mit den Medikamenten so eine gute Idee war? Es war ihr gleichgültig. Die Gesellschaft der Männer tat ihr gut. Ibrahim schenkte nach und je mehr sie trank, desto ruhiger und müder wurde sie tatsächlich.
Andreas hatte die Unterlagen durchgesehen. Die Fotos waren widerlich und verursachten ein flaues Gefühl im Magen, weshalb auch er einen Schnaps brauchte.
„Wahnsinn! Es tut mir leid, dass du das durchmachen musstest. Man liest ja immer nur von häuslicher Gewalt und Stalking oder sieht etwas im Fernsehen darüber. Wenn man aber selbst damit konfrontiert wird, ist das schon eine andere Hausnummer. Dir ist hoffentlich klar, dass dieser widerliche Mann diesmal einen Schritt zu weit ging? So wie ich das sehe, hat er gegen die Auflagen verstoßen. Er stand direkt vor dir, somit wurde die ihm vom Gericht auferlegte Grenze mehr als unterschritten.“
„Wie soll ich das beweisen?“
„Hallo? Ich habe den Mann gesehen. Du hast einen Zeugen.“
„Ich habe ihn nicht gesehen, aber Andreas reicht. Mehr als einen Zeugen brauchst du nicht. Gehen wir?“
„Wohin?“
„Zur Polizei. Dort kannst du Anzeige erstatten.“
„Und was mache ich danach? Walter ist in meine Wohnung eingebrochen, er hat einen Schlüssel. Ich kann nicht mehr in meine Wohnung gehen.“
„Wenn du keine Angst vor mir hast, kannst du heute Nacht gerne hierbleiben“, sagte der alte Ibrahim und lächelte verlegen.
„Und gleich morgen früh werde ich das Schloss an deiner Tür austauschen. Wir beide werden ein Auge auf dich haben. Wenn du Angst hast oder Hilfe brauchst, werden wir für dich da sein.“
„Ihr seid so lieb zu mir. Womit habe ich das verdient?“
„Das ist die schwäbische Gastfreundschaft“, sagte Ibrahim und lachte laut, wodurch sich die Stimmung etwas entspannte. Nach einem weiteren Schnaps brachen die drei auf.
Auch heute Abend hatte Stefan Kimmerle Dienst. Er erkannte Manuela Kaufmann sofort, als sie in Begleitung zweier Männer eintrat. Er erschrak, denn die Frau sah echt schlecht aus.
„Ich habe einen Zeugen, der Walter Neubert gesehen hat“, kam sie sofort zur Sache. Sie musste sich konzentrieren, um ihre Worte klar zu formulieren. Es war doch keine gute Idee mit dem Alkohol gewesen. Ihre Zunge war sehr schwer und sie hatte das Gefühl, als wäre ihr Kopf ein einziger Schwamm. Sie setzte noch einmal nach und wiederholte ihr Anliegen, damit der Polizist sie auch richtig verstand.
„Mein Nachbar Andreas Grießer hat Walter Neubert gesehen, als er direkt vor mir stand. Nehmen Sie jetzt bitte meine Anzeige auf?“
„Sehr gerne, Frau Kaufmann. Da Herr Neubert gegen die Auflagen verstoßen hat, dürfen wir jetzt tätig werden.“ Stefan Kimmerle war erleichtert. Seit Frau Kaufmann hier war und er diesem Neubert begegnet war, rechnete er mit dem Schlimmsten. Vielleicht konnte mit der Anzeige Schlimmeres verhindert werden?
6.
Zwei weitere Tage vergingen. Walter Neubert hatte sich nicht blicken lassen. Manuela wurde von ihren Nachbarn dazu überredet, wieder zur Arbeit zu gehen. Irgendwie mussten sie die Frau dazu zwingen, wieder so etwas wie einen normalen Alltag zuzulassen. Ibrahim Kalin bestand darauf, sie zu begleiten und holte sie auch am Abend ab, was ihr sehr guttat, auch wenn der alte Mann im Notfall keine große Hilfe sein würde. Sie fasste Schritt für Schritt wieder Mut, auch wenn sie ohne ihre Medikamente nicht über die Runden kam. Auch wenn alles ruhig schien, war sie vorsichtig und rechnete immer und überall mit Walter, den die Polizei immer noch nicht gefasst hatte. Alle paar Stunden rief sie Kimmerle an und musste sich anhören, dass Walter noch auf freiem Fuß war.
Alle außer ihr selbst glaubten, dass Walter aufgegeben hatte, aber am Abend wurde Manuela in ihrer Annahme bestätigt.
Als es am nächsten Morgen sehr früh an Manuelas Haustür klingelte, erschrak sie. Ihren Mut, den sie durch die Hilfe ihrer reizenden Nachbarn zurückgewonnen hatte, war seit gestern Abend dahin. Es war etwas geschehen, was ihr erneut den Boden unter den Füßen wegzog.
Es klingelte wieder und wieder. War das Walter? Sie hatte auch in der letzten Nacht trotz des neuen Schlosses kaum ein Auge zugetan, was auch an dem lag, was sich gestern in der Arbeit ereignete und wovon sie Ibrahim nichts sagte. Der gutmütige, gebrechliche, alte Mann wäre mit der Nachricht völlig überfordert gewesen und hätte ihr auch nicht helfen können.
Wieder klingelt es. Sie entschied, sich mucksmäuschenstill zu halten, dann würde derjenige sicher schnell wieder gehen. Dann klopfte es.
„Frau Kaufmann? Hier Kimmerle.“
Konnte das sein? War das der Polizist? Vielleicht würde er ihr mitteilen, dass Walter gefasst wurde? Oder war das eine Falle, die ihr Walter stellen wollte? Aber woher sollte er den Namen des Polizisten kennen? In Manuelas Kopf schwirrten die Fragen nur so durcheinander. Sie entschied, vorsichtig zu sein.
Sie bewegte sich lautlos und spähte durch den Türspion. Dann erkannte sie den Polizisten Kimmerle. Ob er gute Nachrichten bezüglich Walter hatte?
Stefan Kimmerle hörte, wie Schlösser gedreht wurden. Als sich die Wohnungstür langsam öffnete, setzte er sein charmantestes Lächeln auf.
„Guten Morgen, Frau Kaufmann. Störe ich?“
Manuela war unsicher, ob sie den Mann hereinlassen sollte. Es war lange her, dass sie Besuch hatte. Als sie noch mit Walter zusammen war, hatte sie zu spät gemerkt, dass er es geschafft hatte, alle ihre Freundschaften zu brechen oder einschlafen zu lassen. Er hatte irgendwann still und heimlich ganz Besitz von ihr ergriffen und es gab nur noch sie beide. Als sie etwas daran ändern wollte, hatte Walter sein wahres Gesicht gezeigt und ihr das Leben zur Hölle gemacht.
Kimmerle betrat die Wohnung. Auch wenn er jetzt hier war, verschloss Manuela Kaufmann alle Riegel der Tür sorgfältig. Ihm war klar, dass das Routine war und sie das immer so machte.
„Bevor Sie mich fragen: Nein, wir haben Walter Neubert noch nicht gefunden“, sagte Stefan Kimmerle betont hochdeutsch, auch wenn ihm das als Schwabe sehr schwer fiel.
Manuela nickte die niederschmetternde Nachricht nur ab.
„Das hat mir gestern mein Chef kurz vor Feierabend gegeben“, sagte sie und legte einen Umschlag auf den Tisch. „Und das hier lag auf meinem Schreibtisch.“
Kimmerle starrte auf den Umschlag und auf die kleine Schachtel. Er nahm zuerst den Umschlag, zog das Blatt raus und las kopfschüttelnd die haltlosen Verleumdungen und Anschuldigungen, die darin gegen Manuela Kaufmann vorgebracht wurden. Das selbstverständlich anonyme Schreiben besagte, dass Manuela in Nürnberg als vorbestrafte Prostituierte gearbeitet hat und dass gegen sie aktuell diverse Verfahren wegen Unterschlagungen und Urkundenfälschungen laufen.
„Starker Tobak. Das hat Ihr Chef hoffentlich nicht geglaubt?“
„Irgendwas bleibt doch immer hängen“, sagte Manuela geknickt. „Ich schäme mich so sehr, dass ich mir einen neuen Job suchen werde. Jetzt, wo Walter weiß, wo ich arbeite, bin ich dort sowieso nicht mehr sicher.“
„Sie denken, dass das von Walter Neubert stammt?“
„Von wem denn sonst? Sehen Sie sich den Inhalt der Schachtel an, dann werden auch Sie überzeugt davon sein“, war ihre Antwort.
In der kleinen Schachtel lag ein funkelnder, hellblauer Aquamarin, der Kimmerle bekannt vorkam und ihn schockierte. Der Mann war also tatsächlich so dreist, sich sogar bis zur Arbeitsstelle vorzuwagen.
„Lesen Sie den Zettel“, forderte sie Kimmerle auf, der den kleinen, rosafarbenen Zettel auseinanderfaltete. Hätte er vielleicht Handschuhe anziehen sollen? Dafür war es jetzt zu spät.
Der ist dafür, dass du zur Polizei gegangen bist und die dich jetzt beschützt. Du warst ein sehr böses Mädchen, meine Schöne.
Kimmerle bekam eine Gänsehaut. Das war einfach nur krank und abstoßend. Er hatte ein schlechtes Gewissen, denn irgendwie trug er Schuld an dem Inhalt der Nachricht an Frau Kaufmann. Er hatte dafür gesorgt, dass rund um die Uhr einer der Kollegen immer vor dem Haus stand und aufpasste, was die Kollegen sogar freiwillig außerhalb der Dienstzeit gerne übernahmen. Natürlich trugen dabei viele Uniform, wogegen Kimmerle nichts einzuwenden hatte. Jetzt war ihm klar, dass das sehr ungeschickt war und Neubert deshalb so reagierte.
„Ich kümmere mich darum. Darf ich das Schreiben und den Zettel mitnehmen?“
„Gerne, nehmen Sie auch den Stein mit. – Warum sind Sie hier?“
„Ich mache mir Sorgen um Sie. Jetzt noch mehr, nachdem ich das hier erfahren habe. Ich würde Ihnen gerne meine Hilfe anbieten. Hier ist meine Handynummer, unter der Sie mich Tag und Nacht erreichen können. Melden Sie sich, wenn Sie Hilfe brauchen.“
„Das ist sehr lieb, Danke. Aber ich weiß, dass ich Walter nicht entkommen kann. Es gibt nur noch zwei Aquamarine, dann bin ich tot.“
„Daran dürfen Sie nicht denken! Geben Sie nicht auf! Kämpfen Sie gegen diesen Wahnsinnigen!“
„Sie haben gut reden! Wenn das so leicht wäre! Ich habe keine Kraft mehr, verstehen Sie das nicht? Es ist, als würde ich gegen Windmühlen kämpfen. Was ich auch unternehme, Walter kreuzt immer und überall meinen Weg und pinkelt mir ans Bein. Ich schaffe es nicht, ihm zu entkommen.“
„Bitte beruhigen Sie sich, Frau Kaufmann. Ich kann Sie verstehen, das dürfen Sie mir glauben. Wie gut kennen Sie Walter Neubert?“
Manuela war für einen kurzen Moment irritiert, mit dieser Frage hatte sie nicht gerechnet und sie musste sich konzentrieren.
„Wie gut ich Walter kenne? Ziemlich gut, denke ich. Wir waren sechs Jahre lang ein Paar. Die ersten beiden Jahre waren sehr harmonisch, aber dann veränderte er sich Stück für Stück. Irgendwann habe ich ihn nicht widererkannt.“
„Nutzen Sie Ihre Kenntnis aus. Schlagen Sie den Mann mit seinen eigenen Waffen.“
„Und wie soll ich das tun? Hinter jeder Ecke und jeder Tür könnte Walter stehen. Außerdem versucht er gerade, mein Leben erneut zu zerstören. Er hat erreicht, dass ich Angst habe. Jetzt hat er mir auch noch meinen Job genommen, indem er Lügen über mich verbreitet. Was kommt als Nächstes? Vielleicht wendet er sich gerade in diesem Moment an meinen Vermieter.“
„Wer ist Ihr Vermieter?“ Kimmerle wollte die Frau am liebsten in die Arme nehmen und trösten, aber das würde nichts bringen. Er konnte ihr am besten helfen, wenn er so sachlich wie möglich blieb.
„Warum fragen Sie? Was ist mit meinem Vermieter?“
„Ich werde mit ihm sprechen und ihn vorwarnen. Wir werden es nicht zulassen, dass dieser Vollpfosten sein Werk vollendet. Wo es nur geht werden wir ihm Knüppel zwischen die Beine werfen.“
„Das wird nichts nützen….“
„Hören Sie endlich auf zu Jammern! Reißen Sie sich zusammen und nehmen Sie Ihr Leben wieder selbst in die Hand! Der Typ will Sie genau da haben, wo sie jetzt sind. Wollen Sie ihm die Genugtuung geben?“ Kimmerle hatte sie an beiden Schultern gepackt und sah ihr in die Augen.
Manuela spürte, dass dieser nette Polizist es gut mit ihr meinte. Hatte er nicht Recht? War es nicht an der Zeit, dass sie sich endlich aktiv wehrte? Ja, sie kannte Walter sehr gut und wusste, was er vorhatte. Sie stand auf und holte einen Ordner aus dem Schrank. Sie gab Kimmerle den Mietvertrag, aus dem die Kontaktdaten des Vermieters ersichtlich waren.
„Danke“, lächelte Kimmerle, der die Veränderung bemerkt hatte. Diese Frau brauchte jede Unterstützung, die sie kriegen konnte, das war klar. Und er war bereit, sie ihr zu geben. „Den Vermieter übernehme ich. Was könnte Neubert noch vorhaben?“
„Nachdem ich Walter angezeigt habe und ausgezogen bin, hat er jede Menge Dinge online auf meinen Namen bestellt. Ich war endlos lange damit beschäftigt, alles zurückzusenden und zu erklären, dass ich nichts bestellt habe.“
„Gut. Löschen Sie die Kundendaten bei allen Online-Händlern, und zwar so schnell wie möglich.“
„Reicht es nicht, wenn ich meine Zugangsdaten ändere?“
„Nein. Löschen Sie die Kundendaten, das ist sicher.“ Kimmerle schob ihr einen Notizblock und einen Stift zu. „Notieren Sie sich die Punkte, damit Sie keinen übersehen. Was fällt Ihnen noch ein?“
„Mein Wagen – er könnte ihn problemlos manipulieren.“
„Hat er das auch gemacht?“
„Ja, aber das konnte ich nicht beweisen.“
„Ab sofort lassen Sie Ihren Wagen stehen. Rufen Sie mich an, wenn Sie irgendwohin müssen.“
„Sie können nicht rund um die Uhr für mich parat stehen und mich herumkutschieren. Das kann ich nicht verlangen und das möchte ich nicht annehmen wollen. Sie bringen mich in eine Lage, die mir nicht gefällt. Ich bin nicht gerne von anderen abhängig.“
„In diesem Fall kann ich auf Ihre Befindlichkeiten keine Rücksicht nehmen. Wir müssen damit rechnen, dass sich Neubert an Ihrem Wagen zu schaffen macht, das können wir nicht riskieren. Ich möchte, dass Sie mein Angebot annehmen. Wenn ich keine Zeit habe, Sie zu fahren, dann finde ich eine andere Lösung. Ich werde Ihnen jemanden schicken, dem Sie vertrauen können.“
„Trotzdem kann ich nicht verlangen…“
„Ich kümmere mich darum, könnten wir uns darauf einigen? Wir können es uns nicht leisten, jeden einzelnen Punkt zu diskutieren, dafür haben wir keine Zeit.“
Manuela nickte nur verlegen.
„Sind Sie in irgendwelchen Vereinen?“, fuhr Kimmerle fort, denn noch hatte er einige Punkte auf seiner Liste, die er abhaken musste.
„Ja.“ Manuela war seit Monaten in einem Kampfsportverein, was ihr sehr viel Spaß machte. Allerdings nutzte ihr das, was sie dort gelernt hatte, absolut nichts gegen Walter.
„Treten Sie aus. Wenn Sie dort kein Mitglied mehr sind, kann er Ihnen nicht schaden.“
Auch jetzt nickte sie und schrieb mit zitternder Hand.
„Ich würde Ihnen raten, das Handy zu wechseln. Geben Sie die neue Nummer nur an wenige vertrauenswürdigen Personen weiter. Mieten Sie ein Postfach und holen Sie Ihre Post dort ab. Wenn Sie wollen, kann ich Sie dabei begleiten oder kümmere mich darum, dass Sie begleitet werden.“ Manuela kam kaum mit den vielen Notizen hinterher. „Heben Sie genug Bargeld für die nächsten zwei Wochen ab, dann wechseln Sie noch heute die Bank.“
Manuela betrachtete die prallgefüllte Liste, die immer länger wurde.
„Ist das alles wirklich notwendig?“
„Wir wollen sicher gehen, dass er Ihnen nicht schaden kann. Mit fällt nichts mehr ein.“
„Mir auch nicht.“ Manuela sah Kimmerle an.
„Warum machen Sie das alles für mich? Das hier hat doch nichts mehr mit normalem Polizeidienst zu tun.“
„Ich hasse solche Typen abgrundtief. Ich verabscheue es, wenn Menschen, vor allem Männer, ihre Macht schwächeren gegenüber ausleben und sie unterdrücken. Außerdem habe ich ein persönliches Interesse daran, solche Leute zur Strecke zu bringen. Was glauben Sie, mit was ich es tagtäglich zu tun habe? Ich würde gerne helfen, aber sehr oft sind mir die Hände gebunden, da ich mich an die Gesetze halten muss. Wenn Sie es erlauben, würde ich Ihnen sehr gerne helfen. Und ich spreche auch für meine Kollegen, die ähnlich denken wie ich.“
„Wie soll das gehen? Sie und ihre Kollegen können nicht rund um die Uhr für mich da sein, schließlich haben Sie einen Job.“
„In den nächsten beiden Wochen habe ich Urlaub und somit jede Menge Zeit. Sollte ich keine Zeit haben, werden Kollegen für mich einspringen, was übrigens auch für die Nacht gilt. Ich möchte ehrlich zu Ihnen sein, Frau Kaufmann. Schon seit Tagen steht immer einer von uns vor Ihrer Tür und passt auf Sie auf. Das ist von oberster Stelle nicht genehmigt und geschieht auf freiwilliger Basis. Ich hoffe, Sie nehmen uns das nicht übel.“
„Wirklich?“ Manuela war überrascht, damit hatte sie nicht gerechnet. Völlig Fremde opferten ihre Freizeit und standen ihr bei.
„Wir werden Sie rund um die Uhr beschützen. Natürlich nur, wenn Sie einverstanden sind. Sollten Sie dagegen sein, werden wir uns selbstverständlich zurückziehen. Ist das für Sie in Ordnung, Frau Kaufmann? Dürfen wir Ihnen helfen?“
Manuela konnte nichts darauf erwidern und nickte abermals. Konnte es sein, dass sie zum ersten Mal nicht allein auf sich gestellt war? Dass sie mit Andreas und Ibrahim nun auch noch diesen Polizisten und dessen Kollegen an ihrer Seite hatte? Sie konnte ihr Glück kaum fassen und weinte, was sie nicht bemerkte.
Kimmerle war die Reaktion peinlich. Mit weinenden Frauen hatte er noch nie umgehen können. Er schnappte sich die Unterlagen und stand auf. Manuela öffnete die Tür. Am liebsten hätte sie den Mann umarmt, aber solche Vertraulichkeiten und Körpernähe an sich waren ihr sehr unangenehm. Zaghaft reichte sie Kimmerle die Hand. Sie war immer noch unfähig, irgendetwas zu sagen. Dann schloss sie wieder sorgfältig die Tür. Sie hatte eine Liste, die es abzuarbeiten galt und machte sich sofort an die Arbeit.
Kimmerle rief Deutschle an, der von dem bevorstehenden Gespräch mit Frau Kaufmann informiert war.
„Gut gemacht, Stefan. Ich informiere die Kollegen und teile die Schichten ein. Ruf mich an, wenn es etwas Neues gibt.“
„Mach ich. Ich fahre jetzt zu dem Vermieter von Frau Kaufmann, einem gewissen Karl Schneiderjahn. Er soll in Orschel-Hagen in der Reutlinger Straße wohnen. Sagt dir der Mann etwas?“
Horst Deutschle lebte schon immer in Orschel-Hagen und kannte fast jeden hier im Ort.
„Den Karle kenne ich, wir gingen gemeinsam zur Schule. Mit dem wirst du zurecht kommen. Grüß ihn von mir.“
Das Gespräch mit dem Vermieter Schneiderjahn war rasch vorbei. Kimmerle war dort in Uniform aufgetaucht, da er wusste, dass das immer noch bei vielen Menschen mächtig Eindruck machte. Bei Schneiderjahn wäre das allerdings unnötig gewesen. Der Gruß von Horst Deutschle reichte aus, um ihm die Türen zu öffnen.
„Mir ist in dieser Richtung noch nichts untergekommen. Sollte sich das ändern, werde ich Sie umgehend informieren.“
„Vielleicht gelingt es Ihnen, alle Schreiben mit unbekanntem Absender direkt an mich weiterzugeben? Dadurch wäre es uns möglich, wichtige Spuren zu sichern.“
„Auch wenn unter diesen Umständen das Briefgeheimnis nicht gewahrt ist, werde ich das gerne machen. Wenn dem so ist, dass jemand der netten Frau Kaufmann schaden will, möchte ich meinen Teil zur Aufklärung beitragen. – Grüßen Sie mir den Horst, der soll sich bei Gelegenheit mal wieder blicken lassen!“
Das Gespräch mit Manuela Kaufmanns Chef war sehr viel schwieriger. Es war tatsächlich so, dass der Mann einiges davon glaubte, was Kimmerle zum Glück mit ausführlichen Schilderungen und seiner ganzen Überredungskunst aus dem Weg räumen konnte.
„Unter diesen Umständen ist Frau Kaufmann sehr zu bedauern. Ich hörte bisher von solchen Dingen wie Stalking immer nur aus der Presse. Niemand rechnet damit, dass er einmal persönlich damit konfrontiert wird. Vielen Dank, dass Sie mir die Augen geöffnet haben, Herr Kimmerle. Es ist sehr lobenswert, wie sehr sich die Polizei für Opfer einsetzt, das war mir bislang nicht bewusst. Frau Kaufmanns Ruf hat durch dieses perfide Schreiben nicht gelitten, das kann ich Ihnen versichern. Sollte dennoch irgendetwas in der Richtung unter den Kollegen die Runde machen, werde ich mich darum kümmern. Jetzt schäme ich fast für mein Verhalten. Unter den Umständen hat Frau Kaufmann Sonderurlaub, bis Sie den Verrückten aus dem Verkehr gezogen haben. Sobald Frau Kaufmann wieder an ihrem Arbeitsplatz erscheint, werde ich mich vor allen Kollegen in aller Form bei ihr entschuldigen. Das wird die letzten Zweifler überzeugen.“
„Machen Sie das, darüber wird sie sich sehr freuen.“
Walter Neubert hatte den Polizisten sofort erkannt, als der aus seinem Wagen stieg und im Hausgang des Hochhauses verschwand. Das war der, der ihn so blöd von der Seite angeredet hatte. Wohin wollte der Typ? War das ein Zufall oder wollte er zu Manuela? Ja, ganz sicher! Seine Manuela hatte etwas mit dem Bullen am Laufen, deshalb war sie so schroff und abweisend. Neubert wischte den Gedanken zur Seite, das war zu absurd. In dem Hochhaus lebten geschätzt hundert Personen, der Bulle könnte überall sein. Außerdem gab es in dem Kaff hier sicher nur ein, zwei Polizisten, da war die Wahrscheinlichkeit, immer wieder auf denselben zu treffen sehr hoch. Trotzdem mochte er den Bullen nicht. Wenn der nicht gewesen wäre, hätte er Manuela vielleicht schon so weit, dass sie wieder mit zurück nach Nürnberg kam, wohin sie schließlich auch gehörte. Zurück zu ihrem Haus, das sie gemeinsam eingerichtet hatten und sie sehr viele schöne Stunden verbracht hatten. Dass sie es wagte, sich von ihm zu trennen, saß wie ein tiefer, schmerzender Stachel, den er nicht mehr loswurde. Er wollte sie zurückhaben, dafür war ihm jedes Mittel recht. Wenn es ihm nicht gelang, sie zurückzuholen, ließ sie ihm keine andere Möglichkeit: Er musste sie töten. Sollte es Manuela wirklich so weit kommen lassen, war das ihre eigene Schuld. Dann wusste er, dass sie es geradezu darauf anlegte.
Walter Neubert wurde langsam ungeduldig. Er wartete schon eine Ewigkeit vor diesem verdammten Hochhaus und hatte Manuela kein einziges Mal gesehen. Der
Bulle war auch schon ziemlich lange in dem hässlichen Wohnkasten verschwunden. Warum wimmelte es in diesem kleinen Vorstadtkaff nur so von Polizei? Seit er hier war, tauchte immer derselbe Mann vor dem Eingang auf. Wer war das? Der Typ trug keine Uniform, trotzdem nahm Neubert an, dass das ein Bulle war. Warum sonst würde jemand so lange auf- und abgehen? Neubert gefiel das überhaupt nicht. Er war seit vorgestern sogar dazu gezwungen, sich einen Mietwagen zu nehmen, nachdem er sich beobachtet fühlte.
Endlich kam der Bulle wieder. Er sprach mit dem Mann, der schon die ganze Zeit vor dem Haus herumlungerte. Die beiden kannten sich, und zwar ziemlich gut! Also lag er doch richtig mit seiner Vermutung, dass auch der ein Bulle war. Der Uniformierte stieg in seinen Wagen und verschwand. Neubert prägte sich das Gesicht des Mannes gut ein. Mit ihm würde er sich zu gegebener Zeit separat beschäftigen. Was wusste der Bulle? Hatte Manuela den Mann auf ihre Seite gezogen? Was hatte sie ihm erzählt?
Ibrahim Kalin hatte am Vorabend bei seinem Nachbarn Andreas Grießer geklingelt. Ausführlich und umfangreich hatte er ihm geschildert, wie sich Manuela ihm gegenüber verhalten hatte und dass er vermutete, dass etwas passiert sein musste, worüber Manuela nicht sprechen wollte.
„Das gefällt mir nicht. Es sieht so aus, als würde sie uns nicht vertrauen, was ich irgendwie verstehen kann. Wir müssen besser auf sie aufpassen, Ibrahim.“
„Was schlägst du vor?“
„Keine Ahnung. Vielleicht wäre es möglich, dass einer von uns immer in ihrer Nähe ist, um sie zu beschützen.“
„Schau mich an, Andreas. Ich bin ein alter Mann, meine besten Jahre sind vorbei. Was kann ich allein schon machen?“
„Gut, dann machen wir das gemeinsam. Ich werde Urlaub nehmen, dann sind wir ab sofort zu zweit.“
Es verging eine weitere Stunde und Walter Neubert stand immer noch vor dem Haus. Der Polizist, der davorstand, hinderte ihn daran, hineinzugehen. Er hatte ihren Haustürschlüssel in der Hand, es wäre so einfach! Verdammter Mist! Der Bulle brachte seinen Plan komplett durcheinander. Neubert wurde nervös. Es war endlich an der Zeit, etwas zu unternehmen, er konnte nicht noch mehr Zeit verschwenden. Er stieg aus und näherte sich vorsichtig dem Hochhaus. Die Straße schien menschenleer. Der vermeintliche Polizist langweilte sich, das konnte er ihm ansehen. Er reckte und streckte sich. Nun konnte Neubert die Waffe sehen! Das war ein Bulle, er lag also richtig mit seiner Vermutung. Was sollte er tun? Der Mann kannte sicher längst sein Gesicht. Wenn er an ihm vorbei lief, würde er ihn sofort erkennen und festnehmen. Gegen den Polizisten konnte er nichts ausrichten, er war selbst schließlich nicht bewaffnet. Ein Umstand, den er so bald als möglich ändern musste. Aber jetzt war die Situation nun mal so, dass er unbewaffnet einem Bullen gegenüberstand. Neubert wartete. Als sich der Polizist eine Zigarette anzündete, schien seine Chance gekommen zu sein. Er schlich sich von hinten an und schlug den Mann nieder. Es war eine Kleinigkeit gewesen, den älteren Mann zu überwältigen. Als der auf dem Boden lag, trat er wieder und wieder auf ihn ein. Neubert musste vermeiden, dass der Bulle Alarm schlug. Der Polizist rührte sich nicht mehr. Er packte den Mann und zog ihn hinter die Mülltonnen. Dann nahm er dessen Waffe an sich.
Es klingelte erneut an Manuelas Tür, woraufhin sie abermals erschrak. Was sollte sie tun? Sie entschied, sich ruhig zu verhalten und darauf zu hoffen, dass der- oder diejenige schnell wieder verschwand.
„Sie ist nicht hier“, sagte Andreas und machte Anstalten, wieder zu gehen.
„Doch, sie ist da, ich bin mir ganz sicher.“
Es folgte eine Diskussion zwischen den beiden, die vom Flur bis zu Manuela drang. Das waren Ibrahim und Andreas! Lächelnd und auch erleichtert öffnete sie.
Die beiden Männer bemerkten sofort, dass Manuela sich verändert hatte. Sie bat die beiden herein, verriegelte aber auch jetzt wieder die Tür.
Ibrahim verkündete stolz, was Andreas und er beschlossen hatten.
„Ihr wollt mich überallhin begleiten? Das ist euer Plan? Nein, das kann ich auf keinen Fall annehmen. Erstens würdet ihr euch beide in Gefahr begeben und zweitens würde sich Walter nicht von euch abschrecken lassen.“ Sollte sie den beiden mitteilen, dass es bereits Polizisten gab, die auf sie aufpassten? Noch bevor sie dazu kam, folgte erneut eine Diskussion zwischen den beiden, die durch die Klingel der Wohnungstür unterbrochen wurde. Alle sahen sich an.
Andreas wollte aufstehen und durch den Türspion sehen, aber Manuela hielt ihn zurück. Es klingelte erneut, diesmal ununterbrochen. Dann hörten sie, wie versucht wurde, dass ein Schlüssel ins Schloss gesteckt wurde. Es folgte ein Fluchen, dass durch heftiges Klopfen an der Tür begleitet wurde.
„Mach sofort auf, du Miststück!“ Walter war wütend. Manuela hatte doch tatsächlich das Schloss ausgetauscht. Er wollte noch einmal in Ruhe mit ihr sprechen und sie zur Vernunft bringen, was er jetzt aber nicht mehr konnte. Sie hatte es gewagt, ihn auszusperren und hatte ihn dadurch vor den Kopf gestoßen. Das konnte er nicht hinnehmen. Was fiel der Frau ein?
„Das ist er“, flüsterte Manuela panisch.
„Wie du willst!“ Dann folgte ein heftiges Poltern. Es war allen klar, dass Walter versuchte, die Tür einzutreten. Das würde ihm schwer fallen, denn das verhinderten die stabilen Verriegelungen, für die Manuela ein kleines Vermögen ausgegeben hatte.
Walter sah ein, dass sein Vorhaben, die Tür einzutreten, nicht gelingen würde.
„Gut, du willst es nicht anders haben“, rief er wütend, woraufhin ein Schuss fiel.
„Was ist das für ein Geräusch?“, rief Manuela panisch.
„Das kenne ich! Das sind Schüsse!“, flüsterte Ibrahim panisch.
Durch den Lärm, den Walter verursachte, fühlten sich andere Bewohner des Hochhauses belästigt. Zwei von ihnen gingen auf Walter zu. Als sie die Waffe sahen, blieben sie erschrocken stehen.
„Macht, dass ihr verschwindet! Sofort!“
Einer der beiden rief sofort die Polizei, als er sich in Sicherheit wähnte.
Walter Neubert waren die Zeugen gleichgültig, er war wie von Sinnen. Wieder und wieder schoss er auf die Tür. Eine Polizeisirene ließ ihn endlich zur Vernunft kommen. Er machte auf dem Absatz kehrt und rannte davon.
„Er ist weg!“, rief Ibrahim, der sich nicht erinnern konnte, wann er zum letzten Mal solche Angst gehabt hatte.
Andreas ging zum Fenster und sah vier Polizeiwagen, die mit Blaulicht vor dem Haus standen. Ein Krankenwagen kam hinzu. Andreas beobachtete, wie eine Person auf die Trage gehoben wurde. Was war da los?
Als die Polizei die Aussagen aufnahm, erfuhren sie, dass ein Polizeibeamter schwer verletzt wurde.
„Wusstest du, dass Polizisten freiwillig auf dich aufpassen?“, wollte Andreas von Manuela wissen.
„Ja, ich habe erst kurz vor eurem Besuch davon erfahren. Ich wollte es euch sagen, aber ich kam nicht dazu. Wie schwer ist der Mann verletzt worden?“
„Das wissen wir noch nicht. Es war vermutlich die Dienstwaffe, mit der auf Ihre Tür geschossen wurde.“
„Ihr seht ja, zu was Walter fähig ist, das habt ihr jetzt selbst mitbekommen. Wollt ihr mir immer noch helfen und mir rund um die Uhr zur Seite stehen?“ Manuela war außer sich und zitterte.
„Ich für meinen Teil auf jeden Fall. Ich werde dich diesem Tier nicht zum Fraß vorwerfen“, sagte Andreas entschlossen, auch wenn seine Aussage nicht zu der schmalen Gestalt passte.
Ibrahim nickte nur, auch wenn er sich am liebsten in irgendein Loch verkrochen hätte, was er aber niemals zugeben würde.
Die Polizei war sehr lange im Haus. Manuela sah sich immer wieder nach Kimmerle um, aber von ihm war nichts zu sehen.
„Sie werden hier nicht bleiben können. Gehen Sie in ein Hotel oder zu einer Freundin“, sagte einer der Polizisten mitleidig, der ihre Geschichte ebenfalls kannte. Auch er war einer derjenigen, die freiwillig auf sie aufpassten. Ob er das auch gemacht hätte, wenn ihm klar, wie gefährlich das war? Der verletzte Kollege Albert Schenker sah nicht gut aus, dieser Neubert hatte ihn übel zugerichtet. Ihm war klar, dass das auch ihn hätte treffen können.
Manuela war irritiert. Wohin sollte sie gehen? Sie hatte keine Freundin. Und ob sie den Mut fand, in ein Hotel zu gehen, konnte sie jetzt nicht entscheiden. Sie war völlig am Boden. Walter hatte tatsächlich geschossen! Die Geräusche hallten ständig in ihrem Kopf wider. Was war nur in ihn gefahren? Wie hatte er sich so gehen lassen können? Walter war nicht dumm oder einfältig. Er hatte Abitur und hatte Betriebswirtschaft studiert. Bis zu seiner Verurteilung hatte er einen gut bezahlten Job gehabt, den er dann allerdings rasch verlor. Walter war auf die Einkünfte seiner Arbeit nicht angewiesen. Er stammte aus sehr reichem Hause und bekam immer wieder Zuwendungen von Seiten seiner Eltern und Großeltern, die er voll im Griff hatte. Sie glaubten Walter jedes einzelne Wort und standen ihm auch nach der Verurteilung zur Seite, die in deren Augen ein Justizirrtum war. Obwohl es versucht wurde, gab es keine Revision, das Urteil blieb bestehen. Ob ihr die Eltern und Großeltern, die sie anfangs sehr mochte, das jemals verzeihen würden?
Stefan Kimmerle erfuhr erst spät von dem Vorfall und war niedergeschlagen. Er war nicht vor Ort gewesen und hatte nicht helfen können. Zu allererst hatte er sich über den Gesundheitszustand des Kollegen Schenker informiert. Der gutmütige, alleinstehende Kollege lag ihm besonders am Herzen, denn von ihm hatte er sehr viel gelernt. Ab und zu trafen sich die beiden Junggesellen auf ein Feierabendbier und philosophierten dabei über Gott und die Welt. Jetzt lag Albert schwer verletzt im Krankenhaus. Die Ärzte konnten noch nicht viel sagen, dafür war es noch zu früh. Allerdings sah es nicht gut für ihn aus. Kimmerle war erschrocken und machte sich große Sorgen um Albert, aber jetzt konnte er nicht mehr für ihn tun, als denjenigen, der ihm das angetan hat, zu suchen und dingfest zu machen. Dass es sich dabei um Walter Neubert handelte, stand für Kimmerle außer Frage.
Er las die Protokolle und kapierte, dass Manuela Kaufmann zum Glück nicht allein gewesen war, als der Typ vor ihrer Wohnungstür ausgerastet war.
„Ihr habt Neubert nicht verhaften können?“
„Nein. Wir haben das ganze Haus durchsucht, haben ihn aber nicht gefunden.“
„Wie konnte das passieren?“
„Sei fair, Stefan. Wir waren nur zu sechst und das Haus ist riesig. Bis Verstärkung eintraf, war er längst weg.“
„Entschuldige. Wo ist Frau Kaufmann jetzt? In ihrer Wohnung kann sie nicht bleiben.“
„Keine Ahnung.“
„Warum wurde sie nicht in Sicherheit gebracht? Auf die Frau wurde geschossen, das reicht doch als Begründung!“
„Natürlich reicht das und eine Sicherheitsunterbringung wurde auch umgehend beantragt. Allerdings wird es Probleme geben. Zum einen dauert der Antrag ein paar Stunden und zum anderen kann nicht bewiesen werden, dass es sich um den Verdächtigen Walter Neubert handelt. Die beiden Zeugen, die den Mann mit der Waffe gesehen haben, können wir vergessen. Deren Beschreibungen sind so vage und oberflächlich, dass die so ziemlich zu jedem Mann passen könnten.“
„Wer, außer Neubert, soll es denn sonst sein?“, schrie Kimmerle aufgebracht.
„Wir gehen alle davon aus, dass es Neubert war. Aber es fehlen Beweise! Die Spurensicherung ist dran. Bleib ruhig, Stefan, die Jungs werden einen Beweis finden und damit geht die Sache dann sehr viel schneller.“
Als Stefan Kimmerle in Manuelas Wohnung stand, war die Spurensicherung immer noch bei der Arbeit. Von Manuela selbst war weit und breit nichts zu sehen.
„Wo ist Frau Kaufmann?“, wandte er sich an einen Kollegen.
„Die ist vor einer halben Stunde gegangen.“
„Wohin?“
„Das hat sie mir nicht verraten. Sie hatte nur ihre Handtasche bei sich, sie kann nicht weit sein.“
Kimmerle wartete vergebens, Manuela kam nicht zurück…
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