Der 7. Fall aus der Leo-Schwartz-Krimireihe
1.
Die Koffer waren gepackt, der Rucksack nebst Wanderschuhen war längst im Wagen verstaut. Endlich konnte es losgehen. Der Frühling ließ dieses Jahr lange auf sich warten, Ostern war letzte Woche. Drei langersehnte Urlaubswochen lagen vor Leo Schwartz. Leo befand, dass er sich den Urlaub redlich verdient hatte. Seit seiner Versetzung zur Kriminalpolizei Mühldorf am Inn hatte er erst zwei Mal Urlaub gehabt. Er war am Ende und brauchte dringend Ruhe. Drei Wochen ohne Verbrechen und Mördern – Klasse! Zuerst zog es ihn zu seinen ehemaligen Kollegen und Freunden nach Ulm, auf die er sich sehr freute und die ihn bereits erwarteten. Dann wollte er nach Pfullingen fahren und dort ein paar Tage verbringen. In Pfullingen besaß er seit einem Jahr ein Haus, das er von einer alten Dame geschenkt bekam. Er hatte Frieda Votteler während eines Falles kennen und schätzen gelernt, auch wenn sie ihn oft zur Weißglut brachte. Anfangs wollte er dieses üppige Geschenk natürlich nicht annehmen und sprach mit seinem Vorgesetzten. Der wollte damit nichts zu tun haben und überließ Leo die Entscheidung. Er beriet sich mit seiner besten Freundin, der Ulmer Pathologin Christine Künstle, die ihm dazu riet: Sei nicht blöd, quatsch nicht lang rum und häng das nicht an die große Glocke. Behalt das Haus für deine Altersvorsorge. Das waren ihre genauen Worte, die Leo beherzigte und das Haus annahm. Seitdem war er weder in dem Haus in Pfullingen gewesen, noch hatte er sich darum gekümmert. Es war noch in dem Zustand, in dem Frieda Votteler das Haus verlassen hatte. Immer wieder schob er die lästige Aufgabe vor sich her. Nun wollte er das Haus räumen und herrichten, um es dann vermieten zu können. Davor grauste ihm, denn das Haus war bis unters Dach vollgestopft.
So sahen seine Pläne für den bevorstehenden Urlaub aus.
Noch wusste er nicht, dass nichts daraus werden würde.
2.
Mit den Gedanken an das Pfullinger Haus und Frieda Votteler fuhr Leo los. Er ließ seine neue Heimat Altötting hinter sich. Als er durch Mühldorf am Inn fuhr, war er keine Sekunde wehmütig. Er wusste, dass er die neuen Kollegen nicht sonderlich vermissen würde. Bis auf seine Vorgesetzte Viktoria Untermaier. Gerne hätte er sie mitgenommen, war aber zu feige, sie zu fragen. Die Beziehung zwischen ihnen war nicht einfach. Er wäre zu einer festen Bindung sofort bereit gewesen, aber Viktoria zögerte. Sie hatte eine schlimme Ehe und eine unangenehme Scheidung hinter sich. Klar war sie misstrauisch. Leo hatte Geduld, irgendwann würde Viktoria offen für eine Beziehung sein.
Leo war schon seit über einem halben Jahr bei der Kriminalpolizei Mühldorf und hatte sich sehr gut eingelebt. Nach einem unschönen Vorfall in Ulm war er hierher versetzt worden. Trotzdem vermisste er nicht nur seine Freunde und ehemaligen Kollegen in Ulm, sondern auch die dortige liebgewordene Umgebung. Vor allem aber die Schwäbische Alb.
Je weiter er sich entfernte, desto mehr verblassten die Erinnerungen an Pfullingen und Frau Votteler, an Mühldorf und die Umstände seiner Versetzung. Er passierte München und sang fröhlich die Lieder auf dem Oldie-Sender mit, die er zu seinem Erstaunen alle kannte. Dieses Jahr stand sein fünfzigster Geburtstag bevor und er hatte doch Bammel vor der magischen Zahl, was er natürlich niemals zugegeben hätte. Früher hielt er alle Menschen über fünfzig für alt. Nicht mehr lange, und er gehörte selbst dazu. Leo fand, dass er sich für sein Alter sehr gut gehalten hatte. Für ihn schien die Zeit stehengeblieben zu sein. Mit seinen 1,90 Meter, der schlanken Figur und den in seinen Augen sehr hippen Klamotten (blaue Jeans, alte Lederjacke, Hemd oder T-Shirt mit dem Aufdruck einer Rockband und Lederstiefel) wirkte er für seine Begriffe sehr jung, obwohl ihn die mittlerweile grauen Haare störten, die er immer ziemlich kurz hielt. Aber Leo blieb dabei: Er war mit Abstand jünger als die gleichaltrigen Männer, die er kannte.
Er fuhr nun auf der A8 an Augsburg vorbei und mehr und mehr stieg die Vorfreude auf seine Freunde und ehemaligen Kollegen.
Stau!
Deutschland war das Land mit den besten Autobahnen. Trotzdem gab es hier die meisten Staus. Leo schüttelte den Kopf über die Unvernunft anderer Fahrer, die versuchten, sich ein paar Meter vorzudrängeln. Wie konnte man sich nur so chaotisch und rücksichtlos verhalten? Nur, um schneller voranzukommen, als alle anderen? Wenn sich der Verkehr staute, konnte man dem Stillstand sowieso nicht entkommen.
Leo war erstaunt über das hohe Verkehrsaufkommen. Er war am heutigen Sonntag extra zeitig losgefahren, damit er sich mit den vielen Lkws nicht herumschlagen musste. Woher zum Geier kamen die ganzen Fahrzeuge um die Zeit? Und woher kamen die vielen Lkws? So viele Ausnahmegenehmigungen konnte es doch nicht geben! Bislang ging es langsam, beinahe im Schneckentempo vorwärts. Plötzlich ging nichts mehr, absoluter Stillstand. Leo suchte einen Sender mit einer Verkehrsdurchsage, um wenigstens den Grund für diesen plötzlichen Stopp zu erfahren. Er hatte keinen Erfolg damit. Er gab auf und schob eine CD ein, denn seit geraumer Zeit wurde die gute Musik von unendlich langweiligem Gequatsche mit einem Promi, den er überhaupt nicht kannte, unterbrochen. Das nervte ihn tierisch. Er reckte und streckte sich, nahm einen Schluck Wasser und wartete. Nach einer gefühlten Ewigkeit wurde er immer ungeduldiger. Sein Ziel war nicht mehr weit, nur noch knapp dreißig Kilometer. Leo beobachtete die anderen Verkehrsteilnehmer vor ihm, die sich die Beine vertraten, telefonierten und sich unterhielten. Ob er auch aussteigen sollte?
Dann ging es endlich weiter. Zwar langsam, aber immerhin. Nach einigen Kilometern sah Leo schließlich den Grund des Staus: Eine Baustelle! Ein riesiges Schild informierte die Bürger über den Umfang und die Notwendigkeit, sowie über den Fertigstellungstermin, an dem Leo seine Zweifel hatte. Man brauchte doch nur an den neuen Flughafen in Berlin denken! Leo war sauer. Natürlich ging es bei diesem Stau um eine Baustelle, Deutschland war schließlich ein Land der Autobahn-Baustellen! Irgendwann passierte er die Baustelle und konnte es nicht glauben: Die wenigen Arbeiter standen nur rum und kein Fahrzeug bewegte sich. Typisch! Natürlich war heute Sonntag, aber das Hinweisschild machte deutlich, dass die Arbeiten rund um die Uhr und an sieben Tagen in der Woche durchgeführt wurden. Alles zum Wohle der Bürger und für einen reibungslosen, fließenden Verkehrsfluss. Lächerlich! Es war jetzt kurz vor halb zwölf – schon Mittagszeit? Leo ärgerte sich und fluchte, denn schon oft kam er an solche Autobahnbaustellen vorbei, auf denen er wenige oder überhaupt keine Arbeiten feststellen konnte.
Nun erreichte er endlich seine Autobahnausfahrt, hatte nur noch wenige Kilometer vor sich und ärgerte sich jetzt über seine Ungeduld auf der Autobahn. Er hatte schließlich Urlaub und jede Menge Zeit. War er schon zu so einem Grantler geworden, der sich über alles und jeden ärgerte? Leo nahm sich fest vor, an seiner Geduld und Einstellung zu arbeiten! Seine Laune besserte sich merklich und er pfiff und sang die Lieder auf seiner CD mit. Die Umgebung kam ihm sehr vertraut vor und sofort fühlte er sich zuhause. Als er das Ortsschild Ulm passierte, musste er unwillkürlich hupen. Endlich zuhause! Er fuhr in die Einfeldstraße und sah seine Freundin Christine Künstle schon von weitem. Sie schien ungeduldig zu warten, denn sie lief hektisch hin und her und hatte die Arme in die fülligen Hüften gestemmt. Ein sicheres Zeichen dafür, dass sie sich Sorgen machte. Als sie Leos Wagen erkannte, winkte die zweiundsechzigjährige Frau mit den kurzen brauen Haaren hektisch, wobei sich ihre Gesichtszüge entspannten. Nun strahlte sie übers ganze Gesicht. Leo parkte, stieg aus und rannte zu Christine, nahm sie in die Arme und wirbelte sie übermütig durch die Luft. Sie schrie und lachte.
„Lass mich sofort runter, du verrückter Kerl. Was fällt dir ein? Wo bleibst du denn so lange? Ich habe mir Sorgen gemacht.“
„Diese blöde Baustelle hat mich fast eine Stunde gekostet. Wenn ich das gewusst hätte, wäre ich über die Bundesstraße gefahren.“
„Schwamm drüber, jetzt bist du ja da. Komm rein, ich habe Essen gemacht, dein Gepäck kannst du später holen.“
Sie zog Leo mit sich, der gerade noch seinen Wagen mit der Fernbedienung zusperren konnte. Es gab Maultaschen und Kartoffelsalat, was Leo als gebürtiger Schwabe nicht nur sehr liebte, sondern auch seit Monaten nicht mehr gegessen hatte. Er langte kräftig zu. Während sie aßen, berichtete Christine über Neuigkeiten bei der Ulmer Polizei und den vertrauten Kollegen, die Leo heute Abend zu sehen bekam, denn Christine hatte sie alle eingeladen: Die hübsche, schlagfertige und sehr intelligente Anna Ravelli, mit der Leo sehr gerne zusammengearbeitet hatte. Dann Stefan Feldmann, Leiter der Spurensicherung Ulm, ein wahres Genie in seinem Job. Er war mit Anna liiert, die beiden gaben ein wunderschönes Paar ab. Und natürlich Ursula Kußmaul. Die dreißigjährige, kleine, untersetzte Frau mit der dicken Hornbrille war völlig durchgeknallt und strotzte vor Selbstbewusstsein. Ihre Schlagfertigkeit und ihr loses Mundwerk waren legendär. Sie musste aufgrund eines Unfalls unförmige Gesundheitsschuhe tragen, was ihr aber nichts ausmachte. Ihre Kleidung war kunterbunt und sehr auffällig. Wegen ihrer vielen Narben am Kopf, die sie immer an viele Operationen erinnerten, trug sie täglich die verrücktesten Kopfbedeckungen, die nie zum Rest der Kleidung passten. Leo hatte Ursula Kußmaul bei seinem letzten Fall in Ulm kennen- und schätzen gelernt. Sie war wegen seiner Versetzung fest ins Team aufgenommen worden.
Nachdem Leo seine Sachen geholt und in dem extra für ihn hergerichteten Gästezimmer eingeräumt hatte, machten die beiden einen ausgedehnten Spaziergang durch Ulm. Sie tranken Kaffee und besuchten liebgewonnene Plätze der Vergangenheit. Leo fühlte sich sehr wohl. Wollte er jemals wieder zurück? Hier war er zuhause und hier gehörte er hin.
„Wir müssen zurück, es ist schon kurz nach fünf, in einer Stunde kommen die anderen.“
Leo und Christine richteten den Tisch im Wohnzimmer her. Christine hatte Häppchen und Schnittchen, sowie reichlich Getränke besorgt. Endlich klingelte es. Die Gäste kamen gemeinsam, vorsorglich mit einem Taxi.
Sie begrüßten sich alle herzlich. Sie lachten, schwatzten und Leo fühlte sich pudelwohl. Erst weit nach Mitternacht und reichlichem Alkoholkonsum verabschiedeten sie sich. Es war klar, dass sie sich alle in den nächsten Tagen noch sehen würden, und zwar mehrfach.
Leo hatte sich mit dem Alkohol zurückgehalten. Er wollte auf jeden Fall am nächsten Tag ganz früh raus, um dann über seine geliebte Schwäbische Alb zu wandern. Natürlich nur, wenn das Wetter auch mitspielte, denn die Vorhersagen waren nicht sehr berauschend. Er stellte seinen Wecker auf fünf Uhr.
Er war schon vor dem Klingeln wach. Beschwingt sprang er aus dem Bett, zog sich an, nahm den gepackten Rucksack und verließ das Haus. Es war zwar stark bewölkt, aber es regnete nicht, was Leo vollauf genügte. Er fuhr los. Unterwegs holte er sich einen Kaffee und ein Croissant bei einem Bäcker, bei dem er sich schon früher mit Frühstück eingedeckt hatte und wo er auch sofort wiedererkannt und freundlich begrüßt wurde. Sie hatten ihn nicht vergessen. Mit einem guten Gefühl fuhr er schließlich über die Schwäbische Alb, öffnete trotz der Kälte das Fenster und sog die frische Luft tief ein. Ja, diese Luft gab es nur hier. Zielsicher steuerte er einen ganz bestimmten Parkplatz an, den er kurz nach sechs Uhr erreichte. Er sprang aus dem Wagen und sog die Luft nochmals tief ein. Endlich war er wieder hier!
Es war noch nicht richtig hell, nur langsam erwachte die Natur. Außer ihm war niemand auf dem Parkplatz. Nachdem er sich die Wanderschuhe und die Jacke angezogen hatte, nahm er seinen Rucksack, schaltete sein Handy aus und lief los.
Nach einer guten Stunde begann es zu nieseln, nach einer weiteren Stunde regnete es richtig, was aber Leos Laune keineswegs beeinflusste. Er setzte sich unter eine dichte Tanne, machte Brotzeit und schloss die Augen. Das Geräusch der Regentropfen, die Vögel, die trotzdem munter pfiffen, und natürlich die absolute Stille und Ruhe taten ihm unendlich gut. Dann hörte es auf zu regnen. Anstatt umzukehren, lief er weiter, das Wetter konnte ihm nichts anhaben.
Erst am späten Nachmittag war er erschöpft, klatschnass und unendlich zufrieden wieder an seinem Wagen. Er wechselte die Kleidung und Schuhe, legte eine Led-Zeppelin-CD ein und fuhr zurück.
Beim Einbiegen in die Einfeldstraße sah er Christine auf der Straße, die abermals ungeduldig zu warten schien. Er parkte und stieg aus.
„Endlich. Was ist mit deinem Handy los? Seit Stunden versuchen wir, dich zu erreichen.“ Christine war stinksauer.
„Das Handy schalte ich immer aus, wenn ich wandern gehe. Ist etwas passiert?“
„Seit heute Mittag ruft immer wieder eine Frau auf dem Präsidium an, die dich unbedingt sprechen muss. Ursula sagt, es ist sehr dringend.“
„Welche Frau? Wer will mich sprechen?“ Leo dachte an Viktoria und lächelte. Dann wurde er misstrauisch. Christine kannte alle Frauen in seinem Umfeld und hätte längst den Namen genannt, offensichtlich war es eine Fremde.
„Jetzt steh nicht blöd da, ruf Ursula sofort an.“
Leo wählte die Nummer seiner früheren Kollegin, die sich nach dem ersten Klingeln meldete.
„Kußmaul!“, brüllte sie ins Telefon.
„Hier ist Leo. Ich soll mich bei dir melden.“
„Endlich! Deine Frau ruft seit Stunden an, sie muss dich dringend sprechen, sie klang verzweifelt. Sie hat mir eine Nummer gegeben, unter der sie zu erreichen ist. Nach der Vorwahl zu urteilen, ist sie im Ausland. Hast du was zu schreiben?“
Seine Frau? Leo hatte sich bestimmt verhört.
„Hast du gesagt, meine Frau möchte mich sprechen?“
„Ja. Sie sagte, sie sei deine Frau. Ihr Name ist Kerstin.“
Leo war sprachlos, denn seine geschiedene Frau hieß tatsächlich Kerstin. Was war hier los? Was wollte sie von ihm? Seit über sieben Jahren waren sie geschieden und er hatte seither nichts mehr von ihr gehört.
„Bist du noch dran? Hast du etwas zu schreiben?“
Ursula Kußmaul wurde ungeduldig. Se hatte noch eine Vernehmung vor sich, die sich bis weit in die Nacht ziehen würde.
Leo ging ins Haus, Christine folgte ihm. Aus seiner Jackentasche nahm er einen Kugelschreiber und ein Stück Papier. Das war sein Kontoauszug, aber das war jetzt gleichgültig.
„Gib mir die Nummer.“
Leo notierte sich die Nummer und war sich nicht ganz sicher, ob er auch richtig verstand. Er fragte mehrfach nach, aber Ursula bestätigte. Er bedankte sich, starrte lange auf den Zettel und sah dann Christine an, die neben ihm stand.
„Sieh dir die Nummer an. Die Vorwahl 0030 – das ist in Griechenland. Wenn das wirklich meine Exfrau ist, was zum Teufel will sie von mir?“
„Vielleicht braucht sie deine Hilfe. Worauf wartest du? Ruf an, dann wirst du es erfahren.“
Christine machte keine Anstalten, das Zimmer zu verlassen, als Leo die Nummer wählte. Es brauchte lange, bis sich endlich eine Frau meldete. Leo erkannte sie sofort an der Stimme: Das war Kerstin, die ihm vor über sieben Jahren das Herz gebrochen hatte. Sie war auch der Grund, warum er sich von Karlsruhe nach Ulm versetzen ließ, denn er wollte ihr und ihrem neuen Partner auf keinen Fall über den Weg laufen.
„Ich bin es, Leo.“
Er wartete ab, überließ es ihr, zu sprechen.
„Endlich! Ich habe so sehr auf deinen Anruf gewartet. Ich brauche dringend deine Hilfe, Leo.“
Sie klang sehr verzweifelt und Leos Magen zog sich zusammen.
„Was ist passiert?“
„Mein Sohn Marcel ist verschwunden und ich weiß nicht, was ich machen soll.“
Leo konnte sie sehr schlecht verstehen, denn sie sprach sehr leise, schluchzte und weinte. Die Tatsache, dass sie einen Sohn hatte, war für ihn neu und schockierte ihn. Warum, wusste er selbst nicht.
„Bitte beruhige dich und erzähl ausführlich. Fang von vorn an.“
„Wir sind mehrmals im Jahr in Griechenland auf der Insel Kos, mein Mann Anton hat hier schon seit vielen Jahren ein Haus und ein Boot. Seit gestern Vormittag ist mein Sohn verschwunden. Er spielte am Strand mit anderen Kindern, während ich ein Buch las und ihn immer im Auge hatte. Auf einmal war er weg, spurlos verschwunden. Die anderen Kinder sagten, er wollte die Frisbeescheibe holen – und kam nicht mehr wieder. Natürlich habe ich sofort die Polizei informiert, aber ich habe nicht das Gefühl, dass die wirklich etwas unternehmen. Sie haben mich nur vertröstet, nicht einmal Daten notiert.“
Leo verstand nicht, wie er dabei helfen könnte und was sie von ihm wollte.
„Hier stimmt was nicht, Leo. Ich habe ein sehr ungutes Gefühl. Meinen Mann kann ich nicht erreichen. Er fuhr gestern mit dem Boot geschäftlich in die Türkei. Bitte hilf mir, Leo. Du bist doch Polizist und weißt, was man in so einem Fall macht. Ich möchte meinen Sohn zurück und bitte dich inständig, ich flehe dich an, mir zu helfen.“
„Kerstin hör mir zu. Es tut mir sehr leid, dass dein Sohn verschwunden ist und was du durchmachen musst. Ich würde dir wirklich gerne helfen. Ich habe in Griechenland keinerlei Befugnisse und wüsste nicht, wie ich dir helfen könnte. Vor allem verstehe ich nicht, warum du gerade mich um Hilfe bittest.“
„Weil Marcel dein Sohn ist, Leo.“
3.
Die Worte seiner Exfrau hallten in seinem Kopf. Er hatte einen Sohn, von dem er nichts wusste? So grausam konnte seine Exfrau doch nicht sein. Warum hatte sie ihm das Kind die ganzen Jahre vorenthalten? Wusste ihr Mann davon? Wo war das Kind? War es in Gefahr?
Die Fragen schwirrten durch seinen Kopf. Er hatte sich die Adresse auf Kos notiert und für ihn stand fest: Er musste mit dem nächsten Flugzeug nach Kos und seinen Sohn suchen.
„Komm erst mal zu dir, Leo, du bist ja völlig durcheinander.“
Christine hatte sofort verstanden, was Leo eben gehört und zu verarbeiten hatte. Und natürlich unterstützte sie ihn in seinem Vorhaben, umgehend nach seinem Sohn zu suchen. Aber sie musste ihn bremsen, damit er besonnen und nicht völlig planlos vorging. Sie schenkte ihm einen Schnaps ein, den sie ihm beinahe einflössen musste. Auch sie musste Zeit gewinnen, um zu überlegen, wie sie Leo helfen konnte und was das Klügste wäre. Langsam bekam Leo wieder Farbe im Gesicht.
„Ich habe einen Sohn, Christine. Kannst du dir das vorstellen?“ schrie er beinahe. Er hatte sich immer Kinder gewünscht, aber nicht so.
„Natürlich kann ich mir das vorstellen, warum auch nicht? Wobei die Umstände sehr ungewöhnlich sind und ich nicht verstehen kann, warum deine Exfrau darüber geschwiegen hat. Normalerweise stehen Mütter wegen des Unterhaltes beim Kindsvater sofort auf der Matte. Schwamm drüber, sie wird schon ihre Gründe gehabt haben und du wirst sie direkt von ihr erfahren. Wir dürfen jetzt nichts überstürzen und müssen Schritt für Schritt vorgehen. Du gehst duschen, du stinkst fürchterlich. Und ich kümmere mich inzwischen um einen Flug und ein Hotel, denn bei deiner Exfrau und ihrem Mann kannst du ja schlecht übernachten.“
Wie ferngesteuert nickte Leo und ging ins Bad. Er war immer noch völlig durcheinander. Die Dusche tat ihm gut. Nachdem er das heiße Wasser auf kalt eingestellt hatte, konnte er wieder einigermaßen klar denken. Er zog sich an und ging zu Christine ins Wohnzimmer, die eben ein Telefongespräch beendet hatte.
Die Frau war wirklich ein Schatz, er konnte sich in allen Lebenslagen voll und ganz auf sie verlassen.
„Heute geht kein Flug mehr nach Kos. Ich habe dir für morgen früh ein Ticket hinterlegen lassen, der Flug ist um 5.50 Uhr. Ein Hotelzimmer habe ich ebenfalls gebucht, hier ist die Adresse.“
Dass nur noch in einem der teuersten Hotels Zimmer frei waren, verschwieg sie ihm lieber, denn sonst hätte er sich noch mehr aufgeregt. Schließlich kannte sie die schwäbische Sparsamkeit. Das Geld war jetzt zweitrangig.
Sie reichte Leo einen Zettel, den er ohne zu lesen in seine Brieftasche schob. Er ärgerte sich, dass er bis morgen früh warten musste und lief nervös im Zimmer auf und ab. Am liebsten wäre er sofort aufgebrochen.
„Setz dich bitte, heute kannst du nichts mehr erreichen. Du machst mich wahnsinnig mit deiner Nervosität.“
Christine fühlte mit Leo. Sie konnte sich vorstellen, wie es in ihm aussah. Diese Kerstin würde sie am liebsten schütteln und ihr eine scheuern, denn so durfte man mit einem Kindsvater nicht umgehen. Vor allem nicht mit Leo. So verworren und schwierig manche Situationen auch sein mochten, war sie immer für klare Verhältnisse gewesen, auch wenn diese noch so unangenehm waren. Für sie gab es nur absolute Offenheit. Lügen, Intrigen und Geheimnisse waren ihr fremd. Sie konnte kaum zusehen, wie Leo litt. Warum hatte ihm die Exfrau das angetan? Christine kannte Leo sehr gut, er hätte alles für sein Kind getan.
„Wie alt ist dein Sohn? Wie heißt er?“ Die Fragen sprudelten aus Christine heraus, worauf Leo kaum eine Antwort hatte. Er kannte nur den Namen: Marcel. Was für ein wunderschöner Name. Wie er wohl aussah? Sah er ihm ähnlich?
„Ich rufe Kerstin nochmal an, ich muss mit ihr sprechen. Zu viele Fragen sind unbeantwortet und belasten mich. Ich kann nicht bis morgen auf Antworten warten.“
Christine wollte ihn davon abhalten, denn solche Dinge gehörten ihrer Meinung nach persönlich besprochen, nicht am Telefon. Aber sie kannte Leo so gut, er würde sich nicht davon abhalten lassen. Er wählte, aber es meldete sich niemand. Beinahe alle zwei Minuten versuchte er, seine Exfrau zu erreichen. Ohne Erfolg.
„Das ist doch nicht normal. Was ist da los?“
„Dafür gibt es sicher eine ganz einfache Erklärung. Erwartest du von ihr, dass sie rund um die Uhr am Telefon sitzt? Warte bis morgen, dann wirst du alles erfahren. Du musst lernen, geduldiger zu sein.“
Christine verstand ihn. An seiner Stelle würde sie auch nicht warten wollen. Aber irgendwie musste sie Leo beruhigen, den sie noch niemals in so einem Zustand erlebt hatte. Sie war darüber sehr erschrocken, wollte sich das aber nicht anmerken lassen. Sie ging in die Küche und machte etwas zu Essen, wodurch sie sich ablenken konnte.
Sie saßen schweigend zusammen und aßen, wobei Leo nur in seinem Teller rumstocherte. Christine wollte ihn aufheitern, wusste aber nicht, wie sie das anstellen sollte. Ein Blick in seine Augen und sie bekam eine Gänsehaut.
„Iss! Du musst bei Kräften bleiben. Wer weiß, was dich auf Kos erwartet.“
Leo wusste, dass Christine Recht hatte und zwang sich, einige Bissen zu essen. Nach zweiundzwanzig Uhr klingelte es an der Haustür.
„Erwartest du Besuch?“
Christine ging zur Tür und öffnete, sie schien nicht überrascht. Die Unterbrechung kam ihr sehr gelegen, denn sie hatten stundenlang immer und immer wieder alle Möglichkeiten durchgesprochen, ihr rauchte der Kopf.
Es war Ursula Kußmaul, die heute in den unterschiedlichsten Lilatönen gekleidet war. Der gelbe Hut und die grüne Tasche stachen sofort ins Auge. Ursule grüßte knapp und setzte sich Leo gegenüber. Er war überrascht und sah erst sie und dann Christine an.
„Was machst du hier um diese Uhrzeit?“
Natürlich hatte Leo bemerkt, dass Christine den Besuch zu erwarten schien. Was war hier los?
„Ich bin die Feuerwehr und möchte helfen“, rief Ursula lachend aus und zog ihren Hut vom Kopf. Sie war eine Frohnatur, die so leicht nichts aus der Bahn werfen konnte. Als sie Leos Gesichtsausdruck bemerkte, ruderte sie einen Gang zurück. Ihre Scherze waren hier wohl nicht gewünscht. „Was werde ich hier wohl machen? Christine hat mich angerufen und mich um Hilfe gebeten. Und voilà, da bin ich. Die Vernehmung, die ich bis eben noch hatte, war sehr erfolgreich, der Typ hat gesungen wie ein Vögelchen. Dabei dachte ich eigentlich, dass das eine ganz harte Nuss ist. Aber jetzt bin ich hier.“
Leo war irritiert und verstand kein Wort.
„Ich habe Ursula angerufen, ich kann dich auf keinen Fall alleine nach Kos schicken. So, wie du dich verhältst, kannst du nicht klar denken. Ich bin zu alt für solche Geschichten und wäre dir nur ein Klotz am Bein. Meine Knie spielen nicht mehr mit und die Hitze auf Kos würde mich an den Rand eines Herzinfarktes bringen. Ich werde eben alt.“ Sie machte eine kleine Pause. Sie kannte Leo und ihr war klar, dass ihm ihr Alleingang überhaupt nicht schmeckte. Aber es war jetzt nun mal so, wie es ist. Sie hatte eigenmächtig hinter seinem Rücken gehandelt und stand auch dazu. „Ich habe mich daran erinnert, dass Ursula einige Zeit in Griechenland verbracht hat und daher die Sprache ziemlich gut spricht. Sie hat Urlaub genommen und wird dich begleiten.“
„Wie bitte?“ schrie Leo.
„Ich spreche nicht nur Griechisch, sondern bin auch mit der Mentalität der Menschen dort vertraut. Außerdem kenne ich mich auf Kos sehr gut aus. Ach, war das eine schöne Zeit, ich könnte euch Geschichten erzählen. Die sind nicht ganz jugendfrei. Da gab es einen kleinen Griechen, einige Jahre älter als ich, …“
Leo unterbrach Ursula. Er interessierte sich nicht für ihre Geschichten und ihr Geplapper. Das war das einzige, das er an Ursula Kußmaul nicht mochte. Er war verärgert über Christines Vorstoß, das hätte sie vorab mit ihm besprechen müssen. Er war kein Kleinkind und hasste es, wenn über seinen Kopf entschieden wurde. Außerdem wollte er die Angelegenheit alleine in die Hand nehmen.
„Das ist zwar lieb gemeint, aber das kann ich nicht annehmen. Das ist eine reine Privatsache und ich will dich auf keinen Fall da hineinziehen. Wer weiß, was dort alles auf mich zukommt. Nein, vielen Dank, aber ich muss dein Angebot ablehnen, so verlockend es auch klingt. Ich fliege alleine und werde schon irgendwie klarkommen.“
Christine schien bereits mit einer solchen Reaktion gerechnet zu haben, stand auf und stemmte die Arme in die Hüften.
„Jetzt hör mir mal gut zu, Leo. Du fliegst auf jeden Fall mit Ursula, keine Widerrede! Wenn du sie nicht mitnimmst, dann werde ich ihren Platz einnehmen. Und das wird kein Vergnügen werden, das kann ich dir versprechen. Wie dumm bist du eigentlich? Hier ist eine junge, sehr fähige Polizistin, die nicht nur die Sprache auf Kos spricht, sondern auch noch Land und Leute kennt. Du müsstest ihr eigentlich auf Knien dafür danken. Und was machst du? Bejammerst dich selber und willst den Helden spielen. Du kannst auf Kos jede Hilfe brauchen und lehnst sie dennoch ab? Bist du total verblödet? Dass dir deine Exfrau deinen Sohn verschwiegen hat, ist tragisch und das tut mir sehr leid. Dass der Junge verschwunden ist, ist doppelt schlimm. Du kannst nicht klar denken. Reiß dich gefälligst zusammen und denke klar und vernünftig.“
Sie sprach ruhig, aber bestimmt, sogar sehr bestimmt. Leo hörte ihr mit offenem Mund zu. Es war still geworden. Christines Standpauke hatte Ursula sehr amüsiert. Sie musste sich beherrschen, um nicht laut loszulachen.
„Wage es ja nicht, eine Begleitung abzulehnen. Wenn du Ursula nicht willst, komme ich mit,“ setzte Christine nach.
Leo lehnte sich zurück und dachte nach.
„Du hast ja Recht, Christine. Ich danke dir, dass du dich um mich kümmerst.“ Er stand auf und nahm seine Freundin in die Arme, was ihr sehr gut tat.
Er wandte sich nun Ursula zu und nahm ihre Hand in die seine.
„Vielen Dank Ursula, ich nehme deine Hilfe sehr gerne an. Deine Sprach- und Ortskenntnisse kann ich sehr gut gebrauchen. Ich weiß nicht, wie ich dir das danken soll.“
„Keine Sorge, da wird mir schon etwas Passendes einfallen. Schluss mit der Gefühlsduselei. Ich habe eine Karte von Kos mitgebracht“, sagte sie, kramte in ihrer riesigen, plüschigen grünen Tasche, rückte den Sessel näher an den Couchtisch und breitete die Karte auf dem Tisch aus. „Hier ist die Adresse, die dir deine Exfrau genannt hat,“ sie malte mit einem Leuchtstift ein dickes Kreuz auf die Karte. „Christine war so schlau, uns in dieses Hotel einzuquartieren. Das ist keinen Kilometer entfernt. Ich habe uns einen Leihwagen reserviert, der für uns morgen am Hotel bereitsteht. Ich würde vorschlagen, dass wir nach der Landung mit dem Taxi ins Hotel fahren, unsere Koffer abstellen und dann sofort zu deiner Exfrau fahren. Wenn dein Sohn seit gestern verschwunden ist, dürfen wir keine Zeit verlieren. Das wäre mein Vorschlag. Ist das für dich in Ordnung?“
Leo war begeistert. Er hatte tatsächlich nicht an einen Leihwagen und einen Zeitplan gedacht. Ursula war nicht nur gut vorbereitet, sondern war bereits aktiv. Außerdem kannte sie auch schon die Adresse seiner Exfrau und die des Hotels, worum er sich bislang noch nicht gekümmert hatte. Wie lange hatten die beiden Frauen miteinander telefoniert?
„Selbstverständlich bin ich einverstanden.“
„Dann würde ich jetzt gerne etwas über deine Frau erfahren. Du kennst das ja, erzähl einfach drauf los.“
„Sie ist ein disziplinierter, intelligenter, gebildeter Mensch. Außerdem ist sie kontaktfreudig, sehr zielstrebig, fleißig und hatte schon immer den Drang, mehr aus ihrem Leben zu machen. Sie interessiert sich für Kunst und Musik, vor allem italienische Musiker haben es ihr angetan. Kerstin achtete früher sehr auf ihre Figur, ging regelmäßig ins Fitnessstudio und in ihre Yoga-Stunden. Vor über sieben Jahren haben wir uns scheiden lassen. Der Grund war ein Mann, den sie in ihrem Fitnessstudio kennengelernt hatte.“
„Was weißt du über den Mann?“
„Nicht viel. Er ist ein Geschäftsmann aus Karlsruhe. Was er genau macht, weiß ich nicht und hat mich auch nicht interessiert.“
„Wie weit traust du deiner Exfrau?“
„Nicht mal von hier bis zur Tür. Aber wenn Kerstin verzweifelt ist und um Hilfe bittet, dann muss sie tief in der Klemme stecken. Sie ist eine taffe Frau und kann sich sehr gut selber helfen.“
„Dann habe ich jetzt schon ein ungefähres Bild von ihr. Wobei wir nicht die Tatsache außer Acht lassen dürfen, dass sie dir deinen Sohn verschwiegen hat, was nicht gerade für sie und ihren Charakter spricht. Wir wissen nicht, ob ihr Mann weiß, dass er nicht der leibliche Vater ist. Ich fahre jetzt nach Hause, ich bin hundemüde und würde mich gerne nach dem anstrengenden Tag noch ein paar Stunden hinlegen. Morgen erzähle ich dir von dem interessanten Fall, den ich heute abschließen konnte. Wir haben während des Fluges jede Menge Zeit. Ich werde auch noch packen müssen. Wann holst du mich ab?“
„Der Flug startet um 5.50 Uhr, ich hole dich um halb drei ab. Dann haben wir genug Zeit, um zum Flughafen zu fahren und dort noch etwas zu frühstücken.“
„Das käme mir sehr entgegen, denn von dem Fraß im Flugzeug wird mir schlecht. Wenn ich schon von weitem die lappigen Brötchen sehe, werde ich immer an Styropor erinnert und bekomme sofort Zahnschmerzen. Also gut, bis später. Leg dich hin und versuche zu schlafen, du siehst echt beschissen aus, Leo.“
„Ich bin mir nicht sicher, ob ich das Geplapper lange ertrage. Ursula quasselt ohne Punkt und Komma. Allerdings muss ich zugeben, dass ihre gute Laune ansteckend ist.“
„Sei froh, dass sie dich begleitet.“
Leo packte einige wenige Kleidungsstücke und Waschartikel ein. Sein Koffer war nur halb voll. Er konnte nicht schlafen, wartete ungeduldig und lief im Wohnzimmer auf und ab, bis es endlich zwei Uhr war.
Christine war durch Leos Lärm aufgewacht. Sie hatte erstaunlicherweise gut geschlafen, denn sie wusste Leo in guten Händen. Natürlich wollte sie es sich nicht nehmen lassen, sich von Leo zu verabschieden. Sie drückte ihn fest an sich und ärgerte sich, dass sie nicht einige Jahre jünger war und ihn begleiten konnte. Jetzt konnte sie nur hier sitzen und warten.
„Ich wünsche dir alles Gute und viel Glück. Keine Sorge, du findest deinen Sohn im Handumdrehen, und zwar gesund und munter. Melde dich ab und zu, damit ich mir keine Sorgen machen muss.“
Sie zog sich einen Bademantel über und ging mit Leo vor die Tür, drückte ihn nochmals fest und sah seinem Wagen noch lange nach. Natürlich sorgte sie sich jetzt schon. Sie hätte ihn sehr gerne begleitet, aber sie fühlte sich in letzter Zeit nicht wohl und befürchtete, dass sie Leo nur eine Last sein würde. Außerdem wollte sie ihre Pathologie nicht diesem Stümper von Kollegen überlassen, der seit einiger Zeit bei ihr arbeitete. Ihre Pensionierung stand bevor und der Kerl wollte doch tatsächlich ihren Platz einnehmen, was sie um jeden Preis so lange wie möglich hinauszögern musste. Er war in ihren Augen noch lange nicht so weit, um ihre Pathologie zu übernehmen und sie wollte die ihr verbleibende Zeit unbedingt nutzen, um ihm noch so viel wie möglich beizubringen. Sie sah auf die Uhr: kurz vor halb drei. Sie legte sich wieder ins Bett und fand lange keinen Schlaf, denn die Gedanken und Sorgen um Leo und Ursula brachten ihr keine Ruhe.
Ursula stand mit zwei gepackten Koffern und einer vollgepackten Tasche bereits auf der Straße und winkte wie eine Verrückte. Sie trug einen babyblauen Jogginganzug, den sie immer anzog, wenn sie flog. Um die reichlichen Hüften hatte sie ein rosafarbenes Tuch geschlungen, das sie zur Not um die Schultern legen oder als Decke benutzen konnte. Auf dem Kopf hatte sie eine pinkfarbene Baseballmütze, deren Schild sie nach Belieben zum Schutz gegen die Sonne oder zum Schlafen herunterklappen konnte. Sie reiste gerne bequem und war für alle Eventualitäten gewappnet. Leo musste über diese völlig durchgeknallte Frau lachen. Sie scherte sich einen Dreck um die Meinung anderer und machte nur das, was sie wollte.
„Um Gottes Willen. Was hast du denn dabei?“
Leo war sprachlos, mit so viel Gepäck hatte er nicht gerechnet. Den großen Koffer verstaute er neben seinem eigenen im Kofferraum, den etwas kleineren und die große Tasche füllten beinahe den ganzen Rücksitz.
„Frauen brauchen nun mal viel Gepäck. Außerdem weiß ich nicht, wie das Wetter dort ist und wollte auf jeden Fall für jede Eventualität gerüstet sein.“
„Das kostet Übergepäck, das ist dir hoffentlich klar?“
Leo würde niemals für so etwas freiwillig Geld bezahlen. Lieber würde er tagelang in den gleichen Klamotten herumlaufen, oder sich am Urlaubsort neue kaufen, die es zuhauf in den üblichen Läden für Touristen gab.
„Wir werden sehen. Um das Problem kümmere ich mich erst, wenn es auch eins ist. Lass uns fahren.“
Auf den Straßen war um die Uhrzeit nicht viel los und sie kamen gut voran. Ursula war putzmunter und erzählte von ihrem gestrigen Arbeitstag in den tollsten Farben. Leo schaltete irgendwann auf Durchzug und hörte nicht mehr zu. Am Münchner Flughafen parkten sie den Wagen und gingen zu ihrem Terminal. Schon von weitem sahen sie den Schalter ihrer Fluggesellschaft und steuerten darauf zu. Die freundliche Dame lächelte ihnen entgegen.
„Guten Morgen, was kann ich für Sie tun?“
„Leo Schwartz und Ursula Kußmaul. Für uns wurden Tickets nach Kos hinterlegt.“
Sie tippte in ihren Computer.
„Hier haben wir sie, bezahlt wurden sie schon. Bitteschön! Checken sie dort hinten ein.“
Leo bedankte sich. Bei seiner Rückkehr musste er Christine unbedingt das Geld für die Tickets geben, er hatte gestern nicht daran gedacht.
„Ihr Gepäck ist zu schwer, pro Person sind nur zwanzig Kilo erlaubt!“
Die Ansage der Dame kam monoton, beinahe unfreundlich.
„Haben Sie schlecht geschlafen oder warum sind Sie so pampig? Es ist mir durchaus bewusst, dass mein Gepäck zu schwer ist. Ich bezahle die Mehrkosten gerne. Wenn Sie mir bitte sagen würden, was ich zu bezahlen habe?“
Die Frau starrte Ursula erschrocken an, fing sich dann wieder und war von nun an sehr freundlich und kooperativ.
„Sie reisen gemeinsam. Sie haben lediglich acht Kilo, das können wir zusammennehmen. Dann sind nur zehn Kilo Übergepäck zu bezahlen. Das wären dann zweihundert Euro.“
Leo hatte interessiert zugehört und war über den hohen Betrag erschrocken und wollte einschreiten. Sicher konnte man diesen Aufpreis irgendwie umgehen. Zu seinem Erstaunen aber hatte Ursula bereits den Betrag aus ihrem Geldbeutel gezogen und bezahlte ohne Murren. Sie nahm den Beleg entgegen und bedankte sich.
„Gehen wir frühstücken? Ich habe einen Bärenhunger. Sieh mal dort hinten, das sieht doch gemütlich und ansprechend aus.“
Sie setzten sich, außer ihnen waren nur wenige Tische belegt. Sie bestellten und die unfreundliche Bedienung notierte gelangweilt die Bestellung, weshalb sich Ursula besonders viel Zeit ließ und die Frau fast wahnsinnig machte.
„So, die ist jetzt wenigstens wach geworden“, lachte Ursula, die sich sehr gerne mit unfreundlichen Menschen auseinandersetzte und ihnen ganz schön zusetzen konnte. Und das, ohne selbst unfreundlich zu sein.
„Bist du eigentlich völlig verrückt geworden, so viel für dein Übergepäck zu bezahlen? Ich bin ja fast aus den Latschen gekippt, als ich gehört habe, dass du zweihundert Euro bezahlen musst. Das ist ja fast so viel wie die Flugkosten. Für das Geld kannst du dir auf Kos jede Menge neue Kleidung kaufen.“
„Nein, das kann ich nicht. In meiner Größe finde ich dort bestimmt nichts, schau mich doch an! Für meine Größe bin ich etwas füllig. Ich habe kurze, dicke Arme, die nicht in Normkleidung passen. Und meine Schuhe sind Spezialanfertigungen, die finde ich auf Kos auf keinen Fall. Nein, ich fand das relativ günstig. Außerdem ist es nur Geld, davon habe ich genug.“
„Wie meinst du das?“
„Erst einmal habe ich einen tollen Job, in dem man nicht schlecht verdient, das weißt du ja selber. Dann komme ich aus einem reichen Elternhaus, meine Eltern haben in Stuttgart eine Fabrik für Metallteile für die Autoindustrie. Mein Großvater hat die Firma nach dem Krieg gegründet und mein Vater hat sie nach dessen Tod übernommen.“
Leo war verblüfft, denn bislang hatte er den Eindruck gehabt, dass Ursula Kußmaul aus ganz normalen Verhältnissen stammte. Sie und reich? Für ihn kaum vorstellbar.
„Jetzt beruhige dich mal, es ist nur Geld, sonst nichts. Christine hat nicht übertrieben, als sie mir erzählt hat, dass du sehr geizig bist. Ich habe den Umstand, auch als Schwäbin nicht auf den letzten Cent achten zu müssen, meinem Elternhaus zu verdanken, das ist nicht mein Verdienst. Nach allem, was ich in meinem jungen Leben durchmachen musste, habe ich gelernt, dass Gesundheit weitaus mehr wert ist, als alles Geld der Welt.“
„Trotzdem hättest du dieses Detail längst erwähnen können.“
„Warum hätte ich das tun sollen? Das ändert nichts an meiner Person und meinem Charakter.“
Das Frühstück wurde gebracht und Ursula langte kräftig zu. Es gab Zeiten, in denen sie nicht essen konnte und die waren zum Glück vorbei. Sie war gesund und konnte tun und lassen, was sie wollte.
„Trotzdem finde ich die Kosten für das Übergepäck viel zu übertrieben. In deinem Gepäck gibt es sicher Dinge, die man hätte aussortieren können. Frauen packen ihre Koffer sowieso immer viel zu voll.“
„Jetzt beruhige dich, Leo. Wenn ich für mich entscheide, Übergepäck mitzunehmen und auch anstandslos zu bezahlen, dann ist das doch meine Angelegenheit und geht dich überhaupt nichts an. Ich muss mich weder vor dir noch vor irgendjemand anderen rechtfertigen. Und jetzt sprechen wir nicht mehr darüber, das Thema ist erledigt.“
Sie unterhielten sich über belanglose Dinge, während Ursula fast alles alleine aufaß. Leo bekam kaum einen Happen hinunter. Er war sehr aufgeregt und konnte es kaum erwarten, dass es endlich losging. Vor allem hatte er Schiss vor dem Flug, denn er flog überhaupt nicht gerne.
Nach dem Frühstück passierten sie die Sicherheitsschleuse, wobei es bei Ursula überall piepte und es eine Ewigkeit zu dauern schien, bis sie endlich durchgelassen wurde. Ihr war das schon bekannt und sie nahm es ruhig hin, sie schien sogar amüsiert. Während den wenigen Minuten hatte sie mit den Sicherheitsbeamten einen Heidenspaß.
„Ich würde wahnsinnig werden, wenn es bei mir an allen Ecken und Enden piepen würde.“
„Durch die vielen Operationen ist nun mal das eine oder andere Metallteil in meinem Körper verblieben, worauf natürlich das Gerät sofort anspringt. Das kenne ich schon und warte schon darauf. Es ist vorgekommen, dass ich sogar die Schuhe ausziehen musste. Engländer und Amerikaner sind in der Beziehung ganz schlimm, sie wollen alles kontrollieren. Wenn die Sicherheitsleute meine deformierten Füße sehen, geben sie sofort Ruhe und winken mich durch. Was glaubst du, was ich alles problemlos in meinen klobigen Schuhen schmuggeln könnte?“
Sie hatte einen so herzerfrischenden, trockenen Humor, dass Leo für einen Moment sogar seine Flugangst vergaß.
Dann war es soweit. Der Flug nach Kos wurde aufgerufen und sie nahmen ihre Plätze ein. Natürlich saßen sie nebeneinander, dafür hatte Ursula gesorgt. Sie rollten zur Startbahn und Leo wurde immer ruhiger und auch blasser. Sein Puls stieg.
„Was ist mit dir? Sag mir nicht, dass ein so großer Kerl Schiss vorm Fliegen hat?“
Leo nickte nur. Er hatte sich bei den wenigen Flügen, die er bislang in seinem Leben überstehen musste, angewöhnt, immer den Blick starr gerade aus zu halten und sich möglichst nicht zu bewegen. Getränke und Essen lehnte er grundsätzlich ab und würde auch nie im Leben in einem Flugzeug zur Toilette gehen. Er saß einfach nur angeschnallt in seinem Sitz, starrte geradeaus und ergab sich seinem Schicksal.
Ursula konnte ihn nicht verstehen, sie flog für ihr Leben gerne. Das war für sie eine sehr angenehme Art, schnell und bequem um die ganze Welt zu reisen. Sie kramte in ihrer quietschgelben, sehr großen Handtasche, die sie verbotenerweise neben sich am Boden platziert hatte, und gab Leo einen Kaugummi. Er winkte dankend ab.
„Nimm schon! Der ist gegen den Druck in den Ohren beim Start, das ist für mich am Unangenehmsten. Und natürlich das schlechte Essen.“ Dass es sich bei ihrem Kaugummi um einen besonderen handelte, der mit beruhigenden, rein pflanzlichen Stoffen versehen wurde, verschwieg sie ihm lieber. Sie war sicher, dass er zum ersten Mal einen Flug genießen würde. Ihr half der Kaugummi immer, wenn sie sich aufregte – was ab und zu vorkam – und sie keine Lust auf Medikamente hatte. Wenn sie einige Minuten kaute, entfaltete sich die gewünschte Wirkung und sie konnte wunderbar schlafen. Sie bezog diese Kaugummis schon seit einigen Jahren aus Holland, da sie in Deutschland nicht erhältlich waren. Es kümmerte sie nicht, welche Stoffe diese Kaugummis genau beinhalteten und dass sie offenbar hier illegal waren. Ihr Arzt wusste Bescheid, hatte ihr sogar dazu geraten. Außerdem halfen sie ihr und das war alles, was sie interessierte. Trotzdem hatte sie vorsorglich die Banderole entfernt und in handelsübliche geschoben, man konnte ja nie wissen.
Ursula hatte Leo von ihrer damaligen Griechenland-Zeit erzählt. Leo interessierte sich nicht dafür, war aber so höflich, ab und zu einen Kommentar abzugeben. Dann blätterte sie in ihren Klatschzeitschriften, die sie aus ihrer großen Handtasche zog. Sie konnte beobachten, wie sich Leo langsam entspannte und dann sogar fast eine halbe Stunde schlief. Das Frühstück, das von der netten Flugbegleiterin angeboten wurde, lehnte sie dankend ab, schließlich hatte sie ausgiebig gefrühstückt. Sie nahm nur einen Orangensaft, der fürchterlich schmeckte. Leo verschlief diese Zeit und Ursula bat darum, ihn nicht zu wecken.
Das Wetter wurde immer besser. Ursula machte jede Menge Fotos. Je näher sie ihrem Ziel kamen, desto aufgeregter wurde sie. Was hatte sie für eine unbeschwerte Zeit auf der griechischen Insel verbracht! Damals war sie nach der überstandenen Krebserkrankung vor den mitleidigen Blicken ihrer Familie und Freunde geflohen. Sie war mit dem Rucksack zwei Wochen durch Griechenland getrampt, wobei sie ihren damaligen Freund kennenlernte. Sie beide reisten gemeinsam und landeten auf Kos, wo sie eine wunderschöne Zeit verbrachten. Die Menschen waren freundlich und offen, keiner sah sie mitleidig an. Es wurden Fragen über ihre Narben gestellt, die sie bereitwillig beantwortete. Wenn die Neugier befriedigt war, wurde nie mehr darüber gesprochen. Hier lernte sie, das Leben zu genießen. Heute wusste sie, dass ihr die Zeit in Griechenland durch sehr schwere Stunden geholfen hatte, von denen sie in den Jahren danach sehr viele durchleiden musste. Aber das war Schnee von gestern. Sie wischte die schlechten Gedanken mit einer Handbewegung einfach weg. Auch eine Geste, die sie auf Kos gelernt hatte.
Die Landung auf dem kleinen Flughafen Kos war perfekt. Leo war aufgewacht und hielt sich am Vordersitz fest. Er war kreidebleich.
„Entspann dich, du hast es gleich geschafft.“
Leo konnte sich nicht entspannen und sehnte den Moment herbei, in dem das Flugzeug endlich gelandet war. Er stand als einer der Ersten auf und konnte es nicht erwarten, das Flugzeug endlich verlassen zu können. Draußen sah er sich erstaunt um. Noch niemals zuvor hatte er so einen kleinen Flughafen gesehen. Der Bus stand parat, um die Passagiere zum Flughafengebäude zu holen. Leo musste lachen, als der Bus anhielt. Diese kurze Strecke hätten sie auch leicht zu Fuß laufen können.
Sie mussten sehr lange auf das Gepäck warten, die Flughafenhalle leerte sich. Leo wurde unruhig.
„Bleib locker, Leo. Unser Gepäck kommt schon noch.“
„Die Busse fahren alle weg. Sieh doch, nur noch einer steht draußen.“
„Wir brauchen keinen Bus, wir nehmen ein Taxi.“
Leo schüttelte den Kopf über diese Verschwendung, sagte aber nichts darauf. Ursula würde sich nicht davon abbringen lassen.
Endlich bekamen sie ihre umfangreichen Gepäckstücke, die sie die wenigen Meter bis zum Ausgang schleppten. Vor dem Flughafengebäude standen einige Taxen und nahmen das, das ihnen wegen ihres Gepäckvolumens am geeignetsten erschien. Ursula gab das Hotel in der Landessprache an, Leo war beeindruckt. Er saß hinten und betrachtete die Landschaft, die immer schöner wurde, je weiter sie sich von dem kleinen Flughafen entfernten. Hatte die Kuh eine Kette am Horn? Erst jetzt bemerkte er, dass um Vieh keine Zäune angebracht waren, sondern die Rinder an den Hörnern angebunden waren. Er musste schmunzeln, das hatte er noch nie zuvor gesehen. Dann wurde er wieder ernst. Hier irgendwo war sein Sohn. Würden sie ihn finden? Wann konnte er ihn in seine Arme nehmen? War er überhaupt noch am Leben? Er musste schwer schlucken, denn bisher ließ er diese Möglichkeit nicht zu.
Nach zwanzig Minuten hatten sie das Hotel erreicht. Ursula hatte sich blendend mit dem Taxifahrer unterhalten. Leo war froh, dass er die lebenslustige Frau an seiner Seite hatte.
Ursula pfiff anerkennend, als sie ausstieg und das Hotel betrachtete. Sofort stürmte ein Page auf sie zu und nahm ihnen das Gepäck ab.
„Nobel, nobel“, rief Ursula erfreut.
Leo ging durch die beeindruckende Hotelhalle und bekam ein mulmiges Gefühl. Das Ganze hier würde ihn ein Vermögen kosten, denn er musste anstandshalber auch die Kosten seiner Kollegin übernehmen. Das riss ein großes Loch in seine Ersparnisse, was jetzt aber nicht wichtig war.
„Du hättest mir sagen können, was das für ein Luxusschuppen ist, dann hätte ich das eine oder andere Kleidungsstück zusätzlich eingepackt“, sagte Ursula lachend.
Sie gingen an die Rezeption, nahmen die Zimmerkarten entgegen und verabredeten sich in einer halben Stunde am Ausgang. Leo wäre zwar lieber sofort aufgebrochen, aber Ursula bestand darauf, sich umzuziehen. In ihrem Jogginganzug, der nur für Reisen benutzt wurde, wollte sie auf keinen Fall losziehen.
Ungeduldig wartete Leo vor dem Ausgang und er war sehr nervös. In wenigen Minuten würde er vor seiner Exfrau stehen, die er einmal sehr geliebt hatte. Vor allem brannte er darauf, Antworten auf seine vielen Fragen zu bekommen.
4.
Leo wollte die kurze Strecke zu der Adresse seiner Exfrau zu Fuß gehen, nahm aber Rücksicht auf Ursula, die nicht gut zu Fuß war und bereits jetzt schon stark schwitzte. Sie trug ein längeres rotes Kleid, das mit einem orangefarbenen Gürtel und einer blauen, riesigen Blume im Dekolleté verziert war. Zum Schutz der Sonne setzte sie sich einen Strohhut auf und nahm ihre quietschgelbe Handtasche vom Morgen, obwohl zu diesem Kleid eine andere Tasche geplant war. Darauf konnte sie jetzt allerdings keine Rücksicht nehmen. Sie konnte und wollte ihren Kollegen nicht länger warten lassen. Der stand bestimmt schon längst ungeduldig in der Lobby.
Leo stand am Wagen, der ihm schon vor einer guten viertel Stunde von einem Mitarbeiter der Autovermietung übergeben wurde. Er hatte dessen Erklärungen zugehört, obwohl er kein Wort verstand, denn der Grieche sprach ein miserables Englisch. Leo hatte mehrfach versucht, ihn darauf aufmerksam zu machen, dass er keine Einführung und Erklärung brauchte, da er mit allen Fahrzeugen problemlos zurechtkam. Vergeblich. Der Grieche sprach ohne Punkt und Komme, wobei er wild mit den Armen gestikulierte. Endlich ließ der Mann ihn allein. Wo war Ursula? Leo fütterte das Navi mit der Adresse seiner Exfrau. Wo war Ursula? Warum brauchte sie so lange? Endlich kam sie und er bemerkte schmunzelnd ihr buntes, beinahe wahllos zusammengewürfeltes Outfit, während er lediglich ein frisches T-Shirt übergezogen hatte. Auch heute prangte das Konterfei eines Rockmusikers darauf, das außer ihm vermutlich kaum jemand kannte.
Während der kurzen Fahrt sprach Ursula ohne Punkt und Komma. Diesmal war Leo keineswegs genervt, sondern war dankbar über die Ablenkung. Er war sehr nervös vor dem Treffen mit seiner Exfrau, was ihn tierisch nervte. Dann standen sie vor einem riesigen Anwesen, das mit einem hohen Zaun und einem imposanten Tor versehen war.
„Alle Achtung! Auf dem Klingelschild steht: „Lechner“. Ist das der Name deiner Exfrau?“
„Keine Ahnung. Aber die Adresse stimmt.“
„Ich fresse einen Besen, wenn ihr das Haus gehört.“
„Das kann ich mir nicht vorstellen, das gehört bestimmt Bekannten.“
Er drückte den Klingelknopf. Kerstin trat aus dem Haus und lief ihnen auf dem gepflegten Plattenweg entgegen. Sie sah umwerfend aus! Sie trug das ehemals lange, blonde Haar nun dunkel und kurz. Die Figur war makellos und das Gesicht war perfekt geschminkt. Das weiße Seidenkleid erinnerte Ursula an eine Schokoladenwerbung aus dem Fernsehen.
„Leo!“ rief sie erfreut. „Wie schön, dass du so schnell kommen konntest.“
Sie öffnete das Tor und gab Leo einen flüchtigen Kuss. Er zitterte. Die Begegnung mit seiner ersten, großen Liebe war für ihn kaum zu ertragen. Es zog ihm den Magen zusammen, ihm wurde schlecht. Er war nervös wie ein Teenager, worüber er sich ärgerte. Er musste sich in Gegenwart seiner Exfrau zusammenreißen.
„Grüß dich. Das ist meine Kollegin Ursula Kußmaul, sie wird uns helfen“, sagte er bestimmt.
An Kerstins Gesicht konnte man erkennen, dass ihr das Aussehen der Frau sehr missfiel. Sie musterte die bunte, dicke, kleine Frau von oben bis unten, was Ursula natürlich bemerkte. Normalerweise hätte sie sofort einen dummen Spruch losgelassen, aber sie wollte es sich mit Leos Exfrau nicht sofort verscherzen. Auch wenn ihr die Frau auf den ersten Blick unsympathisch war. Trotz des offensichtlichen schlechten Starts der Frauen waren beide sehr bemüht, freundlich und charmant miteinander umzugehen.
„Herzlich willkommen, Frau Kußmaul, ich bin Kerstin Lechner.“
„Dann gehört dieses Traumhaus tatsächlich dir?“
„Ja, wir haben es vor einigen Jahren gekauft und sind sehr gerne hier. Kommt doch bitte rein, wir müssen nicht in der Sonne stehen.“
Sie folgten der Frau durch die riesige Eingangshalle, gingen durch ein sehr beeindruckendes Wohnzimmer mit Marmorböden, einer riesigen Polstergruppe und einem bombastischen Kamin, und fanden sich auf einer sehr ausladenden Terrasse mit einem grandiosen Blick aufs Meer wieder. Hier bot ihnen Kerstin Lechner in den teuren Terrassenmöbeln Platz an.
Sie rief einem jungen Mädchen etwas zu, worauf ihnen Kaffee und Wasser gebracht wurde. Ein Hausmädchen hatte sie also auch!
„Sie haben ein sehr schönes Haus, Frau Lechner, so eins würde mir auch gefallen.“
Ursula war schwer beeindruckt, vor allem von dem Blick aufs Meer. Auch wenn ihr das Ganze persönlich eine Spur zu protzig war.
Leo gefiel das Haus zwar auch, aber das interessierte ihn sekundär. Seit seiner Ankunft konnte er kaum den Blick von seiner Exfrau abwenden. Er musste zugeben, dass sie immer noch eine sehr schöne Frau war, der man die Schwangerschaft und die vergangenen sieben Jahre nicht ansah. Sie war mittlerweile fünfundvierzig Jahre alt und führte offensichtlich ein sehr angenehmes Luxusleben. Leo fühlte für einen kurzen Moment Neid in sich aufsteigen, denn dieses Leben hätte er ihr mit seinem Beamtengehalt niemals bieten können. Sie hatte sich verändert. So, wie sie sich bewegte, wie sie in ihrem Stuhl saß und die Tasse Kaffee trank hatte sie sich früher nie gegeben. Schmerzhaft erinnerte er sich an die langen Fernsehabende in Jogginganzügen auf der gemütlichen Couch, bei denen Kerstin niemals so top gestylt und anmutig aussah. Die frühere Kerstin war ihm sehr viel sympathischer, denn er mochte dieses Schickimicki-Getue überhaupt nicht. Auch dieses übertriebene Make-up und das ganze Drumherum war ihm zuwider. Oder war er etwa eifersüchtig? Nein, auf keinen Fall! Er war sich ganz sicher, dass die Kerstin von früher viel natürlicher war und er sie damals viel lieber mochte. Er wischte die Erinnerungen beiseite und unterbrach die Frauen, die sich über irgendeinen Kosmetikkram unterhielten, der ihn überhaupt nicht interessierte. Es war keine Zeit für Smalltalk.
„Warum hast du mir nie von meinem Sohn erzählt?“, platzte er mit seiner ersten Frage heraus, er wollte keine Zeit mehr verlieren.
„Du hast dich überhaupt nicht verändert. Immer noch gerade raus und sofort abklären, was dir wichtig ist. Das ist mir zu intim und ich möchte nicht vor deiner Kollegin darüber sprechen. Vor allem geht es vorrangig darum, meinen Sohn zu finden.“
Leo wiederholte seine Frage, aber Kerstin Lechner machte dicht und ging nicht darauf ein. Ursula gab ihm ein Zeichen, es dabei zu belassen. Schließlich war für die Klärung seiner Fragen immer noch genug Zeit.
„Wo und wann haben Sie Ihren Sohn zuletzt gesehen?“
„Wir waren gestern früh am Strand, und zwar direkt hier unten“, sie zeigte mit dem Finger auf einen wunderschönen Strandabschnitt direkt unterhalb des Hauses, das von hier aus gesehen auf einer leichten Anhöhe stand. Man konnte den Strand durch eine Treppe erreichen, die man von der Terrasse aus sah. „Das kleine Strandstück gehört zum Haus, aber wir lassen natürlich gerne die Kinder aus der Nachbarschaft dort spielen. Mein Mann fuhr mit dem Boot zu einem Geschäftstermin in die Türkei. Das Boot liegt immer hier draußen vor Anker, deshalb haben mein Sohn und ich meinen Mann auch dort unten am Strand verabschiedet. Marcel spielte lange mit anderen Kindern, ich habe mich auf die Terrasse zurückgezogen und habe gelesen. Ich hatte meinen Sohn immer im Blick. Ich wurde erst unruhig, als die Kinder nach meinem Sohn riefen. Nach Aussagen der Kinder ist Marcel einer Frisbeescheibe hinterher und kam nicht wieder. Er ist dort hinten verschwunden. Ich kann mir das nicht erklären.“ Sie schniefte leise in ihr Taschentuch.
„Was haben Sie unternommen? Sie haben doch sicher nach ihm gesucht?“
„Selbstverständlich! Ich bin stundenlang herumgelaufen, habe den ganzen Strand von hier“ – wieder zeigte sie mit den Fingern – „bis hier abgesucht. Dabei rief ich immer wieder seinen Namen. Leider vergeblich, er blieb verschwunden. Natürlich habe ich auch alle möglichen Leute am Strand angesprochen. Ich habe Nachbarn und Passanten auf der Straße angesprochen. Niemand hatte meinen Sohn gesehen. Irgendwann gab ich auf. Ich habe mich an die hiesige Polizei in Kos-Stadt gewandt und bat um Hilfe. Aber der diensthabende Polizist hat mich beruhigt und sah offensichtlich keine Veranlassung, etwas zu unternehmen. Erst nach zwei Tagen wird die Polizei in solchen Vermisstenfällen aktiv, ist das zu fassen? Inzwischen kann doch wer weiß was passiert sein! Ich habe gebettelt, gedroht, habe sogar Geld geboten. Aber die Polizei tut nichts, die können wir vergessen.“
Sie weinte leise in ihr Taschentuch und Leo erschrak, denn so kannte er sie nicht. Wenn sie früher weinte, was durchaus ab und zu vorkam, vor allem, wenn sie ihren Willen durchsetzen wollte, dann weinte sie laut. Wann hatte sie sich das angewöhnt? Oder hatte er sie anders in Erinnerung?
„Was ist mit Ihrem Mann? Wieso ist er nicht hier?“
„Er ist, wie gesagt, in der Türkei bei einem wichtigen Geschäftstermin.“
Die Worte waren klar und bestimmt, von den eben vergossenen Tränen war keine Spur mehr zu sehen. Eine weitere Erklärung kam nicht und weitere Fragen danach würde sie auch nicht dulden, das war sehr deutlich.
„Der Beruf Ihres Mannes?“
Kerstin sah sie erstaunt an.
„Was hat das denn mit meinem verschwundenen Kind zu tun?“ Plötzlich schien sie begriffen zu haben, worauf Ursula hinauswollte. „Sie denken doch nicht etwa an eine Entführung?“
„Ich denke an gar nichts, ich sammle nur Fakten.“
Hatte die Frau tatsächlich noch nicht an diese Möglichkeit gedacht? Wenn man sich hier umsah, musste jedem klar sein, dass die Lechners sehr reich waren. Eine Entführung war nicht unwahrscheinlich. Sie an ihrer Stelle hätte dies sofort in Betracht gezogen.
„Mein Mann ist selbständiger Unternehmensberater. Und ich glaube nicht an eine Entführung. Wir sind nicht arm, das gebe ich zu, aber wir gehören auch nicht zu den sogenannten Superreichen, bei denen sich eine Entführung lohnen würde. Lassen Sie sich bitte nicht von dem Haus und dem Drumherum blenden.“
Das kam für Ursula eine Spur zu arrogant und überheblich. Oder war sie voreingenommen? Sie mochte diese attraktive und elegante Frau nicht, ihre Bewegungen und ihre Gestik waren für sie zu übertrieben und aufgesetzt.
„Wir brauchen ein Foto und eine Beschreibung von Marcel.“
Kerstin stand auf, ging ins Wohnzimmer und kam nach wenigen Minuten zurück. Sie reichte Leo das Foto. Erschrocken blickte er auf das hübsche Gesicht, das ihn anlächelte. Das war sein Sohn! Er strich kaum merklich über das Foto.
„Marcel hat nächste Woche am sechsten Mai Geburtstag, er wird acht Jahre alt. Er ist circa 1,35 Meter groß, wiegt sechsundzwanzig Kilo und hat dunkelbraunes Haar. Er trug gestern ein weißes T-Shirt mit einem Hai auf der Vorderseite, Marcel liebt Haie. Dazu trug er rote Shorts und bunte Turnschuhe.“
Ursula schrieb mit und nickte ab und zu, während Leo nur Augen für das Foto hatte.
„Irgendwelche besonderen Merkmale? Narben, auffällige Sommersprossen, Muttermale, Schmuck, Uhr. Handy?“
Kerstin schüttelte den Kopf.
„Nein, nichts dergleichen.“
„Gut, dann werden wir uns auf die Suche machen. Hier ist meine Karte. Wenn Ihnen noch etwas einfällt, melden Sie sich bitte. Ich habe auf der Rückseite unser Hotel notiert, sowie Leos Handynummer.“
„Sie haben sich Zimmer in einem Hotel genommen? Ich dachte, Sie bleiben hier. Das Haus ist wahrlich groß genug.“
Sie blickte auf den Zettel und las erstaunt den Namen des Hotels.
„Dort seid ihr abgestiegen? Donnerwetter! Das hätte ich dir nicht zugetraut, Leo. Früher wärst du für diesen Luxus viel zu geizig gewesen. Trotzdem möchte ich nochmals meine Gästezimmer anbieten.“
„Sehr nett, danke. Wir bleiben in unserem Hotel.“
„Schade, ich hatte mich so auf eine Ablenkung gefreut, denn die Angst um meinen Sohn lässt mir keine Ruhe. Bitte versprecht mir, mich auf dem Laufenden zu halten. Du hast meine Nummer, Leo?“
Ursula war aufgestanden und sah Leo an, der immer noch völlig geistesabwesend auf das Foto starrte.
„Leo!“ schrie sie nun, worauf der zusammenzuckte. „Wir gehen!“
Leo nickte nur. Er nahm das Foto seines Sohnes aus dem Rahmen und steckte es in seine Jackentasche.
„Du hast meine Handynummer?“, wiederholte Kerstin ihre Frage.
„Selbstverständlich. Wir melden uns.“
Ursula wollte weg, sie musste mit Leo so schnell wie möglich unter vier Augen sprechen. Sie verabschiedeten sich und Ursula zog Leo mit sich. Sie rannten fast. Als sie außer Reichweite des Lechner-Anwesens waren, setzten sie sich auf eine niedrige Mauer, die glücklicherweise im Schatten lag. Sie saßen einige Minuten schweigend zusammen.
„Da stimmt etwas nicht. Die ganze Sache stinkt bis zum Himmel.“
Leo sah sie irritiert an.
„Was meinst du damit?“
„Stell dir jetzt mal vor, dein Kind ist verschwunden. Zugegeben, das Beispiel ist jetzt vielleicht unglücklich gewählt. Dein Kind ist weg, du bist verzweifelt und allein mit deiner Angst. Dann kommt endlich die ersehnte Hilfe. Was sagst du zuerst?“
Leo überlegte und verstand nun, worum es ihr ging.
„Ich lege sofort los und erzähle ausführlich, was passiert ist.“
„Richtig. Stattdessen ist deine Exfrau sofort auf meine Bemerkung wegen eines Kosmetikartikels angesprungen. Hast du ihre Augen gesehen, während sie sprach? Sie machte nicht den Eindruck, als wäre sie todunglücklich. Sie sah dazu noch perfekt aus, sie war frisch frisiert und geschminkt. Sogar die Farbe des Nagellacks an Händen und Füßen war auf die Kleidung abgestimmt. Gut, das könnte Zufall sein. Aber wie oft hast du schon nach verschwundenen Kindern suchen müssen? Bestimmt auch schon etliche Male. Wie sahen da die jeweiligen Eltern, vor allem die Mütter aus?“
„Ich verstehe dich und du liegst nicht falsch. Aber Kerstin war immer schon ein Mensch, der sich beherrschen konnte.“
„Und wo zum Teufel ist der Vater? Den pfeife ich doch umgehend zurück, scheiß auf den Geschäftstermin.“
„Das hat mich auch gewundert. Trotzdem würde ich jetzt gerne mit der Suche nach Marcel anfangen, alles andere klären wir später. Womit sollen wir anfangen? Befragungen im direkten Umfeld des Lechner-Hauses oder sollen wir die Polizei aufsuchen?“
„Selbstverständlich die Polizei. Wenn wir hier auf eigene Faust losziehen, bekommen wir wahrscheinlich von den Einheimischen keinerlei Auskünfte, wir brauchen die Unterstützung von behördlicher Seite. Nicht, dass wir noch Ärger bekommen. Außerdem hat die Polizei ganz andere Möglichkeiten. Wenn die wirklich erst nach zwei Tagen nach einem verschwundenen Kind aktiv suchen, dann hauen wir mächtig auf den Putz. Wir geben erst Ruhe, wenn die ihre Hintern in Bewegung setzen. Ich habe gedacht ich spinne, als ich gehört habe, dass die nicht sofort nach dem Kind gesucht haben, das ist nicht zu fassen. Das möchte ich jetzt direkt von den Polizisten hören, denn das kann ich mir nicht vorstellen. Besonders die Griechen lieben Kinder und tun alles für sie. Gerade in den ersten zwei Tagen ist die Suche überaus wichtig, in diesem Zeitraum werden auch die meisten Kinder wieder aufgefunden.“
Leo stimmte ihr zu. Auch er und seine deutschen Kollegen wurden immer sofort aktiv, wenn es um verschwundene Kinder ging.
„Fahren wir zur Polizei.“ Leo hätte lieber hier vor Ort sofort mit der Befragung aller Nachbarn und auch der Kinder, mit denen Marcel gespielt hatte, angefangen. Aber Ursula hatte Recht. Sie bewegten sich hier auf griechischem Boden und die Bewohner hatten keinerlei Veranlassung, ihnen Auskunft zu geben. Er vertraute Ursula, da sie die Mentalität der Leute besser kannte.
Auf dem Weg nach Kos-Stadt dachte Leo über Ursulas Worte nach, während die ständig vor sich hin plapperte, er aber nicht zuhörte. Natürlich war es seltsam, wie sich seine Exfrau verhielt. Und es war noch seltsamer, dass ihr Mann nicht hier war. Wusste der, dass es nicht sein leibliches Kind war und Kerstin wollte ihn nicht an ihrer Seite haben? Kriselte es in der Ehe und jeder ging seiner Wege? – Tausend Fragen schossen ihm durch den Kopf, während Ursula ununterbrochen plapperte und er sich konzentrieren musste, um den Anweisungen des Navi-Gerätes Folge zu leisten.
„Wir sind da! Da vorn, das weiße, große Gebäude an der Ecke müsste die Polizeistation sein.“
Sie parkten direkt neben zwei Polizeifahrzeugen vor dem Eingang. Es war kurz vor zwölf, sie kamen also noch vor der Mittagspause. Die Tür quietschte laut. Die beiden Beamten an ihren Schreibtischen blickten in ihre Richtung, bestimmt auch wegen Ursulas auffälliger Erscheinung. Diese grüßte freundlich und legte gleich auf Griechisch los. Einer der Polizisten war aufgestanden und kam lächelnd auf sie zu.
„Sie sind deutsche Polizisten? Wie kann ich Ihnen helfen?“
„Sie sprechen deutsch? Sehr gut, das vereinfacht die Sache ungemein. Mein Name ist Ursula Kußmaul und das ist mein Kollege Leo Schwartz.“
„Stavros Ustanidis. Was kann ich für Sie tun?“
Der Polizist sah blendend aus in seiner schnittigen Uniform. Schlank, vierunddreißig Jahre alt, braungebrannt, dunkle Augen, kurze, pechschwarze Haare und eine sehr markante Nase. Dazu war er für einen Südländer außergewöhnlich groß, nämlich fast so groß wie Leo.
„Wir sind auf der Suche nach diesem Kind.“ Leo legte das Foto vor. „Er ist seit gestern verschwunden. Die Mutter, Kerstin Lechner, war bereits bei der Polizei und hat den Vorfall gemeldet. Hat die Polizei schon irgendetwas unternommen?“
Stavros nahm das Foto und schüttelte den Kopf.
„Seit gestern ist der Junge verschwunden, sagen Sie?“
Er ging zu seinem Schreibtisch und tippte in seinen Computer.
„Wir haben keine Vermisstenmeldung vorliegen. Aber das soll nichts heißen. Wir warten immer einige Zeit ab, meist kommen die Kinder von alleine wieder nach Hause. Wenn das nicht der Fall sein sollte, leiten wir eine Suchaktion ein.“
Ursula und Leo ärgerten sich über diesen laschen Umgang mit verschwundenen Kindern, rissen sich aber zusammen. Sie brauchten die Hilfe und auch das Wohlwollen der hiesigen Polizei, wenn sie hier als deutsche Polizisten nach dem Kind suchen wollten.
„Dann nehmen Sie bitte zur Kenntnis, dass der Junge noch nicht zuhause ist. Sein Name ist Marcel Lechner, er ist knapp acht Jahre alt. Wir haben die Beschreibung der Kleidung, die er bei seinem Verschwinden trug.“ Ursula hatte ihren Block aufgeschlagen und schob ihn dem Polizisten zu. „Wir werden uns umgehend auf die Suche nach ihm machen. Dabei rechnen wir mit Ihrer Unterstützung.“
„Haben Sie eine behördliche Genehmigung? Verstehen Sie mich nicht falsch, aber Sie können in unserem Zuständigkeitsbereich nicht einfach auf eigene Faust ermitteln.“
„Ich will ehrlich zu Ihnen sein: Wir haben keine Genehmigung, wir sind auf eigene Faust aufgebrochen, da uns die Mutter gebeten hat, nach ihrem Sohn zu suchen.“
Stavros Ustanidis schüttelte seinen hübschen Kopf.
„Das kann ich nicht erlauben. Was würden Sie sagen, wenn ich einfach bei Ihnen auf eigene Faust ermitteln würde?“
„Haben Sie verstanden, warum wir hier sind? Ein Kind ist verschwunden und Sie machen sich Sorgen um irgendeine Genehmigung. Wir dürfen keine Zeit mehr verlieren!“ Leo war kurz davor, die Nerven zu verlieren.
„Sie haben ja Recht“, mischte sich nun Ursula ein, die Leo zurückhielt. Sie befürchtete, dass er gleich ausrasten würde und sie dann bestimmt nicht mit der Unterstützung und dem guten Willen der Polizei rechnen konnten. „Die Aktion war vielleicht unüberlegt und überstürzt. Wir haben eine Erklärung für unser Verhalten: Mein Kollege Leo Schwartz ist der leibliche Vater des verschwundenen Jungen.“
Stavros war überrascht, damit hatte er nicht gerechnet. Würde er an dessen Stelle nicht genau so handeln? Ganz bestimmt sogar. Er sah die beiden deutschen Polizisten an, die ein ulkiges Bild abgaben: Er groß und dünn mit altmodischen Klamotten, sie klein, dick und völlig verrückt. Stavros Ustanidis nickte.
„Gut, ich verstehe. Ich nehme die Vermisstenmeldung auf und danach leite ich umgehend die erforderlichen Schritte ein.“
Stavros Ustanidis gab die Beschreibung des Jungen in den Computer ein, das Foto wurde für die Akten in Kopie aufgenommen. Danach verschwand er im hinteren Zimmer. Die beiden konnten hören, dass er telefonierte.
„Was macht der jetzt? Kannst du ihn verstehen?“
„Nur Bruchstücke. So, wie ich das mitbekommen habe, geht die Suchmeldung an alle anderen Polizeistationen. Zudem wird für morgen eine großangelegte Suche gestartet. Warte doch einfach ab, der hübsche Kerl kommt eh schon wieder, fragen wir ihn.“
„Die Kollegen auf Kos wissen Bescheid. Morgen früh um sieben Uhr starten wir von dem Ort des Verschwindens eine großangelegte Suche mit mehreren Beamten und einigen Spürhunden. Wenn Sie wollen, können Sie uns gerne begleiten. Darüber hinaus werden Flugblätter mit dem Foto und der Beschreibung verteilt. Bereits heute Abend erscheint in den Nachrichten eine entsprechende Meldung, und zwar im Fernsehen und im Radio.“
„Natürlich werden wir Sie begleiten. Könnten wir das alles nicht beschleunigen und noch heute mit der Suche anfangen?“
„Keine Chance. Wir haben hier auf der Insel zu wenig Beamte und nur einen Spürhund. Die ganze Sache muss geplant werden. Morgen früh trifft die Mannschaft mit dem ersten Flugzeug ein und dann starten wir sofort, versprochen.“
Leo war enttäuscht. Er wusste aus der Vergangenheit, dass die Chancen, den Jungen gesund und munter zu finden, immer geringer wurden, je mehr Zeit verstrich. Aber er verstand auch den Kollegen, denn eine solche Suche musste tatsächlich geplant werden und sie befanden sich hier nun mal auf einer relativ kleinen Insel. Es blieb ihm nichts anderes übrig, er musste sich gedulden.
„Wenn Sie Befragungen vornehmen, werden Sie bei den Einheimischen wahrscheinlich auf großes Misstrauen stoßen. Sie sprechen zwar sehr gut unsere Sprache, Frau Kußmaul, aber man hört sofort einen deutlichen deutschen Akzent heraus. Obwohl es sich um ein verschwundenes Kind handelt, erfahren Sie kein Wort, darauf könnte ich wetten. Aufgrund der politischen Lage ist ein Teil der Griechen Ausländern gegenüber sehr misstrauisch. Vor allem, was die Deutschen betrifft, was von der Regierung, vor allem aber von der Opposition, kräftig geschürt wird. Es gibt kaum eine Woche ohne einen negativen Bericht über die Deutschen, das finde ich nicht gut. Ich habe einige Jahre in Deutschland verbracht, ich habe dort studiert. Die Deutschen sind mir sehr ans Herz gewachsen und das Bild, das uns Griechen jetzt aufgrund der Finanzlage von Deutschland und den Deutschen übermittelt wird, ist grundlegend falsch.“
Leo freute sich zwar über die Worte des Polizisten, wurde aber immer ungeduldiger. Er wollte hier weg und endlich mit der Suche anfangen.
„Was schlagen Sie also vor? Wie sollen wir vorgehen?“
Stavros gab ihnen ein Zeichen, kurz zu warten. Er sprach mit seinem Kollegen, führte ein kurzes Telefonat und kam wieder zu ihnen.
„Ich werde Sie begleiten.“
Ursula und Leo waren begeistert. Mit dieser Unterstützung hätten sie nicht gerechnet. Stavros holte seine Jacke und seine Mütze und ging ihnen voraus.
„Lassen Sie Ihren Wagen stehen, wir nehmen den Dienstwagen. Das macht mehr Eindruck und wir kommen problemlos durch den Verkehr.“
Den ganzen Nachmittag gingen sie von Tür zu Tür, sprachen alle Personen, vor allem Kinder und deren Mütter, auf der Straße und in den umliegenden Geschäften und Restaurants an. Ohne Erfolg. Niemand hatte den Jungen gesehen. Einem großen Teil der Nachbarn war er sogar völlig unbekannt. Das Ehepaar Lechner war ein Begriff, aber nicht das Kind.
„Wir müssen die Befragungen ausweiten, aber heute nicht mehr. Es ist schon spät. Ich schlage vor, Sie ruhen sich aus und versuchen, etwas zu schlafen. Morgen früh um sieben Uhr starten wir die Suche, wovon ich mir sehr viel mehr verspreche, als von den in meinen Augen sinnlosen Befragungen. Das Kind ist nicht blond und blauäugig, es sieht aus wie eines unserer Kinder. Verlieren Sie die Hoffnung nicht, wir werden Ihren Sohn finden. Ich hole Sie um halb sieben in Ihrem Hotel ab.“
„Es ist doch noch nicht mal achtzehn Uhr, wir könnten noch sehr viel mehr Menschen befragen. Vielleicht hat ihn doch jemand gesehen.“
Stavros antwortete nicht darauf. Die Befragungen in der unmittelbaren Nachbarschaft der Lechners hätten vielleicht etwas bringen können, aber das, was der deutsche Kollege vorhatte, war doch Irrsinn. Das verschwundene Kind sah aus wie viele andere in seinem Alter.
Leo war verzweifelt, er hatte sich mehr von den Befragungen erhofft. Er musste zugeben, dass sich Stavros alle erdenkliche Mühe gab und teilweise auch laut wurde, wenn Passanten pampig wurden. Aber trotz allem hatte offensichtlich niemand seinen Sohn gesehen.
„Sei doch vernünftig, Leo, wir sind alle fix und fertig, auch du. Wir müssen etwas essen und uns ausruhen. Stavros hat Recht. Morgen früh gehen wir frisch und munter wieder an die Arbeit.“
Ursula sprach mit Engelszungen, sie war tatsächlich völlig fertig. Die Sonne brannte gnadenlos vom Himmel und ihr schwirrte der Kopf von den vielen Übersetzungen, die sie Leo den ganzen Nachmittag über geduldig vortrug. Sie waren die meiste Zeit zu Fuß unterwegs und ihr taten die Füße und auch der Rücken weh. Außerdem hatten sie heute Mittag nichts gegessen und ihr knurrte der Magen. Leo sah seine Kollegin an, die sehr schlecht aussah. Er gab schließlich widerwillig klein bei. Sie fuhren zurück zur Polizeistation Kos-Stadt und dann mit ihrem Wagen weiter zurück zu ihrem Hotel.
„Ich mache mich frisch, ziehe mir etwas Schönes an und in einer halben Stunde treffen wir uns im Restaurant. Einverstanden?“
„Es tut mir leid, aber ich habe keinen Hunger. Ich werde duschen und lege mich hin.“
Da für heute nichts mehr anstand, bemerkte Leo, dass er völlig fertig war. Er hatte nicht nur sehr wenig geschlafen und gegessen, die Sorgen um den Jungen fraßen ihn von innen regelrecht auf.
„Das kommt ja überhaupt nicht in Frage. Du musst etwas essen, du musst bei Kräften bleiben. Ausgemergelt bist du bei der Suche keine große Hilfe. Außerdem kannst du mich als Frau doch nicht alleine lassen. Was glaubst du, welche Gefahren auf mich lauern?“
Obwohl sich Leo sicher war, dass Ursula sich sehr gut selber helfen konnte, musste er ihr zustimmen. Sie war hier, um ihm zu helfen und da wollte er sie nicht alleine im Restaurant sitzen lassen, das wäre nicht fair ihr gegenüber.
„Gut, du hast gewonnen. In einer halben Stunde im Restaurant.“
Leo wartete bereits mit einem Drink, als Ursula endlich fertig war. Sie sah zu seiner Überraschung in ihrem weißen, langen Kleid sehr hübsch aus. Im Haar hatte sie ein weißes Tuch, dessen Enden am Rücken herunterhingen. Sie war dezent geschminkt und ihr Parfum duftete nach Südfrüchten, was Leo sehr mochte. Zum Glück verzichtete sie auf eine ihrer überdimensionalen Handtaschen, sondern hatte eine silberfarbene Clutch in ihrer Hand, die gut zu dem silbernen Schmuck passte. Er bot ihr galant den Arm, den sie mit einem Strahlen annahm.
Das Restaurant war proppenvoll mit Touristen, die allesamt älter waren. Offensichtlich war dieses hochpreisige Hotel nicht für Familien mit Kindern ausgelegt. Der Geräuschpegel hielt sich in Grenzen.
„Wenn ich mich so umsehe, habe ich heute die schönste Frau an meiner Seite.“ Ursula wurde beinahe rot, freute sich aber über das Kompliment.
„Vielen Dank, du Charmeur.“
„Ich sage die Wahrheit. Du siehst heute wirklich sehr hübsch aus.“
Ursula lächelte und die beiden steuerten auf einen freien Tisch zu. Der Kellner brachte Wein und sie holten sich etwas vom reichhaltigen Buffet. Ursula lud sich den Teller mit den verschiedensten Speisen voll, flirtete mit dem kleinen Koch am Show-Herd, der für sie ein ganz besonders schönes Stück Fisch in seine Pfanne legte. Mit einem Schmunzeln beobachtete Leo die Kollegin, die ganz in weiß komplett aus der Menge herausstach und das sichtlich genoss. Leo hielt sie immer noch für verrückt, aber sie tat ihm gut. Die gute Laune, das lose, freche Mundwerk, die aufmunternden Worte und der scharfe Verstand halfen ihm. Es war wirklich ein Segen, dass Ursula ihn begleitet hatte und ihn unterstützte.
Nach dem Essen saßen sie noch auf einen Drink in der Hotelbar zusammen. Hier war nur sehr wenig los, denn die Getränke hier in der Bar mussten vor Ort bezahlt werden und waren nicht im All-Inclusive-Paket enthalten.
„Vielen Dank, dass du mich begleitest und mir zur Seite stehst, das bedeutet mir sehr viel. Die ganze Sache zieht mich echt runter. Ich möchte mir gar nicht vorstellen, in welchem Zustand ich wäre, wenn du mir nicht ab und zu in den Hintern treten würdest.“
„Wirkt dein Whisky schon? Wirst du jetzt auch noch rührselig? Oder möchtest du mich anbaggern? Das kannst du gleich vergessen, ich habe kein Interesse an dir. Wobei mir Stavros schon gefährlich werden könnte. Diese dunklen Augen und der knackige Hintern sind eine Sünde wert.“
Leo musste lachen, das erste Mal seit langem.
„Reiß dich gefälligst am Riemen, werte Kollegin. Hattest du letztes Jahr nicht einen Freund? Ich meine mich zu erinnern, dass er ziemlich hübsch war.“
„Nein, wir sind nicht mehr zusammen. Er hat zu sehr geklammert, und das ging mir auf die Nerven. Ich bin noch jung und möchte was erleben. Durch meine Krankheit habe ich viele Jahre verloren, die ich nun gedenke, nachzuholen.“
Sie sagte das keinesfalls traurig, sondern hielt dabei Ausschau nach Männern, was Leo abermals zum Lachen brachte. Diese Frau war ein Phänomen, man musste sie einfach mögen.
„Sei mir nicht böse, aber ich möchte jetzt trotzdem auf mein Zimmer gehen und mich hinlegen. Wir haben morgen einen langen Tag vor uns.“
„Ich bin dir nicht böse. Ohne dich habe ich sogar höhere Chancen, jemanden kennenzulernen. Siehst du den hübschen Mann dort mit dem roten T-Shirt? Ich wette mit dir, dass er sich zu mir setzt, sobald ich alleine bin.“
„Dann wünsche ich dir viel Glück.“
Leo zweifelte an ihren Worten, denn Ursula war keine Schönheit im üblichen Sinn. Sie war klein, pummelig und äußerst schräg.
„Danke, aber mit Glück hat das nichts zu tun. Männer fliegen auf mich wie Bienen auf Süßes, auch wenn du mir nicht glaubst. Es ist ein Klischee, dass Männer nur auf Äußerlichkeiten stehen.“
Leo besah sich den Mann etwas genauer: Er war ungefähr fünfzig Jahre alt, sportlich, ziemlich gutaussehend und sah tatsächlich ab und an zu ihrem Tisch. Trotzdem, er blieb bei seiner Meinung: Ursula war keine Schönheit und er konnte sich nicht vorstellen, dass sich solche Männer für sie interessierten.
„Ich wünsche dir trotzdem viel Glück. Und pass auf dich auf. Du weißt ja, wo du mich findest, wenn du meine Hilfe brauchst.“
„Alles klar, schlaf gut. Mach dir keine allzu großen Sorgen um deinen Sohn, wir finden ihn gesund und munter, davon bin ich überzeugt. Und bitte versprich mir, dass du keine Dummheiten machst. Keine Alleingänge, versprochen?“
„Großes Indianerehrenwort.“
Leo beobachtete von weitem, wie sich der Mann mit dem roten T-Shirt tatsächlich auf Ursula zubewegte, sie ansprach und sich zu ihr setzte. Unglaublich!…
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