Der 34. Fall aus der Leo-Schwartz-Krimireihe
1.
Christl Friedl hielt die Kontoauszüge in ihren zitternden Händen. Auch wenn es schon über fünf Jahre her war, dass ihr Mann Werner nicht mehr lebte, wurde seine Rente immer noch pünktlich überwiesen. Trotzdem ging sie jeden Monat mit Magenschmerzen zur Bank. Wie lange würde das Spiel noch gutgehen? Den Nachbarn hatte sie erzählt, dass ihr Mann einfach auf und davon war und sie im Stich gelassen hätte. Alle hatten ihr geglaubt. Die mitleidigen Blicke waren kein Problem für sie, aber an das Getuschel hinter ihrem Rücken hatte sie sich erst gewöhnen müssen. Inzwischen machte ihr auch das fast nichts mehr aus. Die meisten schwiegen zu diesem Thema, aber die größte Dorfratschn Rita Köhl gab keine Ruhe. Bei jeder Gelegenheit passte sie die neugierige Frau ab und löcherte sie mit Fragen. Wenn sie zufrieden war, begann sie von ihrem ach so perfekten Leben zu erzählen. Christl hasste diese Frau, die auch nicht davor zurückschrecke, an ihrer Haustür zu klingeln, wenn sie sich lange nicht gesehen hatten. Christl hatte den Eindruck, als würde es Rita Spaß machen, ihre Finger nicht nur in die Wunde zu legen, sondern auch noch genüsslich darin zu bohren. Aber Christl hielt das aus, schließlich war sie unendlich froh darüber, dass sie ihren Mann vom Hals hatte und endlich tun und lassen konnte, was sie wollte – und nur das zählte. Christl hatte ihren Gatten keine Sekunde vermisst. Werner war ein Hallodri gewesen und hatte nichts anbrennen lassen. Das allein war schon schlimm genug, wäre er nicht auch noch ein fieser Choleriker gewesen. Am liebsten wäre sie gegangen, aber das konnte sie nicht. Seit ihrer Hochzeit war sie immer finanziell von ihm abhängig gewesen. Früher war sie eine selbständige Frau mit Träumen und Zielen gewesen, die Werner alle zunichte gemacht hatte. Vor der Hochzeit im Jahr 1975 war alles perfekt gewesen. Alle hatten sie um diesen hübschen, charmanten und wortgewandten Mann beneidet. Auch sie konnte ihr Glück kaum fassen, als er sich tatsächlich für sie interessierte und ihr schon nach kurzer Zeit tatsächlich einen Antrag machte. Dass es nur das Erbe ihrer Eltern war, an dem er interessiert war, bemerkte sie zu spät. Das Elektrogeschäft im Zentrum von Gars am Inn war zwar nicht groß, warf aber genug ab, um neben dem Auskommen ihrer Eltern sie und fünf Mitarbeiter zu ernähren. Das genügte Werner. Schon einen Tag nach der Hochzeit zeigte er sein wahres Gesicht. Die geplante Hochzeitsreise nach Borkum hatte er ohne ihr Wissen einfach abgesagt. Anderen gegenüber hatte er das mit dem Unwohlsein seiner Frau erklärt und tönte überall groß, dass die Flitterwochen nachgeholt werden würden – ihr gegenüber hatte er eine Erklärung nicht für nötig erachtet. Sie konnte sich noch sehr gut daran erinnern, wie sie auf gepackten Koffern saß und Werner das Haus verließ, nachdem er ihr im Vorbeigehen mitteilte, dass aus den Flitterwochen nichts werden würde. Erst viel später erfuhr sie, dass er zu seiner damaligen Freundin gegangen war, deren Namen sie längst vergessen hatte. Werner war von da an nur noch unfreundlich und gemein zu ihr. Er demütigte sie, wo er nur konnte. Auch mit Beleidigungen hielt er sich nicht zurück. Anfangs muckte sie noch auf, aber darauf reagierte er allergisch. Wenn er mit Worten nicht weiterkam, schlug er auch gerne zu. Natürlich war er nur so zu ihr, wenn sie allein waren, denn nach außen war sie gezwungen, sein Gesicht zu wahren. Ihren Eltern konnte sie sich nicht anvertrauen. Sie waren beide überglücklich, dass ihr Töchterchen endlich unter der Haube war. Wie hätte sie die lieben Eltern enttäuschen können? Freunde hatte sie keine, dafür hatte ihr Mann gesorgt. Werner war überall beliebt, auch durch ihre Unterstützung, für die sie sich schämte. Er spielte den Geschäftsmann perfekt und schleimte sich bei ihren Eltern ein, bis sie ihm schon kurze Zeit später die Geschäftsführung übertrugen. Christl war zwar offiziell die Eigentümerin, aber das war Werner egal. Er war jetzt der Chef und das ließ er sich nicht von ihr nehmen. Es war ihm immer wichtig gewesen, dass er von allen gemocht wurde, obwohl viele ahnten, wie er wirklich war. Trotzdem war er durch sein charmantes, wortgewandtes und humorvolles Auftreten sehr angesehen und nicht wenige suchten seine Nähe. Er war auch durch ihre Mithilfe ein angesehener Bürger der kleinen Gemeinde Gars geworden, auch wenn er im Elektrogeschäft nach der Übergabe nicht wirklich viel tat. Dafür gab es die Angestellten und natürlich Christl, die sich um den Schriftkram kümmerte, während Werner nur Sprüche klopfte und das Leben genoss. Das beinhaltete auch ständige Affären, die er aus Rücksicht aufs Geschäft nur außerhalb der kleinen Heimatgemeinde hatte. Christl wusste nicht nur davon, sondern ihr Mann prahlte sogar vor ihr damit. Er war stolz darauf, welche Chancen er bei Frauen hatte. Sie hoffte immer darauf, dass sich sein Verhalten irgendwann bessern würde wenn er älter wäre, aber das war nicht so. Als Werner sechzig wurde, verkauften sie das Geschäft. Dadurch wurde das Zusammenleben mit ihm nicht leichter, sondern noch schlimmer. Die Beschimpfungen und Demütigungen nahmen zu. Und eines Abends war es ihr zu viel. Er kam angetrunken nach Hause und beschimpfte sie wegen einer Kleinigkeit. Dann zwang er sie, ihm ein Schnitzel zu braten, auch wenn es schon weit nach Mitternacht war. Das war nicht ungewöhnlich und sie fügte sie sich wie immer. Wenn sie das nicht täte, wurde er wütend und auch handgreiflich, darin war ihr Mann nicht zimperlich. Er befand, dass es sein gutes Recht als Ehemann war, sie zu schlagen. Das hatte sein Vater so gehandhabt und niemand hatte sich daran gestört. Christl tat, was von ihr verlangt wurde und war bemüht, keinen Fehler zu machen und ihn nicht zu reizen. Aber Werner hatte schlechte Laune. Er war stinksauer, dass er beim Kartenspielen verloren hatte und diesen Ärger ließ er an seiner Frau aus. Er mäkelte an ihr herum und machte sich über sie lustig. Die Beleidigungen steigerten sich. Christl beeilte sich und wollte ihm alles recht machen. Wenn er zufrieden war, hörte er vielleicht endlich auf und ließ sie in Ruhe. Aber heute war Werner mit nichts zufrieden. Sie legte das Schnitzel auf den Teller, stellte es ihm vor und wollte dann die Pfanne abspülen. Werner kritisierte an dem Schnitzel herum und warf es auf den Boden. Er schimpfte und zeterte. Dann trat er mit seinen Schuhen auf das Schnitzel und schob ihr es wütend zu.
„Heb das auf!“ Mit lautem Lachen sah er zu, wie Christl sich bückte und das Schnitzel aufhob.
„Iss es!“, befahl er ihr.
„Ich möchte nicht.“
„Du sollst es essen!“, wiederholte er, wobei seine Stimme sehr bedrohlich klang. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als in das Schnitzel zu beißen. Werner beobachtete sie. „Reste gab man früher auch den Schweinen und du bist unser Schwein. Los, runterschlucken! – So ist es brav. Und jetzt noch einen Bissen. Gut so!“ Werner lachte. Christl wurde schlecht, aber sie wollte das vor ihrem Mann nicht zeigen, also riss sie sich zusammen.
„Bring mir ein Bier!“, schrie er, nachdem er sich an den Qualen seiner Frau sattgesehen hatte. Christl war kotzübel und die Bissen des Fleischstückes wanderten bedrohlich nach oben. Aber sie wollte sich nicht übergeben und riss sich zusammen. Sie stellte die Bierflasche auf den Tisch und öffnete den Kronkorken mit zitternden Händen. Wie lange sie den Inhalt ihres Magens noch zurückhalten konnte?
„Du bist ein Schwein und zu nichts zu gebrauchen!“, schrie er und setzte die Flasche an. „Sieh dich doch an, du hässliche Krähe! Wenn ich dich nicht genommen hätte, wärst du jetzt eine alte Jungfer. Ich weiß nicht, warum ich mir das angetan habe! Du ekelst mich an! Ich muss deinen Anblick zum Glück nicht mehr lange ertragen, ich habe eigene Pläne, in die du nicht passt.“
Christl hörte nicht zu. Sie nahm die Pfanne und wollte nach dem Schwamm greifen, zögerte aber. Werner trank und fand weitere Beleidigungen, die alle sehr fies waren. Vor allem hatte er sich an dem Schimpfwort Schwein festgefressen und wiederholte es wieder und wieder. Sie umklammerte die Pfanne, drehte sich um schlug mit voller Kraft zu. Werner sah sie mit weit aufgerissenen Augen an, dann schlug sie wieder und wieder zu. Die Demütigungen der vielen Jahre schienen sich in diesen Schlägen zu entladen. Werner knallte mit dem Kopf auf den Tisch. Die Augen waren weit aufgerissen. Vorsichtig prüfte Christl seinen Puls – Werner war tot. Es war endlich still. Christl rannte zur Toilette und übergab sich. Dann ging sie zurück in die Küche, spülte die Pfanne ab, räumte den Tisch ab und ging ins Bett. Was mit Werner passieren sollte? Sie wusste es nicht, morgen war auch noch ein Tag.
Mit einem Kaffee in der Hand starrte sie am nächsten Morgen ihren Mann an, der noch genau so dalag, wie sie ihn heute Nacht verlassen hatte. Jetzt musste sie überlegen, was sie mit ihm machen wollte. Einfach die Polizei rufen und alles zugeben? Nein, das wäre zu einfach. Werner war schließlich selbst schuld daran und sie wollte nicht für ihn ins Gefängnis gehen. Aber was sollte sie dann mit dem Leichnam machen? Zunächst musste er raus aus der Küche, denn sie wollte sich seinem Anblick nicht länger aussetzen als nötig. Also brachte sie ihn in sein Büro, das der Großkotz brauchte, obwohl die Firma schon vor fast einem Jahr verkauft war und er sowieso kaum dafür gearbeitet hatte. Sie verschloss die Tür und war vorerst zufrieden. Sie hatte ihre Ruhe und musste dieses Ekel nicht mehr ansehen. Dass das nicht lange gutging, war ihr klar, aber noch drängte die Zeit nicht. Sie genoss die Ruhe und den Frieden, fühlte sich gelöst und frei. Erst Tage später hatte sie eine Lösung für ihr Problem gefunden: Das Schuster-Haus! Die alte Reserl war seit zwei Jahren tot und Erben gab es keine. Das Haus stand schon lange leer. Bis es irgendjemanden gab, der das Haus übernahm, hatte sie sicher eine andere Lösung für ihren Werner gefunden.
Das alles schoss Christl durch den Kopf, als sie den Kontoauszug studierte. Seit Werner nicht mehr am Leben war, verwaltete sie das Geld und konnte damit tun und lassen was sie wollte. Da sie selbst keine eigene Rente hatte, war sie auf dieses Geld angewiesen, mit dem sie keine riesigen Sprünge machen konnte. Den Erlös aus dem Verkauf ihres Erbes hatte Werner fast durchgebracht, was sie anfangs sehr wütend gemacht hatte. Sicher war er gegenüber seinen Flitscherln sehr großzügig gewesen und hatte mit seinem Geld geprahlt, das eigentlich ihres war. Jetzt gab es nur noch den letzten Rest des Erbes ihrer Eltern, den Schmuck ihrer Mutter und Werners Rente. Der feine Herr hatte in all den Jahren fleißig in die Rentenkasse eingezahlt, an sie hatte er nicht gedacht. Ob er überhaupt vorhatte, seinen Lebensabend mit ihr zu verbringen? Sie bezweifelte es. Werner lag in der Gefriertruhe des Schneider-Hauses und dort lag er gut. Er hatte kein eigenes Grab verdient!
Werners Rente reichte aus, um zu überleben, etwas Geld zu sparen und sich dabei trotzdem den einen oder anderen Luxus gönnen zu können, wenn sie sorgfältig mit dem Geld umging. Und das machte sie. In den letzten Jahren hatte sie ein hübsches Sümmchen gespart und heute gönnte sie sich eine kleine Freude. Warum auch nicht? Sie hatte in all den Jahren nicht viel Freude erfahren und wollte jetzt mit ihren vierundsechzig Jahren endlich etwas vom Leben haben. War das zu viel verlangt? Heute wollte sie mit dem Zug nach München. Das Wetter war gut und sie freute sich auf einen Kaffee, den sie gedachte, auf dem Viktualienmarkt zu sich zu nehmen. Das wäre in diesem Jahr der erste Kaffee draußen, womit sie den Frühling einläuten wollte, auch wenn es dafür Ende Februar noch fast zu frisch war. Das war ihr egal. Sie zog ihren Mantel und das Tuch enger, nachdem sie die Kontoauszüge eingesteckt und etwas Geld abgehoben hatte.
Sie ahnte nicht, was in der Zwischenzeit im Schuster-Haus am Dorfplatz in Gars vor sich ging und dass das Schicksal seinen Lauf nahm.
2.
„Die Liefermengen reichen nicht aus“, wiederholte Martin Mitterhuber. Der Vierundvierzigjährige war nur ein Mittler für seinen Chef, dessen Namen er nicht preisgeben wollte. „Lithium haben wir genug, aber uns fehlt Kobalt! Du musst mehr liefern!“
„Ich habe dich verstanden, kann aber trotzdem nicht mehr liefern. Ich würde gerne, kann aber nicht“, sagte Wolfgang Lastin genervt. Das Gespräch mit Mitterhuber zog sich mehr und mehr in die Länge. Der Mann drängelte, aber das änderte auch nichts daran, dass er nicht mehr liefern konnte, auch wenn sich der Geschäftspartner das noch so sehr wünschte. Verstanden die denn nicht, in welcher Lage er sich befand? „Hör zu, Martin: Kobalt wächst nicht auf Bäumen. Ich mache wirklich, was ich kann. Mehr geht nicht!“
„Dann lass dir etwas einfallen, um das zu ändern. Du musst mehr liefern! Zwei Hersteller haben den Kobaltbedarf für Batterien bereits auf fünfzehn Prozent reduziert.“
„Wenn die Regierung weiter an Elektroautos festhält und alle Bundesbürger darauf einschwört, werden beide Rohstoffe noch sehr lange gebraucht und hoch gehandelt werden.“ Wolfgang Lastin lehnte sich entspannt zurück. Dieser Trottel von Mitterhuber machte sich doch nur wichtig. Die illegalen Firmen im Kongo, die er vor drei Jahren gegründet hatte, liefen sehr gut. Er bezahlte Schmiergelder an den richtigen Stellen und war mit der Ausbeute sehr zufrieden. Offiziell handelte er mit Weihrauch und auch hier hatte er die entsprechenden Stellen geschmiert. Eigentlich lief alles super, aber das war Mitterhuber und seinem Geschäftspartner, der ihm immer noch unbekannt war, jetzt auf einmal nicht mehr genug. Wolfgang Lastin hatte alles versucht, die Mengen raufzuschrauben, aber das war ihm nicht gelungen. Wie sollte er das bewerkstelligen? Mehr Personal im Kongo brachte nicht wesentlich mehr Kobalt. Dafür brauchte es neue Stellen, an denen der seltene Rohstoff gewonnen werden konnte. Das, was Mitterhuber forderte, nahm Ausmaße an, vor denen er echt Respekt hatte. Drei Firmen waren genug für ihn, die mussten ausreichen. Wofür brauchten seine Geschäftspartner die höheren Abnahmemengen, die bis jetzt gereicht hatten?
„Mach gefälligst deine Hausaufgaben, Wolfgang! Du machst jede Menge Kohle mit dem Kobalt und solltest wissen, was auf dem Markt los ist. Es wird wegen der geplanten Elektroautos mit Hochdruck an Feststoffzellen gearbeitet, für die bei Weitem nicht mehr diese Mengen an Kobalt und Lithium gebraucht werden. Und wenn die Wasserstoffzelle soweit ist, wird beides nicht mehr gebraucht. Jetzt ist das große Geld mit beidem zu machen, das müssen wir ausnützen.“
„Ich weiß sehr gut, was auf dem Markt los ist, das kannst du mir glauben! Die Feststoffzellen sind noch nicht so weit. Und wenn, dann wird auch hierfür Kobalt und Lithium benötigt. Zwar nicht mehr in so großen Mengen, aber dafür werden wir von den Stückzahlen der Elektroautos profitieren. Und glaub mir, die Wasserstoffzelle ist noch lange nicht serienreif. Und wenn, dann werde ich die Freigabe zu verhindern wissen.“
„Du sprichst von dem kleinen Politiker im Bundesumweltamt, der auf deiner Gehaltsliste steht? Vergiss es! Einer allein kann die Zulassung nicht stoppen! JETZT ist der Markt für Kobalt und Lithium, nicht irgendwann.“
„Meine Kapazitäten sind voll ausgeschöpft“, versuchte sich Wolfgang Lastin zu rechtfertigen. Er hatte langsam genug und keine Lust mehr, sich von dem Typen weiter unter Druck setzen zu lassen.
„Kümmere dich darum, dass du die Liefermenge verdoppelst.“
„Verdoppeln? Davon war nie die Rede! Das schaffe ich nicht! So leicht, wie du dir das vorstellst, ist das nicht. Die kongolesischen Behörden achten mit Argusaugen auf den Kobaltabbau. Bis jetzt haben sie mich in Ruhe gelassen, was mich nicht wenig Geld gekostet hat. Ich befürchte, dass ich mir alle Sympathien verspiele, wenn ich jetzt verdopple. Die Behörden werden eh schon unruhig. Erst letzte Woche…“
„Bitte verschone mich mit deinem Gequatsche. Wie du das mit der Ware machst, ist mir völlig egal. Die Mengen, die du lieferst, sind zu wenig! Wir wollen mehr, und zwar so schnell wie möglich. Wenn du das nicht hinbekommst, müssen wir uns einen anderen Lieferanten suchen. Ich gebe dir Zeit, darüber nachzudenken. Es stimmt, dass du sehr gute Preise für sehr gute Ware anbietest, aber das machen andere auch. Überlege dir gut, ob du auf unsere Forderungen eingehen möchtest. Ich möchte spätestens in einer Stunde eine Antwort haben.“ Martin Mitterhuber stand auf. „Ein ziemlich versifftes Haus, dass du für unsere Geschäftsbesprechung ausgesucht hast. Warum Gars? Warum diese Bruchbude?“
„Das ist sicherer als in der Großstadt, wo uns jeder sehen kann.“ Wolfgang Lastin hatte das Kaufinteresse nur vorgeschoben. Er gab dem frustrierten Makler an, heute mit einem Architekten eine Runde durchs Haus drehen zu wollen. Dass Wolfgang nicht vorhatte, diese Bruchbude in dem verschlafenen Ort zu kaufen, ahnte der Makler nicht. Er wollte sich mit Mitterhuber auf neutralem Boden treffen und sich in Ruhe mit ihm unterhalten, was hier geradezu ideal war. Er traute Mitterhuber nicht. Spätestens seit ihrem vorletzten Treffen, als er dessen Waffe bemerkt hatte, war er sehr vorsichtig geworden. Nein, Mitterhuber war ein windiger Typ, dem er nicht über den Weg traute. Dass Wolfgang selbst eine Waffe trug, war für ihn völlig normal. Warum auch nicht? Er war ein erfolgreicher Geschäftsmann und allein das brachte viele Neider auf den Plan. Aber Mitterhuber war kein Geschäftsmann, sondern nur ein popliger Mittler zwischen ihm und dem Abnehmer des Kobalts. Warum brauchte der eine Waffe?
„Diesen Treffpunkt hier in diesem Kaff finde ich total bescheuert. Wo ist die Toilette?“
„Direkt neben der Eingangstür.“
Wolfgang Lastin war sauer. Mitterhuber setzte ihn unter Druck. Wenn er dessen Drohung ernst nahm, stand er ohne seinen Abnehmer da und musste sich für das Kobalt einen neuen Kunden suchen. Wie sollte er das anstellen? Er konnte doch nicht einfach zu den Firmen gehen und seine illegale Ware anpreisen. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als Zeit zu gewinnen. Sobald er den Typen loshatte, musste er in den Kongo reisen und versuchen, neue Abbaumöglichkeiten zu suchen und weitere Firmen zu kaufen. Lastin war sauer, denn das wollte er eigentlich nicht. Mit seinen bisherigen Firmen hatte er bisher Glück gehabt. Alle ließen ihn in Ruhe, was er vor allem den Schmiergeldzahlungen zu verdanken hatte. Was würde passieren, wenn er das Geschäft jetzt verdoppeln musste? Das kostete ihn erneut eine Stange Geld, das er eigentlich nicht investieren wollte. Aber welche Wahl hatte er denn? Wenn er nicht auf Mitterhubers Forderungen einging, verlor er seinen einzigen Abnehmer und er stand mit Ware da, für die er keinen Kunden hatte. Je länger er darüber nachdachte, desto größer wurden seine Magenschmerzen. Er war durcheinander und musste in Ruhe überlegen, was er Mitterhuber antworten sollte.
Lastin trank sein Glas leer, stand auf und sah aus dem Fenster. Dann entdeckte er einen Wagen mit Münchner Kennzeichen, das hier nicht hingehörte. War das eine Frau hinter dem Steuer? Er zog die Gardinen zur Seite. Ja, das war sie! Diese lästige Person verfolgte ihn seit geraumer Zeit. Als würde der Druck von Seiten Mitterhubers nicht schon reichen, bekam er den auch noch von seinem Schatten, von dem er nicht wusste, um wen es sich dabei handelte. Es war Zeit, wenigstens eines seiner Probleme aus der Welt zu schaffen!
3.
„Hör endlich auf mit deinem Gejammer! Du wolltest mich begleiten, ich habe dich nicht darum gebeten. Also halt jetzt endlich den Mund!“ Anita Seidl war sauer auf ihren Mann Hans Hiebler. Seit er wegen eines Beinbruchs krankgeschrieben war, langweilte sich der neunundfünfzigjährige und ging ihr mächtig auf die Nerven. Da er sein Leben lang immer gearbeitet hatte und jetzt körperlich eingeschränkt war, wusste er nichts mit sich anzufangen. Heute Morgen hatte er so lange gebettelt, dass sie ihn doch mitnehmen möge, bis sie schließlich nachgab. Die achtundvierzigjährige Detektivin hatte heute eine Observierung, die sich in die Länge zog. Sie war der Person, über die sie Informationen sammeln sollte, von München in dieses verschlafene Nest gefolgt. Was er hier vorhatte, war ihr schleierhaft. Der Mann war in die Garage eines alten Hauses gefahren. Kurz danach kam noch ein Wagen, der ebenfalls direkt in die Garage fuhr. Sie hatte jede Menge Fotos gemacht, aber seit Stunden rührte sich nichts mehr. Die beiden Männer waren immer noch in dem Haus, das offenbar schon länger leer stand, denn es machte insgesamt einen sehr heruntergekommenen Eindruck. Was sollte das? Warum trafen sie sich in Gars, das von München eine gute Autostunde entfernt war? Das galt es herauszufinden, was sie fest vorhatte. Sie beobachtete das Haus mit Argusaugen, denn ihre Jobs erledigte sie immer sehr gewissenhaft. Heute galt es wie so oft, einfach abzuwarten. Ihr machte das nichts aus, schließlich gehörte auch diese Arbeit zu ihrem Job – aber Hans langweilte sich. Außerdem fühlte er sich nicht gut, sein Magen rebellierte. Vermutlich hatte er etwas Schlechtes gegessen oder einfach zu viel von allem, was leicht sein konnte, denn seit er einen Gips hatte und sich selbst bemitleidete, futterte er alles in sich hinein, was er kriegen konnte.
„Dir ist klar, dass wir hier in diesem Kaff seit über drei Stunden stehen?“, maulte Hans zurück. „Denkst du, dass das für mich bequem ist? Langsam weiß ich nicht mehr, wie ich mein Bein lagern soll! Was machen wir hier eigentlich?“
„Du weißt, dass ich nicht über meine Aufträge spreche. Diskretion…“
„Jaja, ich weiß. Ist es das überhaupt wert? Wirst du für diesen langweiligen Job wenigstens gut bezahlt?“
Anita stöhnte. Ja, sie verstand ihren Mann. Er langweilte sich und hatte keine Ahnung von dem Fall – und das sollte auch so bleiben. Hans forderte eine Rundumpflege, die sie ihm nicht geben konnte und auch nicht wollte. Er war nicht bettlägerig, sondern hatte lediglich ein gebrochenes Bein, mit dem er sich eigentlich sehr gut selbst versorgen könnte. Anstatt sie zu unterstützen, jammerte er nur herum und beschwerte sich, wo er nur konnte. Sie verlor mehr und mehr die Geduld mit ihm. Sie hatte schließlich einen Job, dem sie nachgehen musste. Verstand Hans das nicht? Er war schließlich Kriminalbeamter und damit waren ihm lange Observierungen nicht fremd. Warum war er nicht einfach still, stärkte ihr den Rücken und ließ sie in Ruhe arbeiten? Ja, sie hätte den Fall auch abgeben können, aber das kam für sie nicht in Frage. Vor allem dieser Fall hatte es ihr angetan, denn der Name des Mannes, hinter dem sie her war, war ihr nicht unbekannt. Ob sie Hans dieses Detail anvertrauen sollte? Nein, das war nicht ihr Stil. Verschwiegenheit stand bei ihr ganz oben auf der Liste und darauf konnten sich ihre Klienten verlassen. Mühldorf und Altötting waren nicht weit von hier entfernt. Ob sie Hans nicht einfach bei seiner Tante Gerda abliefern sollte? Die alte Dame hätte vielleicht Geduld und Muße, sich um einen kranken Mann zu kümmern. Anita verwarf diesen Gedanken rasch. Nein, das konnte sie der lieben Gerda nicht antun, Hans würde ihr das Leben zur Hölle machen.
„Ruf dir ein Taxi und fahr nach Hause, das habe ich dir schon mehrfach geraten. In einer Stunde würdest du auf der Couch liegen und könntest dir einen Film nach dem anderen ansehen. Oder lies ein Buch, lesen hat noch nie geschadet.“
„Du willst mich doch nur abschieben“, maulte Hans, der bereits viele Filme gesehen und noch mehr Bücher gelesen hatte. Er hatte keine Lust mehr, krank und gebrechlich unnütz auf der Couch zu verbringen, während draußen das Leben ohne ihn weiterging.
„Du könntest dich auch auf die Rückbank legen, aber auch das ist dem gnädigen Herrn vermutlich nicht zumutbar. Als Hauptkommissar hätte ich dir echt mehr Sitzfleisch zugetraut.“
Hans dachte nicht daran, sich ein Taxi zu rufen. Was sollte er zuhause in München, das eigentlich nicht seines war? Er selbst lebte auch nach der Hochzeit mit Anita in Mühldorf am Inn, denn er arbeitete bei der dortigen Kriminalpolizei. Anita lebte und arbeitete in München. Sie führten eine Wochenendehe, was bisher für beide kein Problem gewesen war. Aber er war seit Wochen in München, da er mit dieser vorübergehenden Behinderung nicht alleinbleiben konnte. War es nicht Anita, die darauf bestanden hatte, dass er zu ihr nach München käme, damit sie sich besser um ihn kümmern konnte? Er war sauer, denn von einer Pflege war nicht viel zu spüren. Stattdessen überhäufte ihn seine Frau mit Gegenständen, die ihm das Leben erleichtern sollten. Erst gestern hatte sie ihm eine Greifzange an einer langen Teleskopstange gegeben, damit er Gegenstände leichter vom Boden aufheben konnte. War er ein alter Mann? Konnte sie das nicht für ihn übernehmen? Hans hatte sich das alles ganz anders vorgestellt. Mühsam quälte er sich aus dem Wagen.
„Was hast du vor?“
„Ich muss zur Toilette.“
„Dort hinten ist ein Café, die haben sicher eine Toilette. Es wäre super, wenn du Kaffee mitbringen könntest.“
Hans nahm die Krücken von der Rückbank und humpelte davon. Er war echt sauer. Seine Frau zu begleiten war eine Schnapsidee gewesen.
Anita sah ihrem Mann hinterher. Er gab ein jämmerliches Bild ab, was aber auch amüsant war. Sie wusste, dass es Hans mit der Gebrechlichkeit übertrieb, denn eigentlich ging es ihm nicht wirklich schlecht. Sie musste lächeln, da sein Versuch, ihr mit seinem theatralischen Gang ein schlechtes Gewissen zu bereiten, völlig in die Hosen ging. Sie lehnte sich entspannt zurück. Jetzt hatte sie wenigstens ein paar Minuten ihre Ruhe.
Hans bestellte bei der freundlichen Verkäuferin zwei Kaffee zum Mitnehmen und griff nach einer kleinen Flasche Jägermeister, die er in einem Zug austrank. Eine weitere stellte er auf den Tresen. Vielleicht brachte das seinen Magen wieder auf Vordermann. Er hatte ein schlechtes Gewissen Anita gegenüber, die ihm nur einen Gefallen tun wollte und ihn nur auf sein Drängen hin mitgenommen hatte. Er war undankbar gewesen und hatte seine Wut an ihr ausgelassen. Er kaufte eines der köstlich aussehenden Schokoladenherzen und wollte sich damit bei seiner Frau entschuldigen. Vor der Tür des Cafés trank er auch den zweiten Jägermeister und warf die Flasche in den Müll. Langsam fühlte er sich besser. Auf die guten, alten Hausmittel war eben immer Verlass. Was schlug ihm nur so sehr auf den Magen? Als er zum Wagen ging, dachte er darüber nach, ob er vielleicht nicht doch viel besser in Mühldorf oder sogar bei seiner Tante Gerda aufgehoben wäre. Dann blieb er erschrocken stehen. Hans musste mit ansehen, wie ein Mann aus dem Haus stürmte, das sie zu überwachen hatten.
„Das ist er!“, murmelte Anita ruhig und setzte sich auf. Wo war Hans? Sie sah ihn aus dem Augenwinkel und hoffte, dass er sich beeilen würden. Dann war sie starr vor Schreck und starrte den Mann an, der direkt auf sie zuging und dabei seine Waffe auf sie richtete.
Hans musste erschrocken fassungslos mit ansehen, wie der Mann mit einer Waffe in der Hand plötzlich stehenblieb und Anita anstarrte. Was war da los?
4.
Leo Schwartz hatte schlechte Laune. Seine Verlobte Sabine Kofler war in England und arbeitete an einem Artikel über die Auswirkungen des Brexits, der inzwischen zwar abgeschlossen, aber immer noch fast täglich in den Medien präsent war. Das Thema ging ihm langsam echt auf die Nerven. Gestern Abend zappte er durch die Programme. Entweder gab es Berichte über diesen Brexit, Harry und Meghan, oder irgendwelche Proll-Sendungen. Was war an diesem Brexit, der doch jetzt endlich durch war, so wahnsinnig wichtig? Leo verstand nicht viel von Politik und sah viele Themen sehr einfach. Die Briten wollten nicht mehr Teil der EU sein und hatten abgestimmt. Jetzt waren sie raus und zwar mit allen Konsequenzen. Was gab es denn da noch lange zu diskutieren? Sollten es sich die Briten irgendwann wieder anders überlegen, könnten sie ja wieder in die EU eintreten. Wo war das Problem? Dasselbe galt dem Paar Harry und Meghan, über die er auch nichts mehr sehen oder lesen wollte. Wenn die beiden keine Lust mehr auf das Königshaus und den damit verbundenen Pflichten hatten – dann Bitteschön! Es wird seine Gründe haben, warum sie England den Rücken gekehrt haben. Das war deren Entscheidung und ging niemanden etwas an. Konnte man die kleine Familie nicht einfach in Ruhe lassen? Gab es nicht wichtigere Nachrichten? Der gebürtige Schwabe eckte bei manchen Diskussionen mit seinen Ansichten an, was ihm herzlich egal war. Das war nun mal seine Meinung, an der es seiner Ansicht nach nichts zu kritisieren gab.
Die Arbeit als Hauptkommissar bei der Mordkommission im bayerischen Mühldorf am Inn war momentan sehr stumpfsinnig. Da der letzte Mordfall abgehakt war und auch die Silvesterfeierlichkeiten im Gegensatz zum Vorjahr alle glimpflich abgelaufen waren, kam der Chef wieder mit seinen alten Fällen ums Eck, worüber niemand glücklich war. Akten wälzen gehörte weder für Leo noch für die Kollegen zur Lieblingsbeschäftigung. Es blieben ihm, Tatjana Struck und Anton Graumaier nichts anders übrig, als dieser Arbeit nachzugehen. Diana Nußbaumer sonnte sich in Thailand, wo sie seit einer Woche ihren Urlaub verbrachte. Zwei Wochen hatte ihr der Chef genehmigt und sie schickte täglich Bilder und dämliche Nachrichten aus dem Urlaubsparadies, was vor allem Leo neidisch machte. Normalerweise hätte er zwischen Weihnachten und Neujahr eine Woche mit seiner Sabine in Ägypten verbracht, aber der Urlaub war wegen seiner Gehirnerschütterung ins Wasser gefallen. Er war schon lange wieder vollständig genesen, aber der Chef konnte ihm keinen weiteren Urlaub genehmigen, die anderen waren schließlich auch mal dran. Leo gönnte Diana den Urlaub, trotzdem könnte er auf die fröhlichen Urlaubsnachrichten gerne verzichten. Stöhnend lehnte er sich zurück und sah Graumaier an, der als Springer in Mühldorf eingesetzt worden war und an den er sich nur sehr langsam gewöhnte. Sobald Leo mit ihm zurechtkam, leistete er sich wieder einen Fauxpas, der das Verhältnis zwischen ihnen wieder anspannte. Und das lag nur an Tonis Verhalten Frauen gegenüber. Es gab innerhalb der Mühldorfer Polizei nicht eine Kollegin, an die sich der Neue noch nicht rangemacht hatte. Konnte der seine Hormone nicht in den Griff bekommen?
„Was ist mit dir?“, fragte Tatjana, die sich um Leo sorgte, denn der wurde von Tag zu Tag unleidlicher. „Fehlt dir Hans?“
„Irgendwie schon. Wie lange ist er noch krankgeschrieben?“
„Noch mindestens drei weitere Wochen.“
Wieder stöhnte Leo. Hans hatte sich während des Skiurlaubs vor Weihnachten ein Bein gebrochen, das einfach nicht heilen wollte. Lief denn dieses Jahr alles schief? Wenn er schon diese Arbeit machen musste, warum dann nicht wenigstens mit Hans, mit dem er auch befreundet war?
Tatjana Struck schüttelte den Kopf. Je länger Hans weg war, desto unerträglicher wurde Leo. Die beiden waren wie Pech und Schwefel.
„Hans kommt ja wieder, bis dahin reiß dich gefälligst zusammen und jammre hier nicht rum“, sagte sie und arbeitete weiter.
„Wer bist du? Meine Mutter?“ Leo hätte gerne einen Streit angefangen, sogar mit Tatjana. Warum nicht? Sie war nicht dumm und ließ sich nichts gefallen. Eine Auseinandersetzung mit ihr war allemal besser als diese blödsinnige Arbeit!
Aber dazu kam es nicht, denn das Telefon klingelte und Tatjana ging ran. Sie ahnte, was der missgelaunte Leo vorhatte und wollte nicht darauf eingehen. Leo wartete ab, bis Tatjana aufgelegt hatte. Er legte sich Argumente zurecht, die er gedachte, nach dem Telefongespräch anzubringen.
„Einsatz, Leute! Schießerei in Gars.“
„Wo?“ Leo hatte von diesem Ort noch nie gehört.
„Gars am Inn“, sagte Tatjana, als sie schon an der Tür war. „Nahe Waldkraiburg“, setzte sie nach. War sie eigentlich Leos Kindermädchen?
„Du kennst den Ort nicht?“, wunderte sich Toni Graumaier. „Gars müsstest du eigentlich kennen, du lebst doch schon lange genug in dieser Gegend.“ Toni lebte zwar selbst in Landshut, war aber gebürtiger Neuöttinger und hatte bis zu seinem siebzehnten Lebensjahr auch dort gelebt. Eine seiner damaligen Freundinnen kam aus Gars, auch deshalb kannte er den Ort ziemlich gut.
Leo kam sich dumm vor und folgte den Kollegen. Auf dem Flur kam ihnen der Chef entgegen.
„Herr Krohmer? Wie kann ich helfen?“, fragte Tatjana.
„Ich habe von der Schießerei gehört und werde Sie unterstützen. Wegen des Urlaubs von Frau Nußbaumer sind Sie unterbesetzt, was ich nicht gutheißen kann. Wen darf ich begleiten?“
„Ich fahre mit Leo“, sagte Toni Graumaier schnell und Leo nickte. Auch wenn er Toni nicht wirklich mochte, wäre die Vorstellung, mit dem Chef arbeiten zu müssen, noch sehr viel schlimmer. Er mochte und schätzte Krohmer, aber mit ihm zu arbeiten war echt kein Vergnügen.
Krohmer war es egal, mit wem er zusammenarbeitete und sah Tatjana an. Ihr wäre Leo oder Toni sehr viel lieber gewesen, aber jetzt war es zu spät.
„Fahren wir“, sagte sie. „Ich muss nur noch Fuchs Bescheid geben.“
„Das habe ich bereits erledigt“, sagte Krohmer und kontrollierte seine Waffe, auch wenn er nicht gedachte, sie einzusetzen. „Die Spurensicherung ist bereits unterwegs.“
Die knappe halbe Stunde Fahrt von Mühldorf nach Gars verging für Leo und Toni wie im Flug. Sie hörten laute Musik, was beiden angenehm war. Tatjana war genervt. Krohmer mäkelte an ihrem Fahrstil herum und sprach ohne Punkt und Komma über die Schießerei, auch wenn er keine Ahnung davon hatte, was sie wirklich erwartete. Klar war nur, dass es auf dem Marktplatz der viertausend Seelen-Gemeinde Gars eine Schießerei gab. Wie viele Personen beteiligt waren und ob es Opfer gab, stand noch in den Sternen. Streifenpolizisten waren bereits vor Ort und alle Kriminalbeamten hofften, dass die die Lage im Griff hatten, weshalb eine Fahrt mit Blaulicht nicht erforderlich war.
Wenn die Kriminalbeamten gewusst hätten, dass einer ihrer Kollegen involviert war, wären sie vielleicht sehr viel schneller am Tatort eingetroffen.
5.
Hans war starr vor Schreck und ließ Kaffee und Schokoladenherz fallen. Instinktiv griff er sich an die rechte Seite seines Hosenbundes, wo sonst seine Waffe war. Aber da war nichts. Er war krankgeschrieben und seine Waffe lag sicher verwahrt zuhause. Was für ein Mist! Er humpelte auf seinen Krücken näher und versuchte, die Aufmerksamkeit des Mannes auf sich zu lenken, damit sich Anita in Sicherheit bringen konnte. Er war nahe genug an Anitas Wagen und registrierte, dass sie ihre Waffe fest umklammert hielt, sie aber nicht benutzte.
„Schieß doch!“, schrie er laut wieder und wieder, aber sie starrte nur auf den Mann vor ihr, der Schritt für Schritt näher kam. Warum schoss sie nicht? Und warum schoss er nicht?
Der Fremde hatte Anitas Wagen erreicht und öffnete die Fahrertür. Er zog Anita aus dem Wagen. Hans konnte nichts dagegen machen. Er humpelte näher, schrie und versuchte, bis zu Anita durchzudringen oder wenigstens den Mann abzulenken, aber beide reagierten nicht. Hans war völlig überfordert. Was war hier los? Anita unternahm nichts, sie starrte den Mann nur an – er sie aber auch.
Jetzt sprach der Mann mit Anita, wobei er die Waffe senkte und sie nicht mehr auf sie richtete. Auch Anita hatte ihre Waffe gesenkt. Was sollte das? Hans war noch zu weit weg und verstand kein Wort von dem, was die beiden miteinander sprachen.
„Wolfgang? Bist du das?“ Anita Seidl hatte geahnt, mit wem sie es zu tun hatte, wollte es aber nicht wahrhaben.
„Anita? Das kann doch nicht wahr sein! Was machst du hier?“
„Meinen Job.“
„Du bist die Frau, die mir auf den Fersen ist und mir das Leben schwer macht?“
„Du bist derjenige, der diese widerlichen, menschenverachtenden Geschäfte macht?“
Wolfgang Lastin war erschrocken. Er hätte nie im Leben damit gerechnet, auf Anita zu treffen. Er wollte die lästige Frau, die ihn seit vielen Wochen beschattete und ihn damit echt nervte, ein für alle Mal endlich los werden. Er hatte dafür gesorgt, dass sie einen Skiunfall hatte, aber es hatte den Falschen getroffen. Wie konnte er denn wissen, dass die beiden dasselbe Outfit trugen? Wie hoch war die Wahrscheinlichkeit, dass ein älteres Pärchen dieselben Skianzüge und Skistiefel trugen? Sogar Mütze, Ski und Skibrille waren gleich. Wie albern und infantil war das denn? Als er seinen Fehler bemerkte, war es zu spät. Trotzdem hatte er die Hoffnung, dass die Frau ihn endlich in Ruhe ließ. Ja, er wusste, dass die Frau Anita Seidl hieß und in München lebte. Aber dass es sich dabei um seine Anita handelte, hätte er nie für möglich gehalten. Wolfgang Lastin zögerte. Noch vor wenigen Augenblicken war er gewillt gewesen, sie einfach zu erschießen, da er mit den Nerven am Ende war. Diese Frau, die seit Wochen überall auftauchte, war die Pest. Seine Geschäfte durften von nichts und niemandem gestört werden oder in Gefahr geraten, einen Schatten konnte er nicht brauchen. Diese Frau konnte er nicht töten. Anita! Wie lange hatten sie sich nicht gesehen? Das war jetzt nicht wichtig. Was sollte er jetzt tun? Jeden Moment würde Mitterhuber auftauchen und der hätte sicher kein Problem damit, Anita einfach zu erschießen. Lastin nahm ihr unsanft die Waffe weg.
„Hübsches Spielzeug“, sagte er und steckte die Waffe ein. Dann sah er sich um. Die Zeit drängte. „Nimm deine Tasche!“
„Warum?“
„Weil dort sicher Unterlagen über mich drin sind. Mach, was ich dir sage! Das hier ist kein Spaß, Anita!“
Sie nahm ihre Tasche, die wie immer prall gefüllt war. Wolfgang dachte an alles. Wenn sie die Tasche mitnahm, gab es nur noch einen Hinweis auf den Fall, den sie vor zwölf Wochen übernommen hatte und den sie gerade gründlich vermasselt hatte. Warum hatte sie ihm nicht einfach ins Bein oder in den Arm geschossen? Jetzt war es dafür zu spät. Ob sie es wagen konnte, die Mappe im Wagen zu hinterlassen? Sie musste es versuchen.
„Mach keine Spielchen!“, sagte Wolfgang, der ahnte, was die Frau vorhatte. Anita nahm die Handtasche an sich, die ihr Wolfgang sofort abnahm. Er suchte nach dem Handy und nahm es an sich. „Was ist mit deinem Partner? Wieviel weiß er?“
Anita wurde schlecht.
„Nichts, das musst du mir glauben! Diskretion ist für mich sehr wichtig.“ Anita hoffte inständig, dass Wolfgang ihr glaubte. Er musste Hans in Ruhe lassen.
„Gut, ich will dir das glauben, obwohl ich meine Zweifel habe. Komm mit!“
„Aber…“
Wolfgang Lastin packte Anita am Arm und zog sie einfach mit sich. Dann drehte er sich um und schoss auf Hans, der nicht mehr weit von Anitas Wagen entfernt war. Als Hans den Schuss hörte, nahm er Deckung hinter dem Lieferwagen, der in der Nähe stand. Hans spürte die Schmerzen nicht, als er sich auf den Boden fallen ließ. Es fielen mehrere Schüsse, dann war es ruhig. Hans rappelte sich auf, was unendlich viel Zeit kostete. Er konnte nur noch dem Wagen hinterhersehen, der mit hohem Tempo davonbrauste. Was war hier los? Noch im Schutz des Lieferwagens sah er einen weiteren Mann, der aus dem Haus rannte, das sie seit heute früh beobachtet hatten. Hans sah sich suchend um und wurde panisch. Wo war Anita? Erst jetzt realisierte er, dass der zweite Mann ebenfalls auf ihn schoss. Hans verschanzte sich erneut hinter dem Lieferwagen. Er verstand, dass der Mann von vorhin seine Frau einfach mitgenommen hatte. Während Anita entführt wurde, wurde weiter auf ihn geschossen. Was war das für eine Scheiße?
Martin Mitterhuber starrte in den blinden Spiegel der alten Toilette, die tatsächlich noch einen Wasserkasten mit Kettenzug hatte. Er war stinksauer. Sein Geschäftspartner Wolfgang Lastin hatte ihn in dieses Kaff gelotst, wo sie die Details für die weiteren Geschäfte besprechen wollten. Der Chef hatte eindringlich gebeten, Lastin umzustimmen und zu überzeugen, mehr Kobalt zu liefern. Dass das seine letzte Chance war, wusste Lastin nicht. Mitterhuber wusste längst, dass Lastin ein Blender war, der seit Monaten nur leere Versprechungen machte und ihn hinhielt. Der Mann konnte die Liefermengen nicht erhöhen, selbst wenn er wollte. Mitterhuber war enttäuscht, denn er selbst hatte den Mann aufgebaut und ihn geschickt manipuliert. Als Lastin ihn kennengelernt hatte, wusste der noch nicht einmal, wie man Kobalt schrieb und welche Möglichkeiten sich damit auftaten. Lastin funktionierte nicht mehr so, wie er es von ihm forderte. Mitterhuber war enttäuscht. Er musste telefonieren und diese Information an den Chef weitergeben. Aber noch wollte er Lastins Antwort abwarten, diese Chance wollte er ihm zugestehen. Aber wo war das Arschloch? Mitterhuber war von Anfang an nicht begeistert gewesen, sich in Gars zu treffen. Was sollte das? Warum konnten sie sich nicht in München treffen, das weiß Gott sehr viel anonymer wäre als dieses gottverlassene Kaff! Lastin hatte darauf bestanden. Er war der Meinung, dass in München zu viele Menschen waren, die sie hätten beobachten können. Außerdem war er davon überzeugt, dass sie verfolgt wurden. Lastin sprach von einer Frau, die ihm seit Wochen auf den Fersen war. Lächerlich! Vermutlich war diese Frau eine seiner Verflossenen, die ihm gefolgt war. Trotzdem musste Mitterhuber zugeben, dass Lastin vielleicht nicht ganz so falsch mit seiner Vermutung lag. Wie sonst sollte er sich den Schusswechsel und das Verschwinden seines Geschäftspartners erklären sollen? Als Lastin nicht zurückkam und er Schüsse hörte, war er sofort nach draußen gerannt. Er hatte auf alles geschossen, was sich bewegte und war dann abgehauen. Wo war Lastin? Warum war er nicht zurückgekommen? Was war passiert? Wieder und wieder versuchte er, den Trottel zu erreichen, was ihm nicht gelang. Was sollte der Mist?
„Es gab eine Schießerei, Lastin ist abgehauen“, sagte er, als er endlich den Chef erreicht hatte.
Rolf Felbinger hatte der Anruf mitten in einer Sitzung erreicht. Mitterhuber rief nur an, wenn es dringend war, weshalb er sich bei seinen Gesprächspartnern entschuldigte und vor die Tür ging, um in Ruhe telefonieren zu können.
„Eine Schießerei? Was ist passiert?“
„Das weiß ich nicht!“
„Bleib ganz ruhig, Martin, dafür gibt es sicher eine Erklärung. Kann Lastin die Kobalt-Lieferungen erhöhen?“
„Er hat mir noch nicht final geantwortet. Aber ich bezweifle, dass er das kann.“
„Geben wir ihm die die Möglichkeit einer Antwort. Sobald du mit ihm gesprochen hast, meldest du dich wieder, einverstanden?“
„Mache ich.“
Hans lag immer noch hinter dem Lieferwagen und verstand nicht, was hier eigentlich los war. Zum Glück wurde die Polizei gerufen. Als die Sirenen zu hören waren, verschwand der Schütze. Hans atmete erst auf, als er quietschende Reifen hörte. Wenige Augenblicke später starrte er auf die Uniform des Polizisten.
„Gott sei Dank ist Ihnen nichts passiert“, sagte der und reichte Hans die Hand. „Das ist gerade nochmal gut gegangen.“
„Nichts ist gut!“, schrie Hans. „Einer der Männer hat meine Frau mitgenommen! Suchen Sie nach ihr!“…
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