Der 31. Fall aus der Leo-Schwartz-Krimireihe
1.
Die Umgebung für das Treffen war unwirklich. Die Schritte der zweiundvierzigjährigen Frau hallten im Kreuzgang der Altöttinger Stiftskirche. Weit und breit war niemand zu sehen. Wo war diese verdammte Tilly-Kapelle? Endlich fand sie sie, stellte sich direkt vor das Gitter und klammerte sich mit der linken Hand daran fest. Eigentlich war sie eine taffe Frau, aber jetzt hatte sie doch Schiss. Suchend blickte sie sich um. Es war nach einundzwanzig Uhr und ihre Verabredung ließ sich nicht blicken. Warum hatte sie sich auf dieses Treffen eingelassen? Sie hätte auf einen anderen Ort bestehen sollen, aber dafür war es jetzt zu spät. Nach Minuten, die sich unendlich lange anfühlten, hörte sie Schritte. Endlich!
„Ich bin hier“, rief sie. Ihre Worte waren sehr laut, weshalb sie erschrak. Die Schritte entfernten sich. Sie war enttäuscht. Unpünktlichkeit hasste sie wie die Pest. Warum konnte man sich nicht an Vereinbarungen halten? Schließlich tat sie es ja auch.
Warum wollte sie der Mann gerade hier treffen? War das überhaupt ein Mann? Die Nachricht, die sie heute Morgen in ihrem Briefkasten fand, war nicht handgeschrieben. Normalerweise hätte sie auf so etwas nicht reagiert, aber sie war neugierig geworden und fuhr die knapp einhundert Kilometer von München nach Altötting. Zweihundert Euro Spritgeld lagen dem Schreiben bei, was sie zusätzlich lockte. Es interessierte sie nicht nur, was das hier sollte, sondern wer sich dahinter versteckte. Wer würde auf solch einen abstrusen Treffpunkt kommen? Sie war zum ersten Mal in Altötting, Dörfer waren nicht so ihr Ding. Sie liebte Großstädte und die Möglichkeiten, die sich ihr dort boten. Was sollte sie auf dem Land?
Sie wartete und wurde ungeduldig. Beinahe jede Minute sah sie auf die Uhr ihres Handys, dessen Display die Umgebung gespenstisch ins Licht setzte.
Es war kurz vor halb zehn. Wo war ihre Verabredung? Seit sie hier war, war sie niemandem begegnet, was sie so nicht erwartet hatte. Sie kannte die Stiftskirche nicht, mit Kirchen hatte sie noch nie etwas am Hut gehabt. War es nicht so, dass es in solch riesigen Kirchen von Personal wimmelte? Gab es keine Mönche oder Nonnen? Was war mit dem Reinigungspersonal oder dem Hausmeister?
Es wurde kalt und sie zog den Mantel enger um das leichte Kleid, das für diese Temperaturen viel zu dünn war. In den offenen, hohen Schuhen spürte sie ihre Zehen kaum mehr. Langsam hatte sie genug. Sie gab sich noch fünf Minuten, dann würde sie diesen Mist hier abblasen.
Die fünf Minuten waren um und sie war sauer. Die zweihundert Euro würde sie auf jeden Fall behalten. Und sollte sie noch ein einziges Mal eine ähnliche Nachricht in ihrem Briefkasten finden, würde sie sie an Ort und Stelle in tausend Stücke reißen. Festen Schrittes ging sie los.
Die klappernden Geräusche ihrer teuren Schuhe füllten beinahe den ganzen Kreuzgang der Stiftskirche. Von dem beklemmenden Gefühl, das sie seit einer halben Stunde hatte, war nichts mehr zu spüren. Bis München bräuchte sie mit ihrem neuen Wagen um diese Uhrzeit sicher nicht lange. Es blieb genug Zeit für einen Drink in ihrer Lieblingskneipe.
Aber dazu kam es nicht mehr. Sie spürte einen heftigen Schlag auf den Hinterkopf – und dann wurde es schwarz.
2.
Die Schmerzen waren für den vierundfünfzigjährigen Leo Schwartz kaum auszuhalten. Heute Morgen verspürte er beim Anziehen seines Cowboystiefels einen heftigen Schmerz im unteren Rücken. Für einige Sekunden war ihm die Luft weggeblieben. Was war das? Umständlich hatte er es geschafft, den zweiten Stiefel anzuziehen. Der Gang von seiner Wohnung die Treppe nach unten war für ihn kaum zu bewältigen. Stufe für Stufe ging es abwärts, was ewig dauerte. Die Umgebung des idyllisch gelegenen Bauernhofes vor den Toren Altöttings war ihm im Moment herzlich egal.
„Was ist denn mit dir los?“ Tante Gerda kümmerte sich seit über einer Stunde um ihr Gemüsebeet, das nur darauf wartete, endlich bepflanzt zu werden. Der Winter war sehr lange und kalt gewesen, der Frühling ließ sich lange bitten. Jetzt Ende Mai war es endlich warm geworden und die Meteorologen sagten einen ähnlich heißen Sommer wie im letzten Jahr voraus. Tante Gerda glaubte nicht daran. Sie beobachtete die Vegetation und die Tiere – und die prophezeiten einen eher durchwachsenen Sommer. Auch deshalb wollte sie endlich ein Gewächshaus haben, dessen Bau fürs nächste Wochenende anstand. Die Pflanzen dafür waren gekauft und warteten nur darauf, endlich einziehen zu dürfen. Bis dahin versorgte Tante Gerda das Gemüsebeet, das zum Schutz vor Wildtieren mit einem Zaun umgeben war und das sie nicht vorhatte, nur wegen eines Gewächshauses aufzugeben. Leos Vermieterin und Ersatzmutter war mit ihren siebenundsiebzig Jahren noch sehr rüstig, was jetzt besonders deutlich wurde.
„Nun sag schon: Was ist los?“, drängelte Tante Gerda und stellte sich ihm in den Weg.
„Kreuzschmerzen“, sagte Leo kleinlaut, als er am Ende der Treppe angekommen war. Erst jetzt bemerkte er, dass ihm sogar das Sprechen schwerfiel. Konnte das sein?
„Was habe ich dir gesagt? Zwei Wochen lang bist du nur im Liegestuhl gelegen und hast dich kaum bewegt. Wie oft habe ich dir vorgebetet, dass das noch schlimm enden wird, wenn du nur herumliegst? Aber du wolltest ja nicht auf mich hören! Der gnädige Herr hat all meine Ratschläge in den Wind geschlagen. Und jetzt haben wir den Salat! Komm mit!“
Leo wusste, dass Tante Gerda mit ihrer Predigt richtig lag. Den Urlaub hatte er sich redlich verdient und ihn so gestaltet, wie er es für richtig erachtete. Da es seine Verlobte Sabine Kofler vorzog, statt eines gemeinsamen Urlaubs einen Job in Frankreich anzunehmen, konnte er endlich die Bücher und Zeitschriften lesen, für die er in den letzten Monaten keine Zeit gehabt hatte. Dafür hatte er im Schuppen einen alten Liegestuhl gefunden, den Tante Gerda als viel zu unbequem erachtete. Er hingegen war damit zufrieden, das alte Ding würde seinen Zweck schon erfüllen. Entgegen Tante Gerdas Rat, sich einen neuen Liegestuhl zu kaufen, benutzte er dieses antike Stück und sparte sich das Geld, was ihm als gebürtigem Schwaben sehr entgegen kam. Das Wetter spielte einigermaßen mit. Wenn nicht, dann legte er sich eine Decke über. Ja, er hatte schnell bemerkt, dass sich der alte, klapprige Liegestuhl als sehr unbequem erwies, trotzdem dachte er nicht daran, ihn durch ein neues Modell zu ersetzen. Ob davon diese Rückenschmerzen kamen? Vermutlich. Tante Gerda hatte wieder einmal Recht behalten.
„Zieh dein T-Shirt hoch“, sagte die alte Dame, als sie mit einer Schachtel aus dem Bad zurückkam. „Du meine Güte! Was ist denn auf dem T-Shirt abgebildet? Ist das eine Hanfpflanze?“
Leo hatte einfach nur in den Schrank gegriffen und hatte nicht darauf geachtet. Ja, das war eine Hanfpflanze, was er jetzt auch als schlechte Wahl erachtete. Das T-Shirt musste bleiben, denn den Weg zurück in seine Wohnung würde er nicht mehr schaffen.
„Du solltest dich schämen, Leo! Als Kriminalbeamter solltest du dich nicht so respektlos kleiden. Damit wirst du dich blamieren! Wann wirst du endlich erwachsen?“ Tante Gerda schüttelte den Kopf. „Was ist nun mit dem T-Shirt? Zieh es endlich hoch!“
„Du musst mir helfen, ich schaffe es nicht.“
Tante Gerda griff beherzt zu. Leo stiegen Tränen in die Augen, die Schmerzen waren unerträglich. Die alte Dame schien kein Mitleid mit ihm zu haben. Sie stellte sich hinter ihn und drückte ihm ein Pflaster auf die nackte Haut, die während seines Urlaubes kaum Farbe angenommen hatte. Er sah aus wie ein einseitig gegrilltes Hähnchen, denn die Vorderseite passte nicht zu seiner Rückseite.
„Das wird jetzt ordentlich warm werden. Wenn die Schmerzen nicht leichter werden, musst du zum Arzt gehen. Der wird dir eine Spritze geben und dir hoffentlich auch Krankengymnastik verschreiben. Wie kann man in deinem Alter nur so dumm sein! Ich habe dir gesagt, dass es dir nicht guttut, auf der klapprigen Liege zwei Wochen faul herumzuliegen.“ Während Leo das T-Shirt in Zeitlupentempo herunterzog, hielt ihm Tante Gerda eine Strafpredigt, die sich gewaschen hatte. Wenn seine Schmerzen nicht so groß gewesen wären, hätte er vielleicht auch mitbekommen, was sie sagte.
Nach einigen Minuten begann das Wärmepflaster zu wirken. Ob er es schaffte, so Auto zu fahren? Er sah auf die Uhr. Schon kurz nach acht. Die Kollegen warteten sicher schon.
„Wo willst du hin?“, sagte Tante Gerda, die ihren Vortrag noch nicht beendet hatte.
„Zur Arbeit.“
„So kannst du ganz sicher nicht Autofahren!“
„Wer sagt das?“
„Ich!“
„Das geht schon. Vielen Dank für Deine Hilfe.“
„Du darfst so nicht fahren, sei doch vernünftig! Wenn dir dein Leben egal ist, solltest du an die anderen Verkehrsteilnehmer denken!“
Leo überhörte die Warnungen und ging langsam zu seinem Wagen. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis er hinter dem Steuer saß. Schon allein den Wagen zu starten kostete unendlich viel Mühe. Immer wieder sah er auf die Uhr, die Minuten rasten dahin. Als er es geschafft hatte, den Rückwärtsgang einzulegen, parkte neben ihm ein Wagen. Es war sein Kollege und Freund Hans Hiebler. Neidisch musste Leo mit ansehen, wie der fünf Jahre ältere Mann beschwingt aus dem Wagen sprang.
„Na, du Invalide?“, grinste ihn Hans frech an.
„Was machst du denn hier?“, fragte Leo.
„Tante Gerda rief mich an. Sie hat mir bereits ausführlich geschildert, wie schlecht es dir geht. Steig aus, ich fahre dich zum Arzt.“
„Danke, aber das ist nicht nötig.“
„Okay, wie du willst. Wir haben einen Mordfall. Bevor ich jetzt zum Tatort fahre, möchte ich sehen, ob du dich bewegen kannst. Steig aus!“
„Nein, das werde ich nicht tun!“ Leo wurde übel, was vermutlich von der Anstrengung kam. Oder vielleicht nur, weil er noch nichts gegessen hatte? Nein, das waren ganz sicher die Schmerzen. „Ich werde jetzt nicht aussteigen. Weißt du eigentlich, wie lange ich gebraucht habe, bis ich hinterm Steuer saß?“
„Steig aus und setz dich in meinen Wagen, du sturer Bock! Ich fahre dich jetzt zum Arzt. Das ist mein letztes Angebot. Danach kannst du zusehen, wie du zurecht kommst.“
Leo sah ein, dass er Hans‘ Hilfe brauchte. Dass er so nicht fahren konnte, war ihm klar. Also begann er, umständlich einen Fuß nach dem anderen aus dem Fahrzeug zu bekommen. Hans griff beherzt zu und zog Leo aus dem Auto. Die Schmerzen waren unvorstellbar. Ihm wurde schwindelig und konnte dem, was Hans mit ihm machte, nichts entgegensetzen. Nur wenige Augenblicke später saß Leo in Hans‘ Wagen und konnte vorsichtig durchatmen.
„Danke für den Anruf, Tante Gerda!“, rief Hans der alten Dame zu, die tatsächlich seine echte Tante war. Er hatte Leo die Wohnung auf dem alten, renovierten Hof vermittelt, als der nach seiner Versetzung vor fünf Jahren eine Bleibe suchte.
„Das ist die Adresse des Arztes in Tüßling. Kümmere dich um Leo! Und bring ihm bei, dass man in seinem Alter nicht zwei Wochen auf einer alten, kaputten Liege verbringt! Er soll endlich kapieren, dass man sich bewegen muss!“
„Ich kann dich hören“, sagte Leo.
„Wenn das, was ich dir sage, auch in deinem Dickschädel ankommen würde, wäre ich zufrieden.“
„Stimmt das? Bist du in den letzten zwei Wochen nur im Liegestuhl gelegen, während wir dazu verdammt waren, alte Fälle durchzuarbeiten?“
Leo nickte nur. Er hatte bereits erfahren, dass sich der Chef in den Kopf gesetzt hatte, diese unliebsame Arbeit endlich umzusetzen. Leo musste zugeben, dass er sich gefreut hatte, davonzukommen.
„Na toll! Und wegen deiner Faulenzerei muss ich jetzt auch noch den Krankenpfleger spielen! Tante Gerda hatte völlig Recht. Wie kann man nur….“
„Hör schon auf! Nicht du auch noch! Ich hatte Urlaub und muss mich vor niemandem rechtfertigen, wie ich den verbracht habe. Kannst du dir vorstellen, dass ich große Schmerzen habe? Wie wäre es mit etwas Mitgefühl?“
„Kannst du vergessen! Tatjana, Diana und ich mussten uns durch staubige Akten wühlen, was übrigens nichts gebracht hat. Diesbezüglich vermisse ich auch dein Mitgefühl!“
„Du sprachst vorhin von einem Tatort“, lenkte Leo vom Thema ab.
„Es gibt einen Toten in der Tilly-Gruft.“
„Wo?“
„In der Tilly-Gruft in der Altöttinger Stiftskirche. Der Feldherr Tilly sagt dir nichts?“
„Nein, nicht wirklich.“
„Arbeite gefälligst an deiner Allgemeinbildung! Tilly war ein berühmter Feldherr während des Dreißigjährigen Krieges. Er wurde zwanzig Jahre nach seinem Tod in die Altöttinger Stiftskirche überführt und ist dort in der Tilly-Gruft beigesetzt. Sein Herz ruht in der Gnadenkapelle. Hast du echt noch nie seinen gefensterten Sarg gesehen?“
„Nein.“
„Da hast du was verpasst! Man kann durch das kleine Fenster den Schädel von Graf Tilly sehen.“
„Warum soll ich mir den ansehen? Was hätte ich davon?“
„Das ist Geschichte, mein Lieber. Hast du daran kein Interesse?“
„An Toten ganz sicher nicht. Damit muss ich mich schon von Berufs wegen herumschlagen, das tue ich mir während meiner Freizeit sicher nicht an.“
„Ich fasse es nicht, dass du noch nie etwas von Graf Tilly gehört hast! Wie lange lebst du jetzt schon in Altötting? Das müssten doch schon fünf Jahre oder noch länger sein!“
„Jetzt fang dich mal wieder! Es gibt sicher Dinge, die auch dir nicht geläufig sind. Wer ist das Opfer? Was ist passiert?“
„Keine Ahnung. Statt am Tatort zu sein, muss ich dich ja zum Arzt chauffieren!“
Die Behandlung dauerte nicht lange. Leo wurde bereits erwartet und konnte trotz des vollen Wartezimmers sofort in die Praxis durchgehen. Wie Tante Gerda das geschafft hatte, war ihm ein Rätsel. Als der Arzt das Wärmepflaster sah, entfernte er es, was nicht ohne Schmerzen möglich war. Leo schrie auf, was dem Arzt nur ein Lächeln entlockte.
Hans flirtete in der Zwischenzeit mit der hübschen Sprechstundenhilfe, was er leider nicht auskosten konnte. Nach wenigen Minuten war Leo bereits fertig und sie konnten gehen.
„Und?“
„Spritzen und ein Rezept für Schmerzmittel. Außerdem muss ich zur Krankengymnastik, aber das kann der Arzt vergessen. Was soll ich dort? Es habe mir sicher nur einen Nerv eingeklemmt, das wird schon wieder. Können wir? Ich bin gespannt, was uns in dieser Tilly-Gruft erwartet.“
Hans musste lachen. Leo ging es deutlich besser, auch wenn er immer noch etwas gebückt ging und sogar humpelte. Dass sein Freund und Kollege maßlos übertrieb, war ihm klar. Was für ein Weichei! Er hätte an dessen Stelle die Zähne zusammengebissen und den Schmerz ertragen.
Tatjana Struck hatte den Tatort fest im Griff. Die achtunddreißigjährige Leiterin der Mordkommission hatte bereits einige Zeugen vernommen und sogar schon einen Streit mit Friedrich Fuchs vom Zaun gebrochen. Der Leiter der Spurensicherung hatte den Tatort abgesperrt und jedem verboten, auch nur einen Fuß über die Absperrung zu setzen. Der Streit war dadurch entstanden, als sich Fuchs erlaubte, Tatjana vor allen Kollegen zu maßregeln, was sich diese nicht gefallen ließ.
„Endlich“, begrüßte Diana Nußbaumer Leo und Hans. „Ich dachte schon, ihr kommt überhaupt nicht mehr.“ Diana war neu im Team. Die achtundzwanzigjährige, sehr ehrgeizige Kollegin sah heute wieder fantastisch aus. Diana gab sich immer sehr viel Mühe mit ihrem Äußeren. Sie passte mit ihrem pinkfarbenen, kurzen Rock, dem Top und den schwarzen, hochhackigen Schuhen mit der dazu passenden riesigen Handtasche nicht zur Tilly-Kapelle in der Altöttinger Stiftskirche.
„Sind das alles Zeugen?“, fragte Leo und zeigte auf eine große Gruppe, unter denen sich auch einige Mönche und Ordensschwestern befanden.
„Nein. Die Putzfrau Olga Nemec hat die Tote gefunden. Nachdem ich sie befragt habe, habe ich sie nach Hause geschickt. Die arme Frau ist völlig fertig mit den Nerven, was ich durchaus verstehen kann. Frau Nemec hat die Leiche um 7.35 Uhr gefunden und sofort die Polizei gerufen. Nach ihr kamen der Hausmeister, die Mesnerin und der Kerzenlieferant. Frau Nemec hat niemanden gehört oder gesehen, die anderen auch nicht. Nach unserem Eintreffen wurden alle Ein- und Ausgänge versperrt und die Stiftskirche wurde durchsucht.“
„Lass mich raten: Ihr habt nichts gefunden?“
„Richtig. Die Frau, deren Identität noch nicht geklärt ist, wurde erschlagen. Die Tatwaffe ist ein Kreuz aus Metall, das neben der Leiche gefunden wurde.“
„Wenn alle Ein- und Ausgänge versperrt wurden, frage ich mich, wie die ganzen Menschen hier reinkamen“, sagte Hans, der nicht fassen konnte, wieviel Leute hier waren. Hatten die nichts zu tun?
„Die waren schon hier, als wir eintrafen. Wir konnten ja nicht wissen, dass die nur aus Neugier hier sind. Ich wollte sie bereits wegschicken, aber Tatjana will das persönlich übernehmen.“
„Und warum ist das nicht schon längst geschehen?“
„Weil Fuchs sie ständig davon abhält. Der hat heute eine Laune, die nicht zu ertragen ist. Ich habe bereits versucht, ihn zu besänftigen, was mir aber auch nicht gelang. Er und Tatjana geraten ständig aneinander, was mir so langsam peinlich ist und auch auf die Nerven geht. Ihr müsst euch den Tatort ansehen. Macht euch auf etwas gefasst, das ihr so vielleicht noch nie gesehen habt.“
„Was ist damit?“
„Seht es euch selbst an, sonst glaubt ihr mir nicht.“
Leo und Hans standen vor der Absperrung, die Fuchs angebracht hatte. Beide schlüpften unter dem Band durch, was Fuchs beobachtete. Ab jetzt würde er die beiden Kriminalbeamten nicht mehr aus den Augen lassen.
Hans ging zuerst. Die Treppe zur Tilly-Gruft hatte sehr enge Stufen, was für seine Schuhgröße eine Herausforderung war. Hans starrte auf die nackte Frauenleiche, die mit dem Gesicht nach unten auf dem Tilly-Sarg lag. Ihre roten Haare deckten das Sichtfenster des Sarges ab. Das Blut am Hinterkopf und auf dem Sarg glänzte im Schein der hellen Lampen, die Fuchs aufgestellt hatte. Hans registrierte sofort, dass das Blut noch nicht getrocknet war. Auf den beiden Särgen links und rechts des Tilly-Sarges, und auf den beiden Särgen direkt neben der Treppe, in denen Tillys Neffe Werner und dessen Familie bestattet wurden, standen mehrere Kerzen, darunter eine schwarze Kerze. Auf dem Sarg rechts lag ein großes Kreuz aus Metall – vermutlich die Tatwaffe, von der Diana sprach. Auch auf dem Boden standen viele Kerzen, unter denen sich auch zwei rote befanden.
„Was ist das denn?“, sagte Hans erschrocken. „Eine Totenmesse in der Tilly-Gruft? Das hatten wir auch noch nie.“
„Ich weiß nicht. Eine Totenmesse? Ist das nicht zu weit hergeholt?“ Leo war Hans gefolgt, brauchte aber sehr viel länger. Jede einzelne Treppenstufe schmerzte gewaltig. Unter normalen Umständen hätte er sich mit den Fotos zufrieden gegeben, aber seine Neugier war nach dem Gespräch mit Diana viel zu groß. Er war nicht minder geschockt von dem Anblick des Tatorts.
Beide sahen zu, wie einer von Fuchs‘ Mitarbeitern Fotos machte. Dann nahm er das rote Haar, das das Gesicht bedeckt hatte und machte mehrere Bilder von dem Gesicht. Leo und Hans erschraken. Das Gesicht war völlig verunstaltet worden.
„Sind das Schnitte?“, frage Hans den Kollegen Fuchs, der immer noch jede Bewegung der Kollegen registrierte. Hans hatte sich in der engen Tilly-Gruft zur Leiche vorgedrängelt und sah ihr ins Gesicht.
„Ja. Ich vermute ein scharfes Messer oder eine Rasierklinge.“
„Sie war stark geschminkt“, sagte Hans und zeigte auf eine falsche Wimper, die blutverschmiert an der Wange hing.
„Auch das haben wir registriert.“
Hans besah sich die Hände und Füße der Toten.
„Manikürt“, murmelte er.
„Auch das haben wir bereits notiert“, maulte Fuchs. Glaubte Herr Hiebler, dass er das nicht gesehen hatte?
„Kann man das Opfer jetzt endlich abdecken?“, sagte Leo an Fuchs gewandt. Er verzichtete darauf, sich der Leiche noch mehr zu nähern, denn dafür war einfach nicht genug Platz. Da genug Fotos von der Toten gemacht wurden, befand er es an der Zeit, die Leiche abzudecken.
„Wollen Sie mir jetzt auch vorschreiben, wie ich meine Arbeit zu machen habe? Ich warne Sie, Herr Schwartz, meine Toleranzgrenze ist für heute erreicht.“
„Und trotzdem sollten Sie professionelle Arbeit machen! Ihre Befindlichkeiten sind mir völlig egal! Decken Sie die Leiche endlich ab! Wie lange soll die Frau denn noch entblößt für alle sichtbar hier liegen? Würde es Ihnen gefallen, wenn Sie anstelle des Opfers wären und man Ihnen so wenig Respekt zollen würde?“
Der Anschiss zeigte Wirkung. Fuchs nahm ein Laken und deckte die Frau zu.
„Todeszeitpunkt?“
„Gestern zwischen zwanzig Uhr und Mitternacht. Genauer kann ich mich nicht festlegen. Sie sehen ja selbst, in welcher Umgebung die Tote lag.“
„Warum ist das Blut noch nicht getrocknet?“
„Das liegt an der Umgebung.“
„Wir vermuten eine Totenmesse“, sagte Leo und sah Fuchs an. „Was denken Sie?“
„Das war auch mein erster Eindruck, aber daran glaube ich nicht. Totenmessen oder Schwarze Messen, die es seit Jahrhunderten geben soll, sind nie nachgewiesen worden. Ich bin Realist und will nicht glauben, dass es so etwas gibt.“
„Und trotzdem sieht es danach aus. Wo ist die Kleidung der Toten?“
„Die wurde nicht gefunden. Und bevor Sie fragen: Es gab weder Schuhe noch eine Tasche oder dergleichen. Haben Sie jetzt alles gesehen? Wenn ja, würde ich Sie bitten, wieder zu gehen. Sie sehen ja selbst, wie eng es hier ist.“
„Sicher.“
Hans übernahm es, die Personalien aller Anwesenden aufzunehmen, die am Geländer rund um die Tilly-Gruft standen. Dann versuchte er, die Leute wegzuschicken, was sich sehr schwierig gestaltete. Vor allem die Ordensschwestern und Mönche waren geschockt von der Leiche in der Tilly-Gruft. Alle hatten dieselbe Vermutung: Es gab eine Totenmesse in der Tilly-Gruft und die Tote war eine Opfergabe. Das war ein Skandal, den es in diesen ehrwürdigen Mauern noch nie gegeben hat. Einige Schaulustige stimmten ein Gebet an, denen andere folgten und lauter und lauter wurden. Als das auch noch in einen Gesang überging, war für Hans das Maß voll.
„Okay, Leute. Es dürfen nur die bleiben, die unmittelbar mit dem Mord oder der Toten zu tun haben. Alle anderen bitte ich zu gehen“, sage Hans sehr laut. Der Gesang verstummte, niemand rührte sich. „Sehr schön. Dann kann ich davon ausgehen, dass Sie alle tatverdächtig sind“, fügte er hinzu und zog seinen kleinen Block aus der Brusttasche. Darauf drehten sich alle um und verschwanden. Alle, bis auf einen.
„Wer sind Sie?“
„Bruder Niklaus. Ich fürchte, dass ich mit der Toten gestern am späten Abend gesprochen habe“, sagte der ältere Mann, dessen braune Kutte den runden Bauch nicht verhüllen konnte.
„Sie sind sich da ganz sicher?“ Hans war überrascht, denn man konnte das Gesicht der Toten nicht wirklich erkennen. Zum einen, weil sie mit dem Gesicht nach unten lag, und zum anderen, weil es entstellt wurde.
„Ja. Die Frau von gestern Abend hatte dasselbe rote Haar.“
„Geben Sie das Gespräch mit der Frau genau wieder.“
„Ich war an der Pforte, als sie nach Bruder Clemens verlangte. Ich teilte ihr mit, dass es für einen Besuch zu spät sei und bat sie, am nächsten Tag wiederzukommen. Daraufhin ist sie wieder gegangen. Sie schien enttäuscht zu sein, aber mir waren die Hände gebunden. Besuche um diese späte Zeit sind nicht erlaubt und daran habe ich mich gehalten.“ Hans kannte die Kutte des Glaubensbruders und wusste, dass es sich um einen Kapuziner handelte, dessen Kloster sich nur wenige Meter auf der anderen Straßenseite befand. „Vielleicht würde sie noch leben, wenn ich mich nicht an die Regeln gehalten hätte und einfach Bruder Clemens gerufen hätte.“
„Machen Sie sich darüber keine Gedanken.“
„Das sagen Sie so leichtfertig, ich mache mir die schlimmsten Vorwürfe.“
„Wenn Sie die Frau nicht getötet haben, haben Sie sich nichts vorzuwerfen. Was wollte sie von Bruder Clemens?“
„Das weiß ich nicht. Sie hat es mir nicht verraten und ich habe sie nicht gefragt. Wenn ich doch nur….“
„Von welcher Uhrzeit sprechen wir? Wann haben Sie mit der Frau gesprochen?“
„Es war kurz vor einundzwanzig Uhr. Wir schließen unser Kloster nach der letzten Messe um zwanzig Uhr dreißig.“ Bruder Niklaus war völlig aufgelöst und zitterte.
„Wo finden wir Bruder Clemens?“ Hans war kein Seelsorger, den musste Bruder Niklaus in den eigenen Reihen suchen.
„Er hat Dienst in der Basilika.“
„Hier ist meine Karte. Sollte Ihnen noch etwas einfallen, melden Sie sich. Sie können jetzt gehen.“
Hans ging zu Tatjana, die sich erneut mit Fuchs angelegt hatte. Der Streit zwischen den beiden hallte in der alten, beeindruckenden Kirche, was beide offensichtlich nicht interessierte.
„Nun blasen Sie sich doch nicht so auf, Fuchs!“
„Für Sie immer noch Herr Fuchs, Frau Struck! Sie müssen warten, bis wir hier fertig sind, erst dann kann ich mehr sagen. Und jetzt lassen Sie mich endlich meine Arbeit machen!“
Hans unterbrach die beiden und schilderte, was er von Bruder Niklaus erfahren hatte.
„Such diesen Bruder Clemens, die Basilika ist ja nicht weit. Nimm Leo mit!“
Leo hielt sich am Geländer der Tilly-Gruft fest. Er fühlte sich zwar besser, aber für einen Fußmarsch von der Stiftskirche bis zur Basilika nicht fit genug. Wenn er an das unebene Kopfsteinpflaster und die vielen Stufen der Basilika dachte, wurde ihm schlecht.
„Sei so gut und nimm Diana mit“, sagte er und lehnte sich nun gegen die kalte Mauer der Stiftskirche, was aber auch keine Linderung brachte. „Ich muss zur Apotheke und mein Rezept einlösen, die Schmerzen sind kaum auszuhalten“, sagte er und ging langsam davon.
„Was hat er?“, fragte Tatjana Hans.
„Hexenschuss.“
„Naja, er ist ja auch nicht mehr der Jüngste. Habe ich richtig gesehen? Ist auf seinem T-Shirt eine fette Hanfpflanze?“
„Ja. Lustig, nicht wahr? Der traut sich was! Wenn das der Chef sieht, flippt der aus.“
„Dann wird der Tag vielleicht doch noch ganz nett. Such Bruder Clemens und nimm Diana mit.“
„Ist das so klug?“
„Was meinst du?“
„Hast du gesehen, wie sie aussieht? Willst du, dass die Ordensbrüder einen Herzinfarkt bekommen? Wäre es nicht besser, wenn wir beide uns auf den Weg machen und Diana hierbleibt?“
„Diana macht ihre Arbeit, so wie wir alle. Es hat niemanden zu interessieren, wie eine Kriminalbeamtin gekleidet ist – auch die Ordensbrüder nicht! Sieh mich an!“
Hans musste lachen, was sich nach dem Streit auch sehr unnatürlich anhörte, aber er konnte nicht anders. Tatjana war rein optisch das genaue Gegenteil von Diana. Während die immer sehr ansehnlich und wie aus dem Ei gepellt aussah, legte Tatjana überhaupt keinen Wert auf ihr Äußeres. Auf ihrem ungebügelten T-Shirt leuchtete ein Fleck, der nach Eigelb aussah. Zu der alten Jeans, die etwas zu lang war, leuchteten neue, hellblaue Sneaker, mit denen sie kürzlich im Dreck gelaufen sein musste.
„Es ist besser, wenn ich hierbleibe und Fuchs Dampf mache, sonst müssen wir noch tagelang warten, bis wir endlich brauchbare Informationen von ihm bekommen.“
Hans genoss den kurzen Spaziergang mit Diana. Der Mai war nach einem holprigen Start zum Ende hin endlich in Fahrt gekommen. Es war warm und überall blühte es. Vor allem aber genoss er die Blicke auf die Frauen, die nach dem langen Winter endlich wieder mehr Haut zeigten.
„Du bist echt peinlich, Hans!“, sagte Diana, die die Blicke sehr wohl bemerkte.
„Ich und peinlich? Warum?“
„Starr doch die Frauen nicht so an!“
„Warum nicht? Die kleiden sich sehr hübsch und laufen in der Öffentlichkeit herum. Ich sehe keinen Grund, warum ich das nicht anerkennen sollte.“
„Du bist echt von vorgestern! Wir ziehen uns nicht für andere an, sondern für uns.“
„Das sehe ich anders.“
Leo kam nur langsam voran. Kurz nach dem Hintereingang der Stiftskirche musste er anhalten. Er hielt sich an einer Bank fest und atmete schwer. Dann hörte er sich stöhnen und schämte sich dafür. Ganz so alt und gebrechlich, wie er sich gab, war er dann doch noch nicht. Er nahm sich vor, sich zusammenzureißen. Gerade, als er weitergehen wollte, bemerkte er in einem der beiden Papierkörbe neben der Bank eine Plastiktüte, aus der ein gemusterter Stoff herauslugte. Mit einem Taschentuch zog er an dem Stoff und erkannte ein Kleid. Als er auch noch einen Damenschuh in der Tüte entdeckte, nahm er das Handy und rief Fuchs an.
„Ich befinde mich an einer Bank vor dem Hintereingang der Stiftskirche und habe vermutlich die Kleidung der Toten gefunden“, sagte er.
„Wir kommen.“ Fuchs reagierte sofort und drängelte sich an Tatjana Struck vorbei, die das nicht unkommentiert ließ. Frau Struck war heute sehr mies gelaunt, was ihm mehr und mehr auf die Nerven ging. Eine Abwechslung kam ihm da sehr gelegen. Er sah Leo Schwartz, wie der sich an einer Bank abstützte.
„Sie sollten zum Arzt gehen“, sagte Fuchs zu Leo.
„Da war ich schon.“
Mehr wollte Fuchs zum Zustand seines Kollegen nicht sagen. Das Befinden seiner Kollegen gehörte nicht zu seinem Aufgabengebiet. Außerdem war Herr Schwartz alt genug, um sich selbst um seinen Gesundheitszustand zu kümmern.
„Gibt es eine Handtasche, ein Handy, oder dergleichen?“ Leo hatte ohne Handschuhe nicht gewagt, die Plastiktüte zu durchsuchen.
„Nein. Nur Kleidung und Schuhe, mehr leider nicht.“
Fuchs hatte alles im Griff, deshalb konnte Leo endlich weitergehen. Er musste mehrere Passanten nach der nächstgelegenen Apotheke fragen, bis er endlich an seinem Ziel in der Bahnhofstraße angekommen war. Er riss sich zusammen, denn je näher er der Apotheke kam, desto größer wurden die Schmerzen.
Eine Frau kümmerte sich um ihn und nahm ihm das Rezept ab, das er in der Hand hielt.
„Wollen Sie sich setzen? Sie sehen nicht gut aus.“ Die Frau schien ernsthaft besorgt.
Leo erschrak. Die Schmerzen waren tatsächlich nicht mehr ganz so schlimm. Gab er solch ein jämmerliches Bild ab?
„Danke, aber das geht schon“, sagte er und ärgerte sich, dass er sich so gehen ließ. Leo wusste, dass er nicht sehr leidensfähig war, was er aber niemals freiwillig zugeben würde. Er lächelte die junge Frau an, die neben ihm stand und von einem Mann bedient wurde. Es schien ihr peinlich zu sein, dass sie nach Schlafmitteln verlangte, die es nur in geringer Menge gab. Schweigend hörte sie sich die Belehrungen des Apothekers an, bevor sie endlich die Schlafmittel bekam. Sie steckte sie in ihre Tasche. Dabei verhakte sich die Verpackung und fiel auf den Boden. Wenn Leo fit gewesen wäre, hätte er sie aufgehoben, aber dazu fühlte er sich nicht in der Lage. Die Frau kniete sich auf den Boden und steckte die Packung rasch in ihre Handtasche, deren Inhalt für einen kurzen Moment sichtbar wurde. Leo erschrak, denn darin befanden sich mehrere Medikamentenverpackungen. Ihm war sofort klar, dass es sich dabei auch um Schlafmittel handeln musste.
„Dann bekomme ich von Ihnen fünf Euro neunzehn Zuzahlung“, sagte die Frau hinter dem Tresen. Leo schob ihr einen zehn Euroschein zu. Als Schwabe hätte er auf das Restgeld pochen müssen, aber er war auch Polizist. Jede Sekunde zählte, denn er musste dringend mit der Frau sprechen, die bereits die Apotheke verlassen hatte. Als er die Schmerzmittel an sich nahm, war er für einen Moment irritiert. Hatte er die nicht auch schon in diversen Werbungen gesehen? Konnte es sein, dass ihm der Arzt für die heftigen Schmerzen nur ein handelsübliches Mittel verschrieben hatte, das es an jeder Ecke zu kaufen gab? Darum musste er sich später kümmern, jetzt gab es Wichtigeres.
„Stimmt so“, sagte er deshalb und lief der Frau hinterher. Im Gehen nahm er eine Tablette. Wie lange wohl die Wirkung auf sich warten ließ? Er biss die Zähne zusammen, denn er spürte jeden Schritt, wobei die Schmerzen seltsamerweise nicht mehr ganz so schlimm waren. Wirkten die Tabletten so schnell? Konnte das sein? Die junge Frau lief Richtung Bahnhof. Ob er es schaffte, sie zu erreichen? Zum Glück kam eine Gruppe Wallfahrer mit hunderten von Gläubigen vom Bahnhof her auf ihn zu. Diese Gruppe, die von einem Mann mit einem riesigen Kreuz angeführt wurde, blockierte die ganze Bahnhofstraße. Leo kannte das schon. Er hatte schon oft gesehen, wie rücksichtlos manche Wallfahrerzüge vorgingen, um sich den Weg zum Ziel, der Gnadenkapelle auf dem Altöttinger Kapellplatz, zu bahnen. Normalerweise würde er sich darüber aufregen, aber diesmal kam ihm die Rücksichtslosigkeit entgegen. Die junge Frau, die er schon fast verloren glaubte, musste anhalten und kam nur schrittweise vorwärts, was ihm Zeit gab, aufzuholen. Er war nur noch wenige Meter von ihr entfernt. Dann steckte auch er fest. Er wurde angerempelt und rücksichtslos zur Seite gedrängt, was seinem Rücken nicht guttat und ihn wütend machte. Am liebsten hätte er jeden einzelnen verhaftet, aber dafür war keine Zeit. Er hielt Ausschau nach der Frau, die es geschafft hatte, an dem Wallfahrerzug vorbeizugehen. Leo war sauer und drängelte nun seinerseits zurück, was von den Teilnehmern des Wallfahrerzuges mit Beschimpfungen quittiert wurde. Leo war das egal. Er hatte nur noch die Frau im Blick, die jetzt an der Fußgängerampel kurz vor dem Bahnhof stehenbleiben musste. Super, vielleicht erreichte er sie doch noch. Er versuchte, die Schmerzen zu ignorieren und konnte schneller gehen, als er sich endlich an der Gruppe vorbeigedrängelt hatte. Die Ampel schaltete auf grün und die Frau hatte bereits einen Fuß auf die Straße gesetzt, als Leo sie zurückhielt.
„Kriminalpolizei“, keuchte er und hielt ihr seinen Ausweis vor. „Papiere!“ Mehr brachte er nicht hervor. Der kurze Fußweg von der Apotheke bis hierher war für ihn ein wahnsinniger Kraftaufwand gewesen; er war völlig fertig.
Die Frau starrte Leo erschrocken an. Dann kramte sie umständlich in ihrer Tasche, wobei sie bemüht war, dass er den Inhalt nicht sehen konnte.
„Regina Liebers“, las Leo laut. „Sie wohnen in Kastl?“
„Ja. Was habe ich angestellt?“
Leo sah sich um. Hier direkt an der Kreuzung war kein geeigneter Platz für eine Befragung. Außerdem musste er sich setzen. Der Gasthof gegenüber hatte noch zu. Dann entdeckte er auf der anderen Straßenseite neben dem Bahnhofsvorplatz den Omnibusbahnhof mit mehreren Bänken.
„Gehen wir dort rüber, dann erkläre ich es Ihnen“, sagte Leo und versuchte ein gequältes Lächeln. Die Schritte wurden schwerer und schwerer. Als eine der Bänke des Omnibusbahnhofes in greifbare Nähe kam, konnte er es kaum erwarten, sich endlich setzen zu können. Mit einem tiefen Seufzer ließ er sich langsam nieder. Geschafft. Er brauchte einen Moment, um die richtigen Worte zu finden. Außerdem war er immer noch, oder schon wieder, außer Atem.
„Geben Sie mir Ihre Tasche“, sagte Leo, auch wenn ihm klar war, dass er dazu nicht befugt war. Er hatte die erschrockenen Augen der zweiunddreißigjährigen Frau gesehen und hatte Mitleid mit ihr. Außerdem spürte er, dass sie Angst hatte.
Wortlos übergab ihm Regina Liebers die Tasche. Leo bemerkte sehr wohl, dass sie zitterte. Waren das Tränen in ihren Augen?
Er öffnete die Tasche und sah eine riesige Menge Medikamente. Er nahm eine Packung nach der anderen – alles Schlafmittel.
„Das sind ganz schön viele. Was haben Sie damit vor?“ Leo sprach so ruhig wie möglich.
Jetzt weinte Frau Liebers. Leo sah keinen Ring an ihrem Finger. Ob er sie einfach in den Arm nehmen und trösten sollte? Nein, das wagte er nicht. Er gab ihr ein Taschentuch und schämte sich, wie übel und zerknittert das aussah.
„Das ist unbenutzt, auch wenn es nicht so aussieht“, entschuldigte er sich.
Jetzt lächelte sie und nahm es trotzdem. Leo war erleichtert.
„Wollen Sie mir nicht antworten? Was haben Sie mit den vielen Tabletten vor?“
Die Frau sagte immer noch nichts.
„Sehen Sie sich doch um, Frau Liebers! Es ist Frühling! Die Natur explodiert und die Vögel geben ihr Bestes. Das Leben ist schön und Sie sind jung. Warum wollen Sie Ihr Leben wegwerfen? Ich bin sicher, dass Sie noch sehr viel daraus machen können.“
„Die Tabletten sind nicht für mich“, sagte sie und starrte Leo an.
„Nicht? Da bin ich aber erleichtert! Wenn die nicht für Sie sind, für wen sind sie dann?“
„Für meinen Onkel. Er ist schwer krank und möchte nicht mehr leben.“
Leo war sauer. Auch wenn er die Beweggründe des Onkels vielleicht verstehen würde, durfte er seine Nichte dazu nicht missbrauchen. Er musste mit dem Onkel sprechen und ihm ins Gewissen reden.
„Was passiert jetzt? Es war nicht leicht, an die Schlafmittel zu kommen. Seit Tagen klappere ich eine Apotheke nach der anderen ab.“
„Ich verstehe. Die Abgabemenge darf nicht groß sein, deshalb müssen Sie sammeln.“
Regina Liebers nickte nur.
Bevor sich Leo den Onkel vornahm und der sich eine Predigt anhören durfte, brauchte er mehr Details.
„Erzählen Sie mir von Ihrem Onkel. Vor allem interessiert mich, warum er Sie um diesen Gefallen bat.“
Während sich Leo mit Frau Liebers unterhielt, hatten Hans Hiebler und Diana Nußbaumer endlich Bruder Clemens gefunden. Er befand sich in der Sakristei der Basilika. Hans war genervt, denn sie hatten lange suchen müssen. Außerdem gab es zwei Besucher in der Basilika, die sich über den kurzen Rock und das schulterfreie Top Dianas aufregten. Während Diana die blöden Sprüche ignorierte und einfach weiterging, legte sich Hans mit den beiden an und stauchte sie zusammen.
„Lass sie doch reden“, sagte Diana, die sich ein Schmunzeln nicht verkneifen konnte.
„Diese Pseudoreligiösen gehen mir tierisch auf die Nerven! Vor allem die Frau war sehr unverschämt. So etwas kann ich auf den Tod nicht ausstehen.“
„Wie kann ich helfen?“, fragte Bruder Clemens und sah Diana abschätzend an.
„Kriminalpolizei. Mein Name ist Hiebler, das ist meine Kollegin Nußbaumer. Kennen Sie diese Frau?“ Hans hielt ihm sein Handy vor, worauf sich der Mann bekreuzigte.
„Ist sie tot?“
„Ja. Kennen Sie die Frau?“
„Nein, ich denke nicht.“
„Sie sind sich nicht sicher?“
„Entschuldigen Sie, aber auf dem Bild kann man nicht viel erkennen. Wie kommen Sie darauf, dass ich die Frau kennen könnte?“
„Sie war gestern Abend an der Pforte des Klosters und hat nach Ihnen gefragt.“
„Nach mir?“
„Bitte kommen Sie mit und sehen Sie sich die Frau an. Vielleicht können Sie sich doch erinnern.“
Die drei gingen zurück in die Stiftskirche. Fuchs hatte die Kleidungsstücke an sich genommen und war wieder zurück am Tatort. Er und seine Mitarbeiter waren fertig und gerade dabei, die Absperrungen zu beseitigen.
„Dürfen wir einen Blick auf die Leiche werfen?“, fragte Diana den Leiter der Spurensicherung und lächelte ihn an.
„Sie müssen sich beeilen, die Leiche wird jeden Moment weggebracht“, sagte Fuchs und lächelte zurück, auch wenn er dabei kaum die Mundwinkel bewegte.
Bruder Clemens bekreuzigte sich und ging langsam auf die Leiche zu, die immer noch auf dem Tilly-Sarg lag. Hans schlug das Tuch zur Seite. Das Gesicht der Toten lag genau auf dem Sichtfenster des Sarges, das sonst Besuchern den Blick auf den Schädel Tillys freigab. Rote Locken umrahmten das Gesicht, auf dem Hinterkopf war eine klaffende Wunde, die den größten Teil des Haares blutdurchtränkt hatten. Das Blut glänzte immer noch im Schein der Deckenlampe der Tilly-Gruft, ohne Fuchs‘ Lampen allerdings gedämpfter. Die Augen der Frau waren geschlossen. Die rotgeschminkten Lippen waren geradezu perfekt, der Rest sah schrecklich aus.
„Und? Kennen Sie die Frau?“, drängelte Hans.
Anfangs war Bruder Clemens angewidert und wollte verneinen, aber irgendetwas hielt ihn zurück. Konnte das sein? Nein, das war doch nicht möglich! Er trat näher an die Leiche und strich vorsichtig das Haar zur Seite.
„Ich bin mir nicht sicher, aber das könnte Hildegard Bückler sein“, flüsterte er und trat zurück, wobei er strauchelte und fast gefallen wäre, wenn Hans ihn nicht gestützt hätte.
„Wer ist Hildegard Bückler?“
„Sie ist die Schwester meines bestens Freundes Norbert“, stammelte Bruder Clemens. „Wir wuchsen in Erding auf und waren unzertrennlich. In der Schule saßen wir immer nebeneinander. Auch, als wir beide aufs Gymnasium gingen. Jede freie Minute verbrachten wir gemeinsam, obwohl wir sehr unterschiedliche Interessen entwickelten. Norbert machte viel Sport, während ich lieber las und Geige spielte. Trotzdem haben wir uns immer gut verstanden. Nach dem Abitur hat das Leben seine Weichen gestellt und wir haben uns aus den Augen verloren. Es kam nicht selten vor, dass ich das sehr schade fand. Vor drei Monaten stand Norbert plötzlich vor mir und teilte mir mit einem strahlenden Lächeln mit, dass er sich in Burghausen selbständig machen wolle. Das würde natürlich auch bedeuten, dass er künftig hier leben würde. Sie können sich nicht vorstellen, wie sehr ich mich gefreut habe. Die Aussicht darauf, mit meinem besten Freund wieder regelmäßig verkehren zu können, hat mich sehr gefreut. Auch wenn wir beide sehr unterschiedliche Leben führen, fühlten wir sofort wieder die Verbundenheit zwischen uns. Und jetzt ist Hildegard tot. Was wollte sie von mir? Und wo ist Norbert? Es wird ihm doch nichts passiert sein?“ Bruder Clemens sah Hans mit weit aufgerissenen Augen an. Dann griff er unter die Kutte und zog ein Handy hervor, das er mit zitternden Händen einschaltete. Er versuchte wieder und wieder seinen Freund zu erreichen, es meldete sich aber nur die Mailbox. Dort hinterließ Bruder Clemens mehrere Nachrichten.
„Er meldet sich nicht. Da muss etwas passiert sein, denn Norbert geht sonst immer ans Telefon. Ich bitte Sie: Helfen Sie mir.“
„Wir kümmern uns darum. Wo wohnt Ihr Freund?“
„Momentan im Hotel Eichenhof in Burghausen. Er hat trotz großer Bemühungen noch keine passende Wohnung gefunden. Das kann ich verstehen, denn der Aufbau seiner Firma hat Vorrang.“
„Hat Ihr Freund Familie?“
„Nein. Nach dem Tod der Eltern hatte er nur noch Hildegard.“
„Was macht er beruflich?“
„Er ist Versicherungsmakler, wie sein Vater es war. Er hatte damals die Firma seines Vaters übernommen, aber es war irgendwie nie seine eigene. Auf einer Fortbildung hat er einen Kollegen aus Burghausen kennengelernt und beide wollten sich hier in Burghausen eine gemeinsame Firma aufbauen.“
„Warum hier und nicht in Erding?“
„Das müssen Sie ihn selbst fragen. Auch wenn Norbert nicht von hier ist, würde er in kürzester Zeit sehr erfolgreich werden, davon bin ich überzeugt. Norbert war immer schon sehr ehrgeizig. Wenn er sich etwas in den Kopf setzt, zieht er das gnadenlos durch.“
„Was ist mit ihr?“, zeigte Diana auf die Tote. „Hatte sie Familie?“
„Nein, auch sie war alleinstehend. Sie lebte immer noch in Erding. Sie hat nach dem Tod der Eltern das Haus übernommen und ihren Bruder ausbezahlt. Das Erbe hat er zur Seite gelegt und ist ein Teil des Startkapitals für die neue Firma, den Rest hat er sich in den letzten Jahren zusammengespart. Über welche Beträge wir sprechen, weiß ich nicht, davon habe ich keine Ahnung und das geht mich auch nichts an. Über Geld haben Norbert und ich nie groß gesprochen.“
„Wann haben Sie das Opfer zum letzten Mal gesehen?“
„Das ist viele Jahre her, weit über zwanzig Jahre. Wir wollten uns in diesem Sommer zu Norberts fünfundvierzigsten Geburtstag sehen. Norbert sagte mir, dass sich Hildegard schon sehr darauf freue, mich zu sehen. Mir ging es ähnlich, schließlich kannten auch wir uns schon von klein auf.“
„Wie können Sie sich dann sicher sein, dass das Hildegard Bückler ist?“
„Norbert hat mir Bilder gezeigt. Außerdem ist das feuerrote Haar unverkennbar. Alter und Größe passen auch.“
Hans war überrascht. Hildegard Bückler hatte also naturrotes Haar. Das der Toten war gefärbt, da würde er jede Wette eingehen.
„Wann haben Sie Norbert Bückler zum letzten Mal gesehen?“, fragte Diana. Bruder Clemens vermied es, die hübsche Frau, die für eine Kirche äußerst unpassend gekleidet war, direkt anzusehen. Diana hatte das bemerkt und achtete nicht weiter darauf. Sie wollte Antworten auf ihre Fragen, alles andere war ihr egal.
„Das ist etwa drei Wochen her. Er kam nach Altötting und wir waren gemeinsam beim Essen. Ein weiteres Treffen hat sich leider nicht mehr ergeben. Wir sind in den Vorbereitungen des Pfingstfestes und Norbert muss sich um seine Firma kümmern.“
„Und wann haben Sie zum letzten Mal miteinander telefoniert?“
„Das war vor drei Tagen. Handys sieht man im Kloster nicht gerne, sie werden aber toleriert. Wir Brüder vermeiden Telefonate, um die anderen nicht stören. Deshalb telefoniere ich nur außerhalb des Klosters. Bitte finden Sie Norbert!“
„Das werden wir, keine Sorge“, sagte Hans und klopfte ihm auf die Schulter. Ob das bei einem Klosterbruder angebracht war? Sicher nicht, aber jetzt war es nun mal so.
Bruder Clemens ging mit gesenktem Kopf davon. Hans berichtete Tatjana, was er ausgesagt hatte.
„Das Opfer ist also Hildegard Brückler, wohnhaft in Erding. Sie hat einen Bruder namens Norbert Brückler, der momentan in Burghausen im Hotel Eichenhof wohnt“, wiederholte Tatjana, als sie sich Notizen machte. „Wir brauchen den Bruder, um die Identität abzuklären. Bruder Clemens hat die Tote vor über zwanzig Jahren das letzte Mal gesehen, das ist mir zu vage.“
„Wenn es okay ist, werde ich nach Burghausen fahren und mit Norbert Bückler sprechen“, sagte Hans.
„Nein, das übernehmen Diana und ich. Du suchst nach Leo. Der hatte es bis jetzt nicht mehr nötig gehabt, hier aufzutauchen. Wir treffen uns im Präsidium.“
„Leo ist noch nicht zurück?“
„Das sagte ich eben. Komm, Diana. Ich muss hier raus, diese alten Mauern machen mich noch ganz depressiv. Außerdem ertrage ich das Gesicht von Fuchs nicht länger. Der bringt mich heute echt an meine Grenzen!“
Diana wusste, dass Fuchs ein schwieriger Charakter war, aber Tatjana war heute auch nicht ungefährlich. Wenn sie es sich hätte aussuchen können, wäre sie viel lieber mit Hans gefahren.
3.
„Leo? Wo zum Teufel bist du?“
„Am Busbahnhof Altötting. Kannst du kommen?“
„Klar. Was machst du am Busbahnhof?“
„Das erkläre ich dir später.“
Leo hatte versucht, mehr von der Frau zu erfahren, die sehr schüchtern zu sein schien. Sie erzählte von ihrem kranken Onkel Waldi, der sich mit seinen Kindern vor Jahren zerstritten hatte. Außer ihr kümmerte sich niemand um ihn. Dieser Mann war offenbar sehr krank und wiederholte seit Monaten immer öfter, dass er nicht mehr leben möchte. Da sie ihn verstand, wollte sie ihn in seinem Wunsch, seinem Leben ein Ende zu setzen, unterstützen. Von ihr selbst hatte Leo erfahren, dass sie Kassiererin in einem hiesigen Supermarkt war und allein lebte. Momentan hatte sie Urlaub – das war es aber auch schon, was er ihr entlocken konnte. Regina Liebers war nicht unfreundlich, aber sie antwortete nur knapp und sagte von sich aus nicht viel.
Regina Liebers zitterte innerlich. Sie hatte sich von Onkel Waldemar zu diesem Irrsinn überreden lassen. Er war sehr krank und wollte nicht mehr leben. Ja, sie konnte ihn verstehen, aber eigentlich wollte sie nichts damit zu tun haben. Onkel Waldemars Kinder Fritz und Dagmar hatten sich längst von ihm abgewandt, sie sprachen kein Wort mehr miteinander. Die beiden hatten nach dem Tod der Mutter wegen des Erbes einen heftigen Streit, seitdem gingen sie sich aus dem Weg, auch wenn das in dem kleinen Ort Kastl sehr schwierig war. Sie alle lebten in dem kleinen Dorf, sie trennten nur wenigen Straßen. Regina kannte nur die Version ihres Onkels, in dem er das Opfer war und sich keiner Schuld bewusst war. Da sie sich den Kindern, ihrem Cousin und Cousine, gegenüber nicht parteiisch zeigte, wandten die sich auch von ihr ab. Bei jeder Gelegenheit schimpfte Onkel Waldi über seine undankbaren Kinder, auch wenn Regina sehr wohl wusste, dass Onkel Waldemar ein schwieriger Mensch war, der sich mit allen und jedem anlegte. So lange sie denken konnte dachte er nur an sich. Immer und überall kam er an erster Stelle und alle hatten zu schweigen, wenn er etwas zu sagen hatte. Und ging etwas schief, dann waren immer die anderen schuld. Ihre Tante Ruth hatte es nicht leicht mit ihm gehabt und gab irgendwann auf, sich gegen ihn aufzulehnen. Auch ihr gegenüber war Onkel Waldemar oft sehr fies, was sie aber äußerlich ignorierte, obwohl sie jedes einzelne Wort traf. Vor sieben Jahren ging sie zu Bett und wachte nicht mehr auf. Reginas Mutter hatte sich anfangs um den Bruder gekümmert, der mit der Beerdigung und dem Haushalt völlig überfordert war. Aber ihre Mutter wurde krank und verstarb nach wenigen Monaten. Es war für Regina selbstverständlich, dass sie sich jetzt um Onkel Waldi kümmerte, der auch nicht immer freundlich zu ihr war. Aber was hätte sie tun sollen? Einfach gehen und einen alten, kranken Mann im Stich lassen? Nein, das konnte sie nicht. Wenn ihm etwas passieren würde, könnte sie sich das niemals verzeihen.
Der Polizist redete in einem komischen Akzent auf sie ein. Woher kam der? Aus dem Osten? Aus dem Schwäbischen oder Badischen? Sie wollte nicht mit ihm reden. War es verboten, so viele Schlafmittel zu kaufen? Aktive Sterbehilfe war strafbar, das wusste sie, aber noch war niemand gestorben. Welche Strafe sie wohl zu erwarten hatte? Es war ihr klar, dass der Polizist mit Onkel Waldemar sprechen wollte. Alles hing jetzt von dem ab, was Onkel Waldi sagte. Es gab noch den Hauch einer Chance, denn sie wusste, dass ihr Onkel die Polizei verabscheute. Wenn er sich weigerte, mit der Polizei zu sprechen oder irgendeine Aussage zu machen, käme sie vielleicht nochmal mit einem blauen Auge davon.
Hans war erstaunt, dass er Leo nicht allein antraf. Neben ihm saß eine unscheinbare Frau. Wer war sie? Was hatte das zu bedeuten?
Leo stand auf und ging auf Hans zu. Mit wenigen Worten erklärte er ihm, worum es ging.
„Du glaubst ihr die Geschichte mit dem Onkel nicht?“
„Ich bin mir nicht sicher.“
„Wenn sie gelogen hat, sind die Schlaftabletten für sie bestimmt, dann müssen wir handeln. Das hast du gut gemacht, Leo, das müssen wir abklären. Fahren wir nach Kastl und sprechen mit dem Onkel, wenn es ihn überhaupt gibt.“
„Du zweifelst daran?“
„Keine Ahnung, irgendetwas stimmt nicht. Wenn es ihn gibt, bin ich gespannt, was er zu sagen hat. Und dann werde ich ihn mir vornehmen.“ Hans sah sofort, dass er es mit einer eingeschüchterten Frau ohne jedes Selbstwertgefühl zu tun hatte. Wenn sie sich Mühe geben würde, wäre sie durchaus sehr hübsch. Er lächelte sie an und sie wich seinem Blick aus.
Auf der kurzen Fahrt nach Kastl vermieden es die Kriminalbeamten, über den Mordfall in der Tilly-Gruft zu sprechen, auch wenn sich Leo sehr dafür interessierte. Trotzdem wollten sie die Frau nicht erschrecken, da sie jedes Wort hören würde.
„Hier wohnt mein Onkel“, sagte sie und zeigte auf ein Reihenhaus im Albererweg. Der kleine Vorgarten war sehr hübsch angelegt.
„Waren Sie das?“, fragte Hans und zeigte auf mehrere Blumentöpfe und Dekorationen, die ganz sicher nicht von einem alten Mann stammten.
Regina wurde rot und nickte. Das war das erste Mal in all den Jahren, dass jemand ihre Arbeit würdigte. Sie klingelte zwei Mal kurz hintereinander und dann steckte sie den Schlüssel ins Schloss.
„Ich bin es, Onkel Waldi“, rief sie laut.
„Das wird auch Zeit! Wo bleibst du denn? Warum trödelst du so und lässt mich so lange allein?“ Die tiefe Stimme hallte durchs Haus. Leo und Hans folgten der Frau, die zielstrebig ins Wohnzimmer ging. „Hast du alles bekommen?“, empfing er seine Nichte. Dann sah er die fremden Männer. „Wen bringst du da mit? Was soll das?“
Der alte, übergewichtige Mann saß auf der Couch, wobei er fast den ganzen Platz einnahm. Er sah sich eine Volksmusiksendung an, der Ton war sehr laut. Links und rechts war er von Kissen eingehüllt. Auf seinem Schoß lag eine dicke Decke. Vor ihm stand eine Flasche Bier, eine Fernbedienung, das Telefon und ein Teller, auf dem ein angebissenes Brot lag. Daneben lag eine geöffnete, fast leere Chipstüte.
Da Regina Liebers nicht wusste, wie sie die Anwesenheit der Polizei erklären sollte, übernahm Leo das Wort.
„Schwartz, Kripo Mühldorf. Das ist mein Kollege Hiebler. Können Sie uns das erklären?“ Leo hielt ihm den Inhalt der Tasche vor. Er musste laut reden, um gegen die Blaskapelle anzukommen.
„Polizei? Raus aus meinem Haus! Mit euch habe ich nichts zu schaffen! Raus!“ Waldemar Liebers war sehr aufgebracht und schnaubte vor Wut.
Hans blieb ganz ruhig. Er ging zum Fernsehgerät und schaltete es aus. Jetzt war es endlich ruhig.
„Was erlauben Sie sich? Sie sollen sich zum Teufel scheren! Ich sage es ein letztes Mal: Raus aus meinem Haus!“, rief Waldemar Liebers erneut.
„Sie beruhigen sich jetzt auf der Stelle! Wenn nicht, werden wir Sie aufs Präsidium mitnehmen und dort befragen“, sagte Hans und lächelte. Er kannte solche Typen, die nur auf Krawall gebürstet waren und versuchten, mit ihrer dominanten Art jeden zu unterdrücken. Ihm war klar, dass die schüchterne Regina Liebers gegen diesen Mann nicht den Hauch einer Chance hatte. Und es war ihm auch klar, dass der Onkel nicht klein beigeben würde. Es würde eine Auseinandersetzung geben, die sich gewaschen hatte. Aber damit kam er klar und stellte sich der Herausforderung.
„Das sieht euch Bullen ähnlich! Einen alten, kranken Mann zu schikanieren macht euch sicher viel Spaß. Aber nicht mit mir!“ Es folgten haltlose Vorwürfe und Beschimpfungen, die alle an Hans abprallten. Leo hatte Regina Liebers zur Seite gezogen. Das Gespräch mit dem aufgebrachten Mann wollte er Hans überlassen, der viel besser mit solchen Krawallbrüdern zurechtkam. Heimlich machte Leo mit seinem Handy ein Foto des Mannes. Seit er ein neues Handy hatte, das ihm seine Verlobte Sabine Kofler geschenkt hatte, fotografierte er alles, was ihm vor die Augen kam. Früher hatte er Handys nicht gemocht, hatte sie sogar oft verflucht. Wenn er damals schon gewusst hätte, was man damit alles machen konnte, hätte er sich sehr viel früher damit beschäftigt.
Waldemar Liebers redete sich in Rage. Hans stand vor ihm und verzog keine Miene. Irgendwann war der alte Mann erschöpft.
„Sind Sie jetzt so weit oder wollen Sie noch mehr loswerden? Nur raus damit, ich höre Ihnen gerne zu, ich habe Zeit.“
Dem Alten verschlug es die Sprache. Er hatte vor allem diesen unverschämten Polizisten beleidigt und mit Dreck beworfen, aber der blieb unbeeindruckt. Damit konnte Waldemar Liebers nicht umgehen, das war ihm in seinem langen Leben nur sehr selten passiert. Normalerweise gingen die, mit denen er so sprach, einfach weg oder es gab eine handgreifliche Auseinandersetzung. Dieser Polizist ließ sich nicht provozieren, der war aus anderem Holz geschnitzt.
„Dann darf ich davon ausgehen, dass wir uns wie normale Menschen auf einem normalen Niveau unterhalten können, sehr schön“, sagte Hans und setzte sich. „Was sagen Sie zu den vielen Schlafmitteln, die wir in der Tasche Ihrer Nichte gefunden haben.“
„Was soll ich dazu sagen? Das geht mich nichts an.“
„Ihre Nichte sagte, dass die für Sie bestimmt sind und Sie sie dazu angestiftet haben, sie zu besorgen.“
„Ich habe was? Das Mädl spinnt doch! So etwas würde ich niemals tun! Die Regina ist nicht ganz richtig im Kopf, das hat sie von ihrer Mutter. Meine Schwester, Gott hab sie selig, war nie ganz gesund. Depressionen hat der Arzt gesagt, aber das halte ich für Schwachsinn. Sie war einfach im Kopf nicht gesund, so wie die Regina eben auch. Die hat sich etwas zusammengesponnen und will jetzt mir den schwarzen Peter zuschieben.“
Regina Liebers glaubte, nicht richtig zu hören.
„Wie redest du denn über meine Mutter? Was ist los mit dir? Meine Mutter hat immer zu dir gehalten und dir immer geholfen!“ Regina war schockiert.
„Sie sollten sich nicht nur über Ihre Mutter Gedanken machen. Haben Sie nicht gehört, wie Ihr Onkel über Sie spricht? Er hat Sie gerade schwachsinnig und dumm genannt“, sagte Leo.
„Das habe ich nicht gesagt“, rief Waldemar Liebers, der es vermied, seine Nichte anzusehen.
„Doch, das habe ich auch gehört“, sagte Hans. „Sie sollten sich schämen, Herr Liebers. Diese Frau kümmert sich um Sie und so danken Sie es ihr. Pfui Teufel!“
„Was wissen Sie denn schon! Wer sind Sie, dass Sie sich ein Urteil erlauben dürfen? Regina ist ein Mauerblümchen, das nie einen Mann abbekommen wird. Ich gebe ihr eine Aufgabe, damit sie einen Sinn im Leben hat. Nachdem sie sich um mich gekümmert hat, geht sie zufrieden nach Hause und kann beruhigt schlafen, schließlich hat sie ein gutes Werk getan. Nur hinter der Kasse zu sitzen reicht ihr nicht aus. Ich habe Regina nicht gebeten, sich um mich zu kümmern, sie hat sich regelrecht aufgedrängt. Sie ist genauso wie ihre Mutter. Wie eine Klette klammert sie sich an einem fest und man kriegt sie nicht mehr los. Ich brauche keine Hilfe, ich komme allein sehr gut zurecht.“
„Das hat sich vorhin aber ganz anders angehört“, sagte Hans, der dem Mann kein Wort glaubte. „Sie schienen es nicht erwarten zu können, dass Ihre Nichte endlich hier ist. Sie hatten sie sogar danach gefragt, ob sie alles bekommen hätte. Dabei ging es doch um diese Schlafmittel, oder etwa nicht?“
„Nein, natürlich nicht! Ich bat sie, mir meine Zeitung, Chips und Bier zu kaufen. Ist das verboten?“
„Stimmt das?“, fragte Leo die geschockte Frau.
Regina nickte nur.
„Ich sollte einkaufen, aber dazu kam ich nicht mehr.“
„Du warst nicht beim Einkaufen? Wo warst du dann so lange?“
„Antworten Sie ihm nicht“, sagte Leo und lächelte Regina an. Für ihn war es an der Zeit, das hier zu beenden. „Bleiben Sie bei Ihrer Aussage, dass diese Schlaftabletten für Ihren Onkel bestimmt waren und dass er Sie gebeten hat, sie zu besorgen?“
„Ja.“
„Das ist eine Lüge!“, rief Liebers. „Du bist eine Lügnerin wie deine Mutter!“
„Kommen Sie“, sagte Leo und zog Regina Liebers mit sich.
Hans stand auf und ging zur Tür.
„Was passiert jetzt? Sie werden Regina doch nicht glauben?“
„Wenn sie Anzeige erstattet, werden wir dieser selbstverständlich nachgehen. Sie sollten sich schämen, Herr Liebers.“
„Und wer schaltet mir jetzt den Fernseher ein? Soll ich das etwa selbst machen?“
Hans ging einfach und schloss die Tür. Er hörte, wie der alte Mann schimpfte und fluchte, aber das interessierte ihn nicht.
Leo stand mit Regina Liebers am Wagen.
„Wenn Sie möchten, kann ich die Anzeige sofort aufnehmen. Fühlen Sie sich dazu in der Lage?“
„Ich würde mir das gerne nochmal überlegen“, flüsterte Regina. Sie schämte sich für ihre Feigheit und wagte es nicht, die beiden Polizisten anzusehen.
Leo wollte protestieren, aber Hans hielt ihn zurück. Er gab ihr seine Karte.
„Überlegen Sie in Ruhe. Wir werden die Tabletten konfiszieren, um einen unsachgemäßen Umgang damit zu verhindern. Sind Sie einverstanden?“
Regina nickte. Die Tabletten waren ihr im Moment egal.
„Melden Sie sich einfach, wenn Sie sich entschieden haben, okay?“ Hans lächelte und stieg ein.
Regina Liebers murmelte einen unverständlichen Gruß und lief davon. Sie wollte nur noch weg und in Ruhe darüber nachdenken, was eben passiert war.
Waldemar Liebers war aufgestanden. Er war nicht ganz so gebrechlich, wie er vorgab. Für ihn war es praktisch, dass sich seine Nichte um ihn kümmerte und ihm lästige Arbeiten abnahm. Ja, das war moralisch verwerflich, aber so war er nun mal. Warum sollte er sich nach einem harten Leben in seinem hohen Alter mit Arbeiten belasten, die ihm nicht lagen? Regina war gutmütig und einfältig, darin kam sie ganz nach ihrer Mutter. Nach deren Tod hatte sich Regina angeboten und er hatte sich nicht dagegen gewehrt. Warum hätte er das tun sollen?
Regina hatte ihm die Polizei ins Haus gebracht. Es war das eingetreten, was er seit vielen Jahren erfolgreich vermeiden konnte. Er nahm das Telefon und wählte eine Nummer, die er lange nicht gewählt hatte.
„Waldi? Was ist los?“
„Die Polizei war hier.“
„Warum? Du bist schon lange im Ruhestand und bist seit Jahren nicht mehr aktiv. Wie lange ist es her, dass du untergetaucht bist? Das müssen gut und gerne dreißig Jahre her sein.“
„Es sind genau dreiunddreißig Jahre und vier Monate. Danach haben mich die Bullen gekriegt. Du kannst dich doch noch an meine Flucht erinnern, oder etwa nicht?“.
„Klar kann ich mich erinnern. Was wollte die Polizei?“
„Sie war wegen meiner Nichte hier, nicht wegen mir. Die dumme Gans hat jede Menge Schlaftabletten besorgt. Du kennst mich lange genug und weißt, dass ich manchmal Blödsinn rede. Ich plappere einfach vor mich hin.“
„Ja, ich erinnere mich gut.“
„Sie hat mich ernst genommen, da sie meinte, dass ich mich umbringen wolle.“
„Du bist ein Idiot!“
„Ja, ich rede manchmal dummes Zeug, das weiß ich selbst. Wie hätte ich wissen sollen, dass mich die naive Kuh ernst nimmt? Die Göre hat sich so ungeschickt angestellt, dass die Polizei auf sie aufmerksam wurde. Ich habe alles von mir gewiesen und meine Nichte als dumm dastehen lassen. Ich glaube, dass mir das nicht wirklich gelungen ist. Vor allem einer der Polizisten war mir gegenüber sehr feindselig eingestellt. Trotzdem war die Polizei bei mir, was mir überhaupt nicht gefällt. Was soll ich tun?“
„Vor allem müssen wir ruhig bleiben und dürfen nichts überstürzen. Dass die Polizei bei dir war, ist zwar nicht gut, aber auch keine Katastrophe. Es ging um deine Nichte, nicht um dich. Verhalte dich ruhig und warte ab. Ich garantiere dir, dass nichts mehr passieren wird. Und wenn doch, unternimmst du nichts, ohne vorher mit mir zu sprechen. Hast du verstanden?“
„Ja.“
Es entstand eine längere Pause.
„Hat dich deine Nichte angezeigt?“
„Das kann ich mir nicht vorstellen.“
„Deine Nichte ist ein Risiko, Waldi. Wenn sie Anzeige erstattet, kann dich das in Schwierigkeiten bringen. Dann taucht dein Name auf, was wir nicht brauchen können. Schaff das Problem aus der Welt. Wenn deine Nichte nicht mehr ist, wird einer möglichen Anzeige auch nicht mehr nachgegangen.“
Waldemar Liebers verstand sofort, was sein Kontaktmann von ihm verlangte.
„Ich kümmere mich darum.“
„Gut. Sollte sich die Polizei nochmal melden, gib mir Bescheid. Wenn nicht, dann ruf nicht mehr an.“
Leo stieg umständlich ein. Dann zog er seine Schmerzmittel aus der Hosentasche und nahm eine weitere Tablette.
„Wie viele von den Dingern hast du schon genommen?“
„Zwei, warum?“
„Übertreib es nicht, hörst du? Das sind keine Bonbons, die man massenweise in sich hineinstopfen kann. Was bist du nur für eine Mimose? Man muss Schmerzen auch aushalten können. Du hast bereits Spritzen bekommen, die müssten eigentlich ausreichen. Versprich mir, dass du erst wieder heute Abend eine Tablette nimmst.“
„Wer bist du? Meine Mutter? Behalte deine klugen Ratschläge gefälligst für dich! Wie ist der Ermittlungsstand im Mordfall Tilly-Gruft?“
Während Hans ausführlich berichtete, hatten Tatjana und Diana endlich den Bruder der Toten gefunden. Nachdem sie ihn im Hotel nicht angetroffen hatten, hatten sie ihn auf Hinweis einer Hotelangestellten in einem Café ausfindig gemacht, wo der Mann fröhlich plaudernd mit einer hübschen Frau saß.
„Wenn das die Arbeitsweise eines Versicherungsmaklers im Geschäftsaufbau ist, habe ich mir den falschen Beruf ausgesucht“, sagte Tatjana und steuerte auf den Tisch am Fenster zu. Schon beim ersten Blick war ihr klar, dass sie den Mann nicht mochte.
„Sind Sie Norbert Bückler?“
„Ja, der bin ich. Bitte entschuldigen Sie, aber ich habe gerade einen Geschäftstermin.“ Er gab ihr seine Karte. „Rufen Sie mich an, dann können wir gerne einen Termin vereinbaren. Momentan habe ich leider keine Zeit und bitte um Ihr Verständnis.“
Diana war beeindruckt. Nicht nur von der Höflichkeit des Mannes, sondern auch von seiner charmanten Art. Tatjana war beides egal. Sie machte ein Foto des Mannes, der das nicht merkte.
„Struck, Kripo Mühldorf. Das ist meine Kollegin Nußbaumer. Bitte brechen Sie das hier ab, was immer das auch sein soll.“ Tatjana glaubte keine Sekunde an einen Geschäftstermin. Das war ein Date und sonst nichts.
„Kriminalpolizei? Habe ich etwas angestellt?“ Norbert Bückler lächelte gequält. Er hatte die hübsche Frau erst vor zwanzig Minuten angesprochen und das Gespräch verlief sehr gut. Dieser unfreundliche Trampel von einer Kriminalbeamtin bestand darauf, mit ihm zu sprechen, das merkte er an der Art ihres Auftretens. Deren Kollegin war ganz hübsch, vielleicht war das Gespräch mit den beiden Polizistinnen doch nicht so übel. Er verabschiedete sich charmant von der Frau und bat Tatjana und Diana, sich zu ihm zu setzen.
„Darf ich Ihnen etwas anbieten? Einen Kaffee oder Tee? Gerne auch ein Glas Champagner?“, sagte er lächelnd und sah dabei Diana an.
„Wir sind dienstlich hier“, kam Tatjana auf den Punkt zurück.
„Wie Sie wollen. Legen Sie los, ich bin gespannt.“
„Sie haben eine Schwester mit Namen Hildegard?“
„Ja. Wir sind nicht so eng miteinander, haben unterschiedliche Lebensauffassungen. Aber das ist normal unter Geschwistern, aber deshalb sind Sie sicher nicht hier.“ Das Lachen war aus dem Gesicht des Mannes verschwunden. Er sah Tatjana ernst an.
„Wir haben keine guten Nachrichten für Sie. Ihre Schwester wurde heute tot aufgefunden, sie wurde erschlagen.“
Norbert Bückler sah Tatjana mit weit aufgerissenen Augen an. Er schien sie nicht verstanden zu haben.
„Meine Schwester ist tot? Aber…“
„Es tut uns leid, Herr Bückler. Wir wissen, dass Ihre Schwester in Erding lebte. Warum war sie hier?“
„Das weiß ich nicht! Hildegard war in Burghausen? Das kann ich mir nicht vorstellen. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass sie mich jemals aufgesucht hat, sie hat eher den Kontakt zu mir vermieden. Wer hat sie getötet?“
„Das versuchen wir, herauszufinden. Um es gleich richtig zu stellen: Ihre Schwester wurde nicht in Burghausen ermordet, sondern in Altötting.“
„In Altötting? Was wollte sie dort?“
„Auch das werden wir herausfinden.“ Tatjana hielt ihm ihr Handy vor. „Ist das Ihre Schwester?“
Norbert Bückler starrte erschrocken auf das Display und nickte.
„Ja, das ist sie. Wie ist sie ums Leben gekommen? Wer hat ihr das angetan?“
„Sie wurde erschlagen. Die genaueren Umstände sind noch nicht klar, daran arbeiten wir noch. Hatte Ihre Schwester Feinde? Wurde sie bedroht?“
„Nein, davon weiß ich nichts. Hildegard war eine selbstbewusste und selbständige Frau, die mit beiden Beinen im Leben stand. Sie wusste genau, was sie wollte und was sie nicht wollte. Aber deshalb bringt man doch niemanden um!“
„Was hat sie beruflich gemacht?“
„Genau weiß ich das nicht. Vor einem halben Jahr hat sie ihren Job in einem Münchner Pharmakonzern gekündigt und wollte sich selbständig machen. Was genau sie vorhatte, weiß ich nicht. Sie hat es mir sicher erzählt, aber ich habe ihr nicht zugehört. Verurteilen Sie mich bitte nicht, aber vor einem halben Jahr war sehr viel los. Der Tod unserer Eltern und später auch noch die Pläne der Selbständigkeit in einer fremden Umgebung haben mich voll und ganz in Beschlag genommen. Da konnte ich mich nicht auch noch um die Belange meiner Schwester kümmern, die mich mit dem Erbe übers Ohr gehauen hat.“
„Hat sie das?“
„Ja, und zwar ordentlich. Das Haus meiner Eltern war sehr viel mehr wert, als sie mir durch ein Gutachten Glauben machen wollte. Ich habe ein weiteres Gutachten angefordert, das ähnlich gering ausfiel. Obwohl ich immer noch Zweifel hatte, habe ich ihr Angebot akzeptiert, mit dem sie mich auszahlte. Wenn ich ehrlich bin, bin ich immer noch sauer auf sie.“
„Und trotzdem haben Sie sie zu der bevorstehenden Geburtstagsfeier eingeladen?“
„Woher wissen Sie das?“
„Beantworten Sie bitte meine Frage.“
„Ja, ich habe Hildegard eingeladen. Ein Freund befand, dass es an der Zeit sei, die Wogen zu glätten.“
„Ist dieser Freund Bruder Clemens?“
„Ja, woher…“
„Wir kriegen alles raus, das müssen Sie sich merken“, sagte Tatjana, die an dem Mann nichts Sympathisches fand. Sie hatte immer noch die schmachtenden Blicke vor Augen, wie er die fremde Frau und dann auch noch Diana angesehen hatte. So etwas war in ihren Augen einfach nur widerlich. „Wo waren Sie gestern Abend zwischen einundzwanzig Uhr und Mitternacht?“
„Sie verdächtigen mich?“, schrie Bückler.
„Reine Routine, das müssen wir fragen“, sagte Diana, die den Mann verstehen konnte.
„Um neunzehn Uhr traf ich mich mit meinem zukünftigen Geschäftspartner. Wir trennten uns etwa gegen zwanzig Uhr dreißig. Danach ging ich ins Hotel und sah fern.“
„Kann das jemand bestätigen?“
„Nein. Ich wohne seit etwa zwölf Wochen im Hotel Eichenhof und habe meinen Schlüssel immer bei mir. Also gibt es keine Rezeptionistin, mit der ich gesprochen habe. Ich kann mich nicht daran erinnern, jemanden gesehen zu haben, der meine Anwesenheit bestätigen könnte. Sie sollten sich die Mühe machen und die Angestellten befragen, vielleicht findet sich doch jemand, der mich gesehen hat und mein Alibi bestätigen kann.“
„Wie können Sie sich eine solch lange Dauer in einem Hotel leisten? Das kostet doch sicher ein Vermögen.“
„Eine Wohnung zu mieten ist auch nicht günstig, das können Sie mir glauben. Ich habe mich dazu entschlossen, mich erst um die Geschäftsräume der Firma zu kümmern, danach werde ich mich um eine Wohnung oder ein Haus bemühen. Das Hotelzimmer hat sich als sehr praktisch erwiesen. Ich brauche mir weder um die Sauberkeit des Zimmers noch um das Frühstück Sorgen zu machen. Darüber hinaus ergeben sich oft interessante Gespräche mit anderen Gästen oder dem Personal, die ich als sehr angenehm empfinde. Ja, das Hotel ist nicht billig, aber ich bin nicht mittellos und kann mir das durchaus leisten, machen Sie sich um meine Finanzen keine Sorgen. Sie können meine finanziellen Verhältnisse gerne überprüfen, allerdings nur mit einem richterlichen Beschluss, von mir aus werde ich nichts preisgeben.“ Norbert Bückler lehnte sich zurück und lächelte. Dieser Angeber hatte offenbar schon vergessen, dass seine Schwester ermordet wurde.
„Name und Anschrift Ihres künftigen Geschäftspartners“, forderte Tatjana den Mann auf, der daraufhin sofort das Gewünschte notierte. „Das war es vorerst. Ich möchte Sie bitten, die Leiche persönlich zu identifizieren. Wenn es soweit ist, melden wir uns bei Ihnen.“
„Ihnen reicht es nicht, dass ich sie auf dem Foto erkannt habe?“, rief Bückler abermals viel zu laut. „Sie muten mir zu, dass ich mir die Leiche auch noch persönlich ansehen muss?“
„Reine Routine“, antwortete Tatjana und stand auf. „Ihre Schwester befindet sich auf dem Weg in die Gerichtsmedizin. Sobald sie zurück ist, melden wir uns.“
„Ich weiß nicht, ob ich es schaffe, meine Schwester anzusehen. Auf den Fotos sah sie schrecklich aus.“
„Wir werden veranlassen, dass Ihre Schwester für eine Identifizierung entsprechend vorbereitet wird“, mischte sich Diana ein, die mit der plumpen Art ihrer Chefin nur sehr schwer zurechtkam. Warum konnte Tatjana nicht etwas sensibler mit Menschen umgehen? „Sie bleiben bitte vorerst in Burghausen.“
„Was soll das heißen? Ich darf nicht verreisen und mich nicht frei bewegen?“
„Sie haben sicher Verständnis, dass wir Sie als Angehörigen jederzeit befragen müssen. Ist eine Reise geplant?“ Tatjana hatte genug. Es war an der Zeit, endlich zu gehen.
„Nein, ich wollte nur Klarheit.“
Tatjana nickte und ging davon.
„Ich habe noch eine Frage“, sagte Diana. „Was haben Sie sich gestern angesehen?“
„Ich verstehe nicht…“
„Im Fernsehen. Welche Sendung haben Sie sich angesehen?“
„Das weiß ich nicht mehr. Irgendeine Tiersendung.“
„Auf welchem Programm?“
„Keine Ahnung, ich kann mich nicht erinnern.“
„Um welche Tiere ging es? Daran können Sie sich sicher erinnern.“
„Löwen, es ging um Löwen. Sind Sie jetzt zufrieden?“
Diana lächelte. Dass das gelogen war, war ihr sofort klar.
Tatjana wartete ungeduldig am Wagen. Sie rauchte eine Zigarette, was sie aber nicht beruhigte. Sie hatte sich sehr über Bückler aufgeregt. Zwei Männer kurz hintereinander, die sie zur Weißglut brachten. Was war das heute nur für ein beschissener Tag!
„Wo bleibst du denn!“, empfing sie Diana, als die endlich auftauchte. „Du hast dich hoffentlich nicht von diesem schmierigen Typen bequatschen lassen. Pass ja auf! Solche Männer haben es faustdick hinter den Ohren.“
„Das weiß ich, trotzdem Danke. Ich habe Bückler nach dem gestrigen Fernsehprogramm gefragt und ich bin mir sicher, dass er mich angelogen hat. Er behauptet, einen Tierfilm über Löwen gesehen zu haben und das nehme ich ihm nicht ab.“ Tatjana setzte sich hinters Steuer, während Diana wild auf ihrem Handy herumwischte. „Wusste ich es doch!“, rief sie nach wenigen Minuten. „Gestern gab es keinen Tierfilm über Löwen. Wir müssen Bückler im Auge behalten.“
„Nicht schlecht, Diana. Ich halte diese vermeintliche Selbständigkeit für glattweg gelogen. Warum sollte jemand in Erding alle Zelte abbrechen und hier in der Provinz ein neues Leben als selbständiger Versicherungsmakler beginnen wollen?“
„Burghausen ist doch keine Provinz!“, rief Diana beleidigt. Sie liebte Burghausen. Sie war hier geboren und aufgewachsen. Außerdem lebten sie und ihre Familie immer noch hier und sie hatte nicht vor, Burghausen den Rücken zu kehren.
„Sei nicht so empfindlich. Du weißt genau, was ich meine“, sagte Tatjana.
„Ja, ich weiß, was du meinst. Nehmen wir uns diesen Kompagnon vor. Wie ist sein Name?“
„Michael Brodschelm. Er wohnt….“
„Ich kenne den Mann und weiß, wo er wohnt.“
„Du kennst ihn? Woher?“
„Michael und mein Bruder gingen in dieselbe Klasse. Sie waren nicht die besten Freunde, aber sie waren befreundet. Es ist lange her, dass ich ihn sah. Komisch. Ich hätte nie gedacht, dass aus ihm ein Versicherungsfachmann wird. Fahren wir gleich zu ihm?“
„Gerne.“
Diana leitete Tatjana, die den Wagen fuhr, geschickt zur Wackerstraße, wo Michael Brodschelm wohnte. Dass er damals das Haus seiner Großeltern übernahm, war vor einigen Jahren Gesprächsthema bei Tisch der Familie Nußbaumer, die fast immer gemeinsam aßen. Das waren Diana selbst, ihr Bruder nebst Schwägerin, ihre Eltern und auch die Großeltern, die im Nachbarhaus wohnten. Diana liebte es, wenn alle beisammen waren. Nicht mehr lange, dann wurde die Familie um ein weiteres Mitglied erweitert, denn ihr Bruder wurde Vater. Diana und auch alle anderen konnten es kaum erwarten, den kleinen Wurm in der Familie willkommen zu heißen.
Diana stand vor dem Haus in der Wackerstraße. Es sah immer noch genau so aus wie damals, als sie Kinder waren und die Kirschen klauten, die Michaels Großvater wie seinen Augapfel hütete. Wehmütig sah sie den Kirschbaum, der auch dieses Jahr wieder voller Früchte war. Wie gerne wäre sie einfach hingegangen und hätte sich einige gemopst, schon allein wegen der schönen Erinnerungen an eine wundervolle Kindheit. Aber dafür waren sie nicht hier. Sie war jetzt erwachsen und Kriminalbeamtin. Sie klingelte und einen Moment später stand sie vor Michael, von dem sie wusste, dass er früher für sie geschwärmt hatte. Er war ihr damals zu flatterhaft gewesen. Außerdem war er ziemlich schlecht in der Schule und wäre ohne die Hilfe ihres Bruders aufgeschmissen gewesen. Michael war immer sehr cool und hatte sich als einer der ersten diese großen Ohrlöcher machen lassen, die ihr auch heute noch eine Gänsehaut bereiteten, wenn sie sie sah. Damals war er gammelig angezogen und hatte ungekämmte, oft fettige Haare. Außerdem konnte sie sich noch sehr gut an die vielen Pickel erinnern. Der Mann, der jetzt vor ihr stand, hatte absolut nichts mit dem Michael von früher gemeinsam.
„Bitte? Was kann ich für Sie tun?“ Michael Brodschelm starrte Diana an. „Wir kennen uns doch, oder nicht? Diana Nußbaumer!“ Er grinste übers ganze Gesicht. „Du siehst ja klasse aus. Kann es sein, dass du noch hübscher geworden bist?“
„Grüß dich, Michael.“
„Wie lange ist das her? Zehn, zwölf Jahre oder länger?“
„So ungefähr.“
„Ich habe gehört, dass du bei der Polizei bist. Stimmt das?“
„Ja, das ist richtig. Ich arbeite bei der Kriminalpolizei Mühldorf und bin beruflich hier. Das ist meine Kollegin Struck, die auch meine Chefin ist.“
„Kriminalpolizei? Kommt rein. Es muss ja nicht gleich die ganze Nachbarschaft mitkriegen, dass die Polizei bei mir ist. Seit meine Frau mit den Kindern weg ist, wurde schon genug über mich getuschelt. Ich bin froh, dass sich die Wogen geglättet haben und ich meine Ruhe habe. Kommt endlich rein!“
Die Einrichtung war hübsch und alles war sauber. Auch das überraschte Diana.
„Schön hast du es hier.“
„Danke, aber deshalb seid ihr sicher nicht hier. Was kann ich für die Polizei tun? Habe ich etwas angestellt?“
„Das wird sich herausstellen. Du kennst Norbert Bückler?“
„Es geht um Norbert?“
„Was hast du mit ihm zu tun?“
„Wir lernten uns auf einer Fortbildung kennen und waren uns sofort sympathisch, das muss etwa ein halbes Jahr her sein. Einige Wochen später stand er einfach vor meiner Tür und hat mich zu einer gemeinsamen Selbständigkeit überredet. Da ich als Angestellter eines Versicherungsunternehmens nicht wirklich glücklich war, war ich sofort Feuer und Flamme. Anfangs lief alles sehr schnell. Wir schmiedeten Pläne und hatten die Verträge mit diversen Versicherungskonzernen rasch unter Dach und Fach. Ich kündigte meinen Job. Norbert kam vor drei Monaten nach Burghausen und eigentlich sollte das Geschäft längst laufen, aber es gibt Schwierigkeiten mit den Geschäftsräumen. Norbert hat an allem etwas auszusetzen, was mich ehrlich gesagt langsam nervt. Egal, was ich ihm vorlege – nichts ist gut genug. Er ist nun mal ein Perfektionist, was in unserem Beruf ja keine schlechte Eigenschaft ist. Aber die Zeit drängt und es wird Zeit, dass wir die Pläne endlich in die Tat umsetzen, schließlich bin ich auf ein regelmäßiges Einkommen angewiesen. Du kannst dir vielleicht vorstellen, was eine geschiedene Frau und zwei Kinder an Unterhalt kosten.“
Diana nickte nur. Sie konnte sich Michael nur sehr schwer als Ehemann und Vater vorstellen. Vor ihr stand eigentlich ein völlig Fremder.
„Geeignete Ladenlokale aufzutreiben ist in Burghausen nicht so leicht, wie man sich das vorstellt. Trotzdem ist es mir gelungen, nochmals etwas aufzutun, was hoffentlich diesmal Norberts Ansprüchen genügt. In einer knappen Stunde haben wir einen Besichtigungstermin, drückt mir die Daumen.“
„Wie würdest du Norbert Bückler beschreiben?“
„Er ist charmant, witzig, zielstrebig und verdammt gut in seinem Job. Außerdem ist er wohlhabend, davon konnte ich mich überzeugen. Ich habe sein Haus in Erding gesehen, außerdem waren wir auf seinem Boot am Starnberger See. Er ist Mitglied im Erdinger Golfclub, zu dem er mich einladen wollte. Das habe ich abgelehnt, das ist mir dann doch zu viel. Norbert ist eine ehrliche Haut. Glaubst du, ich hätte mich für eine Zusammenarbeit entschieden, wenn ich ihn nicht gut finden würde? Was ist mit Norbert? Was hat er angestellt?“
„Kennst du seine Schwester?“
„Nein, nicht persönlich. Ich habe Fotos gesehen, mehr nicht. Eine rothaarige Schönheit, die nicht ganz meine Kragenweite ist. Außerdem lasse ich von Frauen vorerst die Finger.“
Tatjana hatte auch von Brodschelm ein Foto gemacht. Es war gut, zu den jeweiligen Namen in der Akte ein Gesicht zu haben. Dann bemerkte sie auf dem Tisch ein Glas. Konnte sie es wagen? Warum nicht. Fingerabdrücke konnte man immer brauchen und Brodschelm konnte das Glas sicher entbehren. Rasch steckte sie es ein.
„Das war es auch schon. Vielen Dank, Michael. Hier ist meine Karte. Wenn dir noch etwas einfallen sollte, ruf mich an.“
„Ich verstehe zwar immer noch nicht, was die Polizei von mir oder Norbert will, aber gut. Ihr macht euren Job und das habe ich zu akzeptieren. Wohnst du immer noch zuhause?“
„Selbstverständlich.“
„Wie geht es deinem Bruder?“
„Sehr gut. Er wird demnächst Vater und freut sich schon sehr darauf.“
„Grüß ihn von mir. Es wäre schön, wenn wir uns alle irgendwann mal wieder treffen könnten.“
„Was ist los mit dir, Diana?“, fragte Tatjana die schweigsame Kollegin, nachdem sie im Wagen saßen.
„Ich weiß nicht. Dieser Michael von eben hat überhaupt nichts mehr mit dem von früher zu tun. Das finde ich sehr schade.“
„Wir haben uns doch alle verändert und das ist auch gut so. Wirst du dich mit ihm treffen?“
„Nein, das werde ich nicht tun. Es ist viel Zeit vergangen und ich halte nichts davon, alte Geschichten aufzuwärmen. Wir haben nichts gemeinsam und könnten uns nur über die Vergangenheit unterhalten, die für mich vorbei ist.“
„Sehr gute Einstellung!“
„Fahren wir nicht ins Büro?“
„Machen wir einen kleinen Umweg zum Hotel des lieben Herrn Bückler. Ich möchte mich in seinem Zimmer nur ganz kurz umsehen.“
„Und wenn Bückler dort ist?“
„Dann werden wir ihn freundlich um Erlaubnis bitten.“
„Und wenn nicht, dann willst du einfach ins sein Zimmer marschieren? Ohne Beschluss?“
„Ja, das habe ich vor. Mit Bückler stimmt etwas nicht, das spüre ich. Jetzt beruhige dich mal wieder, Diana. Ich sehe mich nur ganz kurz um, mehr habe ich nicht vor. Wenn du Schiss hast, kannst du gerne im Wagen warten. Allerdings wäre es hilfreich, wenn du Schmiere stehst.“
„Meinetwegen. Aber nur ganz kurz, verstanden?“
Die Zimmernummer herauszufinden war sehr einfach. An der Rezeption war niemand und Tatjana brauchte nur einen kurzen Blick auf die Anmeldungen werfen, die offen auf dem Tisch lagen. Bücklers Zimmer war im ersten Stock am Ende des Ganges.
„Du bleibst hier. Wenn jemand kommt, pfeifst du laut, okay? Du kannst doch pfeifen?“
„Klar kann ich das. Los, beeile dich!“
Das Zimmer war hell und freundlich. Das Bett war gemacht und alles war sauber. Verdammt! Tatjana hatte auf ein benutztes Glas oder Besteck gehofft, aber davon war nichts zu sehen. Sie nahm die Fernbedienung des Fernsehers und drehte sie im Licht. Super! Jede Menge Fingerabdrücke. Sie steckte sie ein und verließ das Zimmer. Gerade noch rechtzeitig, denn Diana war gerade dabei, sich mit einem Angestellten des Hauses zu unterhalten. Sie gab vor, ein neuer Gast zu sein und fragte nach einer Broschüre über die Burghauser Burg.
Tatjana grüßte und ging an ihnen vorbei. Sie musste nicht lange am Wagen warten, bis Diana mit einem Prospekt in der Hand auf sie zukam.
„Warum hast du denn nicht gepfiffen?“
„Ich war zu aufgeregt und habe das nicht hinbekommen. Hast du etwas gefunden?“
Tatjana zeigte ihr die Fernbedienung.
„Warum hast du die mitgenommen?“
„Wegen der Fingerabdrücke, warum sonst? Das ganze Zimmer war bereits geputzt worden, eine andere Quelle hatte ich nicht.“
„Wir hätten auch von Brodschelm Fingerabdrücke nehmen sollen“, sagte Diana. „Der kommt mir auch irgendwie komisch vor.“
„Wenn du mich nicht hättest“, sagte Tatjana und holte mit einem Taschentuch das Glas aus ihrer Jackentasche.
„Sag jetzt nicht, dass du das aus Brodschelms Haus mitgenommen hast.“
Tatjana grinste nur.
„Du bist ein Luder, Tatjana. Dich sollte man nie unterschätzen.“
„Meine Rede.“
Norbert Bückler ärgerte sich. Auf die Frage der hübschen Kriminalbeamtin war er nicht vorbereitet gewesen, was er aber hätte sein müssen. Sein vermeintlicher Geschäftskollege Michael Brodschelm war kein Problem. Der würde genau das aussagen, was er ausgesagt hatte. Das mit dem Tierfilm war beschissen. Wie sollte er aus der Nummer wieder rauskommen? Er trank zwei Ramazotti, aber danach ging es ihm auch nicht besser. Er suchte nach Ablenkung. Zwei Tische entfernt hatte eine hübsche Frau Platz genommen. Es dauerte nicht lange, bis er begriff, dass sie allein war. Ob er sie ansprechen sollte? Warum nicht? Hübsche Frauen waren seine Leidenschaft. Er konnte nicht anders, ging zu ihr und sprach sie an. Er hatte Glück, die Frau war nicht abgeneigt und zeigte sich sehr zugänglich, was ihn zwar freute, aber nicht herausforderte. Er liebte es, Frauen zu erobern und um sie zu kämpfen, aber diese machte es ihm sehr leicht. Trotzdem lenkte ihn die Unterhaltung mit der Fremden ab, auch wenn sich die Frau als sehr einfältig entpuppte. Einige Scherze verstand sie nicht und bald war er mit den Gesprächsthemen, denen sie folgen konnte, durch. Die schrille Stimme würde er nicht lange ertragen können, außerdem wirkte ihr Lachen aufgesetzt und war viel zu laut. Da er für heute Abend noch keine Begleitung hatte, lud er die Frau trotzdem ein, die sofort zusagte. Er war zufrieden, auch wenn er wusste, dass er sich nicht wirklich mit ihr amüsieren würde. Da er es hasste, am Abend allein zu essen, war diese Frau allemal besser als gar keine. Sollte sich im Laufe des Tages keine bessere Begleitung ergeben, musste er sich mit dieser hohlen Nuss zufriedengeben. Er zahlte und ging vor die Tür. Wenn nochmals die Sprache auf das gestrige Fernsehprogramm von Seiten der Polizei auftauchen sollte, dann hatte er sich eben geirrt. Wo war das Problem? Er besorgte sich am nächsten Kiosk eine Fernsehzeitung und überflog das gestrige Programm. Gut, es gab keine Doku über Löwen, dafür aber über Hyänen. Wo war da der große Unterschied?
Gut gelaunt ging er zu seinem Termin mit Michael Brodschelm, der sicher wieder irgendwelche Ladenlokale aufgetan hatte. Gut, dass er Michael für diese Arbeiten hatte, denn er selbst hatte keine Lust dazu.
Tatjana übergab Fuchs die Fernbedienung und das Glas.
„Was soll ich damit?“
„Fingerspuren sichern.“
„Gibt es eine Fallnummer?“
„Wenn Sie das ausnahmsweise ohne machen würde, wäre ich Ihnen dankbar.“
„Soll das heißen, dass ich Ihnen einen Gefallen tun soll?“
„Ja.“
„Ihnen ist klar, dass Sie damit in meiner Schuld stehen?“
„Ja, das weiß ich. Bei Gelegenheit dürfen Sie mir das gerne um die Ohren hauen.“
„Das werde ich machen, darauf können Sie sich verlassen.“
„Das ist mir durchaus bewusst, Herr Fuchs. Wir sehen uns im Besprechungszimmer. Sie sind doch so weit, oder nicht?“
„Ich bin quasi unterwegs.“…
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