Der 24. Fall aus der Leo-Schwartz-Krimireihe
1.
Die vierundvierzigjährige Sabine Kofler hetzte durch die Straßen Hurghadas. Zwei Männer verfolgten sie. Oder waren es mehr? Bis zur Einmündung in diese Gasse waren sie ihr mit dem Wagen dicht auf den Fersen gewesen. Es hätte nicht viel gefehlt, und sie hätten sie gehabt. Mit dem Wagen kamen sie hier nicht weiter, dafür war die Gasse viel zu eng. Für einen kurzen Moment war Sabine erleichtert und atmete tief durch. Sie ging weiter und bog in die nächste Straße, aber dort entdeckte sie den Wagen erneut. Was jetzt?
Sie rannte so schnell sie konnte. Nirgendwo gab es eine Möglichkeit, wo sie sich verstecken konnte. Dann sah sie den Markt, auf den sie zu rannte. Ob die Männer es wagen würden, sie in der riesigen Menschenmenge zu stellen? Sie musste versuchen, dort unterzutauchen und ihre Verfolger abzuschütteln. Der riesige Markt mit den unzähligen Ständen und einem Labyrinth von Wegen war ihre einzige Chance und die musste sie nutzen.
Sie rannte mitten in das Gewusel des Marktes. Hier fiel sie nicht nur wegen ihren blonden Haaren auf, sondern vor allem wegen ihrem krebsroten Gesicht und ihrem schnellen Gang. Sabine musste sich zwingen, langsam zu gehen. An einem Stand klaute sie ein Tuch, das mit vielen anderen sauber auf einem Tisch zum Verkauf angeboten wurde. Ob man sie erwischte? Das war ihr gleichgültig, sie ging einfach weiter und schlang sich das Tuch um den Kopf. Irgendwann fühlte sie sich sicher und konnte es sich erlauben, für einen kurzen Moment auszuruhen. Sie verzog sich in eine Ecke. Passanten gingen an ihr vorbei und achteten nicht auf sie, was ihr sehr guttat. Sie musste sich sammeln. Was sie in Kairo gesehen hatte, war der Wahnsinn! Auf der Suche nach gefälschter ägyptischer Kunst stieß sie auf Raubkunst aus dem zweiten Weltkrieg. Waren das echte Kunstschätze oder waren auch diese gefälscht? Sie wusste es nicht, schließlich war sie keine Kunstexpertin. Sie war als freie Journalistin der gefälschten Kunst auf der Spur und suchte nicht nur nach den Hintermännern, sondern vor allem nach Beweisen. Und dann stand sie plötzlich vor großen Meistern, die längst als verschollen galten. Meister wie van Gogh, Raffael, Bellini und viele andere. Bei einem der Gemälde war sie stutzig geworden. War das nicht einer der Kunstschätze, die der Raubkunst zugeordnet wurden und seit Kriegsende 1945 verschwunden waren? Am liebsten hätte sie danach im Internet geforscht, aber dafür hatte sie keine Zeit, schließlich hatte sie sich unrechtmäßig Zugang in das Kairoer Haus verschafft. In einem Eck stand sie vor diversen Skulpturen, die ihr nicht viel sagten. Eine davon nahm sie in die Hand und strich über die glatte Oberfläche. Wie alt diese Figur wohl sein würde? Dann entdeckte sie eine Truhe. Ob sie es wagen konnte? Sie klappte den Deckel auf und starrte auf ein ordentlich sortiertes Sammelsurium an Schmuckstücken. Sie strich darüber und griff sich eine schwere Kette, die mit bunten Steinen besetzt war. Ob die echt war? Sie konnte nicht anders und zog die Kette an, da sie sich diese später genauer ansehen wollte. Obwohl sie völlig durcheinander war, begann sie, alles zu fotografieren, was sie vorfand. Sie hatte jede Menge Bilder gemacht, als man sie entdeckte. Sie hatte den Mann nicht kommen hören, der sie anschrie und nur wenige Meter von ihr entfernt aufgetaucht war. Der Mann war Europäer. So, wie er sprach, war er entweder Engländer oder Amerikaner. Er kam auf sie zu und hatte nach ihr gegriffen, aber nur ihre Tasche erwischt. Es hätte nicht viel gefehlt und er hätte sie gehabt. Sie lief los und rannte um ihr Leben. Sie lief zu dem Fenster, in das sie eingestiegen war und das sie nur angelehnt hatte. Sie war noch nie die Sportlichste gewesen, aber heute hatte sie eine Energie und eine Kraft entwickelt, die sie sich selbst nicht zugetraut hätte. Den Weg durch den Garten nahm sie mit links, dann sprang sie über den Zaun. Der Mann blieb an ihr dran, während er ununterbrochen schrie. Es stand für Sabine außer Frage, dass er um Hilfe rief. Nicht mehr lange, und sie hatte es nicht mehr nur mit einem Verfolger zu tun. Die Distanz zwischen ihr und ihrem Verfolger vergrößerte sich, aber er blieb an ihr dran. Um ihn abzulenken, nahm sie die Speicherkarte aus der Kamera und steckte sie ein. Die Kamera ließ sie einfach fallen. Der Trick funktionierte. Der Mann blieb stehen und hob die Kamera auf, was ihr einen enormen Vorsprung verschaffte. Als sie sich zwei Straßen weiter in Sicherheit wähnte, bemerkte sie den Wagen, der viel zu schnell fuhr. Galt ihr das oder war sie schon so paranoid? Sie schlug zwei Haken und dann war es klar: Der Wagen war hinter ihr her!
Es gelang ihr, bis zum Kairoer Ramses-Bahnhof zu rennen. Hier stieg sie in den erstbesten Zug ein. Wohin die Reise ging, war ihr gleichgültig, sie wollte einfach nur weg. Der Zug war brechend voll, trotzdem fiel sie als blonde Touristin sofort auf. Außerdem hatte sie kein Geld bei sich, aber das war zweitrangig. Sie war ihren Verfolgern entkommen und nur das zählte.
Der Zug leerte sich, was ihr sehr unangenehm war, da sie befürchtete, ohne Fahrkarte aufgegriffen zu werden. Aber hier hatte sie Zeit, ihre Gedanken zu ordnen. Was war sie da auf der Spur? Konnte es tatsächlich sein, dass sie längst verschollenen geglaubte Raubkunst gefunden hatte? Erst jetzt bemerkte sie, dass sie immer noch die Kette trug. Sie sah sich um, die wenigen Mitreisenden schliefen oder lasen. Nun konnte sie es wagen, sich das Amulett genauer anzusehen. Die Steine funkelten um die Wette. Irgendwelche Stempel konnte sie mit bloßem Auge nicht erkennen. Und wenn, dann könnte sie sowieso nichts damit anfangen, da sie sich mit Schmuck nicht auskannte. Auf der Rückseite befand sich eine Gravur: In ewiger Liebe, E. Das Hakenkreuz daneben war jetzt deutlich zu sehen, vorhin hatte sie es nicht bemerkt. Von wem stammte die Gravur und für wen war sie bestimmt? Seit wann hatte man damit begonnen, Schmuckstücke zu gravieren? Fragen über Fragen, die sie nicht beantworten konnte. Sie steckte das Amulett wieder unter ihre Bluse. Nach der nächsten Haltestelle leerte sich der Zug noch mehr, was ihr nicht gefiel. Sie musste dringend etwas unternehmen, bevor sie aufflog. Sie konnte sich nicht ausweisen und hatte nicht einen Cent bei sich. Dann bemerkte sie einen Mann, der offenbar Fahrgäste kontrollierte. Panik stieg in ihr auf. Was jetzt? Sie rannte zur Toilette und schloss sich ein. Hier stank es fürchterlich. Die Toilette war total verschmutzt. Sabine kämpfte mit dem Würgereiz. Hier war es zwar ekelhaft, aber dafür sicher. Am nächsten Bahnhof stieg sie aus. Sie sog die frische Luft ein und ihr Magen beruhige sich langsam. Wo war sie hier? Sie konnte die Schilder nicht lesen. Und wenn, dann hätten sie ihr nichts gesagt. Sie stieg in einen Zug, auf den viele andere warteten. Das wiederholte sich mehrere Male, bis sie schließlich in Hurghada landete. Wie sie das geschafft hatte, war ihr ein Rätsel. Der Bahnhof war leer, Züge würden hier erst wieder in einer Stunde abfahren. Sollte sie hier einfach warten? Sie entschied sich dagegen, denn Durst und Hunger wurden übermächtig. Vielleicht fand sich irgendwie eine Möglichkeit zur Nahrungsaufnahme, aber vor allem brauchte sie etwas zu trinken.
Und dann bemerkte sie den Wagen, der ihr gefolgt war. War das so? Konnte es wirklich sein, dass man ihre Spur von Kairo nach Hurghada verfolgt hatte? Wie sollte das gehen? Es war ihr ein Rätsel. Vielleicht war sie auch nur müde und durcheinander. Sie sah Verfolger, die es nicht gab. Ja, so musste es sein.
Hier stand sie nun auf dem Markt in Hurghada, der von Einheimischen und vielen Touristen besucht wurde. Wie sie hierhergefunden hatte, war ihr erneut ein Rätsel, aber hier fühlte sie sich vorerst sicher. Außerdem gab es hier sicher etwas zu Essen. Aber was dann? Wie weit kam sie ohne Papiere und ohne Geld? Dazu musste ihr eine Lösung einfallen.
Sie reihte sich in den Strom der Marktbesucher ein. Sie beruhigte sich. An einem Brunnen trank sie gierig Wasser.
Dann entdeckte sie einen Mann, der ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ: Das war der, der sie in Kairo beim Fotografieren erwischt hatte! Wie war das möglich? An seiner Seite war ein anderer, den sie nicht kannte. Konnte das wahr sein? Wie hatten die beiden sie aufgespürt? Erschrocken blieb sie stehen und konnte nicht glauben, was sie sah. Die beiden Männer waren hinter ihr her, ganz sicher! Sie kamen direkt auf sie zu und standen fast vor ihr. Sie spürte, wie Panik in ihr aufstieg. Sie drehte sich um und rannte um ihr Leben.
2.
Leo Schwartz hatte sich auf dem Flug nach Hurghada glänzend mit seiner Sitznachbarin unterhalten. Die anfangs zickige Mittsiebzigerin entpuppte sich als charmante Gesprächspartnerin, was vermutlich auch an Leos Alkoholkonsum lag. Die freundliche Stewardess schenkte ihm gerne nach, was er dankend annahm. Die Gedanken an den letzten Fall, der zum Glück gut ausgegangen war, aber vor allem die Tatsache, dass er Viktoria endgültig verloren hatte, konnte er nur mit Alkohol und Ablenkung ertragen. Die Freude auf seinen alten Freund Georg Obermaier, der ihn in Ägypten erwartete, war momentan sein ganzer Halt. Auch Georg litt an gebrochenem Herzen, da ihn seine Frau zusammen mit der Tochter nun doch verlassen hatte, obwohl Georg alles dafür getan hatte, dies zu verhindern. Die Reise nach Ägypten war eine Spontanentscheidung, nachdem Georg hier Urlaub machte und versuchte, seinen Kummer in angenehmer Umgebung zu ertränken. Gemeinsam mit Georg würde er wieder auftanken und alles vergessen können, was ihn belastete. Das war zumindest der Plan.
Das Flugzeug war gelandet. Leo wagte einen Blick aus dem Fenster und sah nur Sand. Die Lautsprecherdurchsage war kaum zu verstehen. Fast alle Passagiere waren aufgestanden und warteten darauf, dass das Flugzeug seine Parkposition erreichte und man endlich den ersehnten Urlaub antreten konnte. Leo musste lachen und blieb sitzen, wie die Dame neben ihm auch. Sie warteten, bis sich die Massen aus dem Flugzeug drängten, dann standen auch sie auf. Leo bedankte sich lallend bei der Stewardess, auch wenn er sich nicht mehr sicher war, ob sie es war, die ihn umsorgt hatte. Ein warmer, angenehmer Wind schlug ihm entgegen, als er das Flugzeug verließ und die Gangway betrat. Der Flughafen war ziemlich klein, was ihn aber nicht sonderlich interessierte. Das Wetter war gut und Georg wartete sicher schon mit einem Cocktail auf ihn im Hotel, nur das war jetzt wichtig.
Der Typ im Sicherheitsbereich sprach ihn an, aber Leo verstand ihn nicht. Was wollte der Mann von ihm? Er hatte kein Handgepäck dabei, deshalb knallte er seine Papiere und das Portemonnaie auf den kleinen Tisch; soll der Mann sich doch nehmen, was er brauchte. Jetzt verstand Leo. Der wollte nicht nur den Reisepass, sondern auch Geld für das Visum. Woher sollte er das wissen? Die weiteren Kontrollen ließ Leo über sich ergehen. Er war für jede Art von Kontrolle; je mehr, desto besser.
Leo musste lange auf seine Reisetasche warten, mehr Gepäck hatte er nicht dabei und mehr brauchte er auch nicht. Als er seine Tasche endlich auf dem Gepäckband erblickte, musste er sich durch die Menschenmenge drängeln, die den Zugang blockierten. Leo mochte diese Menschenansammlungen mit übelgelaunten und hektischen Menschen nicht, er musste sie auch nicht mehr lange ertragen. Auf ihn warteten unbeschwerte Urlaubstage am Strand in Georgs Gesellschaft. Wie lange hatten sich die beiden nicht gesehen? Drei Jahre, vier Jahre oder mehr? Er konnte sich noch sehr gut an den dunkelhäutigen Georg mit den wilden, schwarzen Locken erinnern, der immer gut gekleidet und meist gut gelaunt war.
Leo schlenderte auf den Ausgang zu und freute sich nicht wirklich auf den Bus, der ihn zwangsläufig wieder mit vielen anderen Urlaubern zusammenpferchen würde.
„Leo! – Leo! Halloooooooo!“, rief Georg, der seinen Freund sofort entdeckt hatte, was bei dessen Körpergröße von einem Meter neunzig kein Problem war. Grau war er geworden, ebenso wie er selbst. Allerdings trug er immer noch diese schrecklich bunten T-Shirts, mit denen er überall auffiel. Konnte es sein, dass er immer noch dieselben ausgelatschten Cowboystiefel trug? Tatsächlich! Georg rief wieder und wieder. Endlich reagierte Leo, denn er blieb stehen und sah sich um. Hatte er eben seinen Namen gehört? Leo konnte es kaum glauben, als Georg direkt vor ihm stand. Er hatte sich verändert. Die wilden, dunklen Locken waren grau geworden. Auch das spitzbübische Grinsen war nicht mehr so frisch, wie er es in Erinnerung hatte. Mit ausgebreiteten Armen ging Leo auf ihn zu.
„Du bist alt geworden, mein Freund. Ich hätte dich fast nicht erkannt.“
„Charmant wie eh und je. Keine Sorge, Leo, der Zahn der Zeit hat auch an dir ordentlich genagt.“
Beide lachten. Es war, als ob es die letzten Jahre nicht gegeben hätte.
„Bitte sag mir, dass du mit einem Wagen hier bist. Ich habe keinen Bock auf eine Busfahrt voller Touristen.“
„Sei fair, Leo, du bist auch ein Tourist. Aber keine Sorge, ich bin mit einem Taxi hier und mit dem fahren wir zurück zum Hotel.“ Georg sah Leo an. „Hast du getrunken?“
„Ja.“ Sollte er sich erklären? Warum?
Die Fahrt war sehr angenehm. Der Taxifahrer Sharif sprach einige Worte englisch, die er ohne Sinn aneinanderreihte und immer wieder wiederholte. Der Typ war eine Frohnatur, was Leo sehr lustig fand. Sharif redete ununterbrochen, wobei er in verschiedene Richtungen zeigte. Es war offensichtlich, dass er seine Heimat anpries, auf die er sehr stolz zu sein schien. Dann stoppte er und drehte sich um.
„Was will er?“, fragte Leo.
„Keine Ahnung. Er hat offenbar eine Frage gestellt, auf die er eine Antwort erwartet.“
„Yes“, sagte Leo schließlich lachend und zuckte mit den Schultern, als Georg ihn anstarrte. Sharif lächelte und fuhr von der Straße ab.
„Hoffentlich kommen wir irgendwann im Hotel an“, maulte Georg, der keine Lust auf eine Tour durch die karge Landschaft hatte.
„Sei kein Spielverderber, alter Freund. Wir haben Urlaub! Was spricht dagegen, sich etwas umzusehen? Ich war noch nie in Ägypten und bin gespannt, was uns der Mann zeigen möchte.“ Leo hatte beste Laune und sah sich interessiert um. Schon wie Sharif den Wagen wendete, war lustig, denn ihn schienen die anderen Verkehrsteilnehmer nicht zu interessieren.
Georg musste schmunzeln. Leo war stockbesoffen und er musste zusehen, dass er starken Kaffee für ihn fand. Was soll’s, dann gab es eben heute eine Touristentour. Die karge Gegend wurde bewohnter, bis sie schließlich eine Stadtgrenze passierten. Welche Stadt das war, war Leo gleichgültig. Georg war klar, dass das Hurghada sein musste. Leo sog die Luft durch das offene Fenster ein und ließ sich den Fahrtwind um die Nase wehen.
„Hier riecht es fantastisch“, rief er laut. Der Fahrer verstand zwar kein Wort, lachte aber dennoch. Er fuhr geschickt durch die belebte Stadt, in der es von Einheimischen und Touristen nur so wimmelte. Dann stoppte er, drehte sich grinsend um und forderte die beiden auf, ihm zu folgen.
„Sharif ist wohl der Meinung, dass wir einen Markt besuchen möchten. Sieh dich um, Georg, das ist doch der Wahnsinn!“ Leo war begeistert und stieg aus. „Komm schon, sei kein Spielverderber und gönn mir diesen Spaß.“
„Meinetwegen! Aber zuerst gibt es Kaffee, damit du wieder nüchtern wirst. Ich habe keine Lust darauf, den ganzen Tag eine Attraktion nach der anderen ansehen zu müssen, nur weil du nicht ganz klar in der Birne bist.“
Georg machte Sharif klar, dass sie Kaffee trinken wollten. Dieser verstand und ging einfach los, Georg und Leo folgten ihm. Leo hatte noch niemals vorher solch einen vollgestopften und lebhaften Markt gesehen. Überall standen Menschen, die wild gestikulierend miteinander sprachen. Es war offensichtlich, dass man nicht den Preis bezahlte, der auf der Ware angebracht war. Leo war ein leichtes Opfer für die Händler. Er blieb überall stehen und ließ sich bequatschen. Sharif kümmerte sich um ihn und zog ihn einfach weiter, wobei er dem einen oder anderen Einheimischen der Klangfarbe der Stimme nach zu urteilen Schimpfworte an den Kopf warf. Oder ging man hier so miteinander um? Leo amüsierte sich köstlich, während Georg die Menschenmassen mehr und mehr auf die Nerven gingen.
Endlich gab es starken Kaffee, den Leo widerwillig trank. Georg bestand darauf, dass er einen weiteren herunterschluckte, auch wenn der noch widerlicher schien, als der erste. Da Leo keine Lust darauf hatte, sich jetzt schon mit Georg anzulegen, fügte er sich. Dann ging es erneut mitten ins Getümmel des Marktes.
Leo und Georg wurden immer wieder von Händlern angesprochen, aber das würgte Sharif mit kurzen Worten ab, wenn sie ihr Desinteresse zum Ausdruck brachten. Sie aßen an einem Stand, an dem es verführerisch duftete. Sharif übernahm die Bestellung und war fast beleidigt, als Leo die Rechnung übernehmen wollte. Georg kaufte ein T-Shirt für seine Tochter, mehr fand er nicht. Leo erstand ein Tuch für Tante Gerda und Honig für die Kollegen. Ob das das richtige Geschenk war? Leo musste schmunzeln und freute sich jetzt schon über die dummen Gesichter der Kollegen, wenn jeder ein Glas Honig in die Hand gedrückt bekam. Leos Laune war bestens. Gerade, als er erneut von einem Tuchhändler angesprochen wurde, lief ihm eine Frau vor die Füße. Es hätte nicht viel gefehlt, und sie hätte ihn umgerannt. Leo konnte sich selbst und die Frau gerade noch festhalten. Sie sah ihn an und Leo konnte die Angst in ihren Augen sehen.
„Sprechen Sie deutsch?“
„Ja.“
„Kann ich Ihnen helfen?“
„Ich muss hier weg, ich werde verfolgt.“
Leo musste sich konzentrieren. Was sagte die Frau da?
„Haben Sie eben gesagt, dass Sie verfolgt werden?“
„Ja.“
Leo sah sich um. Georg war mit Sharif in Verhandlungen, wobei es wohl um Gewürze ging. Dann bemerkte er zwei Männer, die sich auffällig suchend umblickten. Das mussten die Verfolger der Frau sein.
„Kommen Sie mit“, entschied Leo und betrat den Laden, vor dem sie gerade standen und in dem sie mit offenen Armen empfangen wurden. Sofort wurden Stoffe ausgebreitet.
„Den hier“, deutete Leo auf einen pinkfarbenen Stoff und zeigte auf die Fremde. Der einheimische Verkäufer strahlte und nahm den Stoff an sich, wobei er ihn wie ein rohes Ei behandelte. Durch eine Fülle von Stoffen gab es eine schmale Stelle, durch die man nach draußen sehen konnte. Leo behielt im Auge, was sich vor dem Geschäft abspielte. Er bemerkte die Verfolger, die immer näher kamen. Er nahm dem Verkäufer den Stoff aus der Hand und hielt ihn schützend vor die Frau. Das war geschafft, die beiden Männer gingen weiter. Leo wollte den Stand verlassen, aber der Verkäufer ließ nicht locker. Er redete auf Leo ein, aber der verstand kein Wort. Der bemühte sich redlich, dann endlich verstand Leo.
„Er will Ihnen ein Kleid nähen. Und so, wie ich ihn verstehe, will er das sofort machen“, sagte er zu der Frau, die ängstlich in der Ecke stand und es nicht wagte, sich zu bewegen.
Sabine war nervös. Der fremde, freundliche Mann hatte ihr geholfen und sie war ihm unendlich dankbar. Für ein neues Kleid hatte sie jetzt keine Nerven. Sie war kurz davor abzulehnen. War es nicht klug, das Äußere zu verändern? Aber wie sollte sie das bezahlen? Darüber musste sie sich später Gedanken machen, jetzt war nicht der richtige Moment dafür. Sie nickte schließlich und der Verkäufer nahm die Frau mit nach hinten. Gerade noch rechtzeitig, denn einer der Männer betrat den Laden, sah sich um und verschwand wieder. Das war knapp.
Leo wollte in den hinteren Teil des Ladens gehen, wurde aber von dem Besitzer daran gehindert. Es blieb Leo nichts anderes übrig, als laut zu rufen.
„Die Männer sind weg, Sie sind vorerst in Sicherheit. Geht es Ihnen gut?“
„Mir geht es gut, danke. Vielen Dank für Ihre Hilfe.“
Sollte Leo gehen? Ging ihn das Problem der Frau überhaupt etwas an? Er hatte Urlaub und wollte sich entspannen.
„Was machst du hier? Wir haben dich gesucht.“ Georg und Sharif standen im Laden.
„Ich habe einer Frau geholfen, die verfolgt wurde.“
„Du darfst dich nicht einmischen! Hier gelten andere Gesetze und Regeln, Leo.“
„Das weiß ich. Die Frau ist eine Deutsche. Die Verfolger sahen europäisch aus.“
„Eine Deutsche? Wo ist sie jetzt?“
„Dort hinten. Sie bekommt ein Kleid geschneidert. Ich bin unsicher, ob ich sie allein lassen kann.“
„Du hast dich nicht verändert, Leo. Kaum ist jemand in Not, fühlst du dich verantwortlich. Wie heißt sie? Woher kommt sie?“
„Wir konnten noch nicht miteinander sprechen, es musste alles sehr schnell gehen.“
„Gut, warten wir und fragen wir sie. Wenn sich die Sache als harmlos herausstellt, geht es direkt ins Hotel. Versprochen?“
„Und wenn nicht?“
„Dann sehen wir weiter.“
Sharif verstand kein Wort. Da sich die Touristen nicht bewegten und aus einem ihm unverständlichen Grund in diesem in seinen Augen völlig überteuerten Geschäft bleiben wollten, blieb ihm nichts anderes übrig, als ebenfalls zu warten.
Die Frau erschien endlich. Sie sah wunderschön aus, die Schneiderin hatte ganze Arbeit geleistet.
„Sie haben auf mich gewartet?“
„Ja. Ich möchte sichergehen, dass Sie nicht mehr belästigt werden. Das ist mein Freund Georg Obermaier und das ist unser Fahrer Sharif.“
„Ich bin Sabine. Lächeln Sie, niemand darf misstrauisch werden. Es soll so aussehen, als wären wir alte Bekannte. Wie ist Ihr Name?“
„Ich bin Leo, Leo Schwartz.“
„Gut, dass Sie geblieben sind, Leo. Haben Sie Geld dabei? Ich habe weder Ägyptische Pfund, noch Euro bei mir. Mein Plan war, einfach davonzulaufen und die Zeche zu prellen. Darauf kann ich jetzt zum Glück verzichten. Würden Sie mir das Geld auslegen? Sie bekommen es auch ganz bestimmt zurück.“
„Selbstverständlich. Betrachten Sie das Kleid als ein Geschenk.“ Leo zückte seinen Geldbeutel. Georg war überrascht, denn Leo war als Schwabe für seine Sparsamkeit bekannt. Ob es am Alkohol lag, dass er so spendabel war? Ja, das musste es sein, denn er konnte sich nicht vorstellen, dass Leo sich in diesem Punkt so sehr verändert hatte.
Der Verkäufer schrieb eine Zahl auf einen Zettel. Jetzt schritt Sharif ein und diskutierte laut mit dem Mann. Das gab den dreien die Gelegenheit, miteinander zu sprechen.
„Von wem wurden Sie verfolgt?“, wollte Georg wissen, der die Frau auffällig musterte. Ja sie war hübsch, keine Frage, trotzdem blieb er misstrauisch.
„Das ist eine lange Geschichte. Und es ist meine Geschichte, in die ich Sie nicht hineinziehen möchte. Ich möchte mich nochmals herzlich bedanken, Leo. Für die Hilfe und für das Kleid. Damit kann ich hoffentlich unerkannt in der Menge untertauchen.“ Georg hatte daran seine Zweifel, denn die Frau sah aus wie ein glitzerndes, pinkfarbenes Bonbon. Für Leo war das eine landestypische Tracht, mehr nicht.
Sharif drehte sich strahlend um und übergab Leo den Zettel, auf dem eine neue Zahl stand. Sharif hatte es tatsächlich geschafft, den Betrag fast zu halbieren.
Leo bezahlte und sie gingen nach draußen. Gerade, als Sabine gehen wollte, entdeckte sie die beiden Verfolger, die von einer anderen Seite auf sie zukamen. Sie drehte sich um und hakte sich bei Leo ein.
„Würden Sie mir noch einmal helfen? Ich muss aus der Stadt raus, und zwar so schnell wie möglich.“
Jetzt sah auch Leo die beiden Männer und nickte nur. Er griff in den Plastikbeutel und zog das Tuch hervor, das er für Tante Gerda gekauft hatte. Er reichte es Sabine, die es sich sofort um den Kopf band. Georg verstand, nur Sharif schien beleidigt, dass sich die beiden Touristen entgegen seinem Vorschlag vom Markt entfernten und auf das Taxi zugingen. Sharif hatte anfangs nicht verstanden, was die Frau mit den beiden zu tun hatte, aber das ging ihn nichts an. Sie sprachen dieselbe Sprache und es war offenbar so, dass man sich irgendwie geeinigt hatte. Die Frau schien nun ebenfalls sein Fahrgast zu sein, den er extra berechnen musste; es sollte ihm recht sein.
Als Sharif endlich davonfuhr, waren die Deutschen erleichtert. Sabine war versucht, sich umzudrehen, aber Leo hielt sie davon ab.
„Bleiben Sie ganz ruhig. Wir müssen uns so normal wie möglich benehmen.“
„Um was geht es hier eigentlich? Wer sind diese Männer? Was haben Sie angestellt?“, drängelte Georg.
„Wie gesagt, möchte ich Sie nicht in die Sache hineinziehen. Sie sind beide sehr nett, vor allem Sie, Leo. Sie haben mich erneut gerettet. Lassen Sie mich irgendwo aussteigen.“
Georg hörte das gerne. Die Frau bedeutete Ärger, den konnte er riechen. Je eher sie verschwunden war, desto schneller hatten sie ihre Ruhe.
„Das kommt überhaupt nicht in Frage“, sagte Leo. „Sie sind in Gefahr und wir sehen es als unsere Pflicht an, Ihnen beizustehen.“
Georg riss die Augen auf. Hatte er richtig gehört? Was für einen Müll laberte Leo denn da?
„Seien Sie mir nicht böse, aber Sie können mir nicht helfen. Die Sache ist kompliziert. Die Leute, die hinter mir her sind, verstehen keinen Spaß.“
„Wir sind vom Fach. Darf ich mich nochmals vorstellen? Leo Schwartz, Kriminalpolizei Mühldorf am Inn. Mein Freund Georg ist ebenfalls bei der Polizei, er arbeitet beim Innenministerium in Berlin. Sie sehen, dass wir es gewohnt sind, mit gefährlichen Menschen umzugehen.“
„Kriminalpolizei? Wollen Sie mich verscheißern?“
„Nichts liegt uns ferner.“ Leo zeigte seinen Ausweis vor. Georg hörte mit offenem Mund zu. Was machte Leo da? Statt in Ruhe den Urlaub zu genießen, riss er Probleme an sich, die sie nichts angingen.
„Es ist besser, wenn Sie mich einfach rauslassen und schnell vergessen.“
„Das glaube ich nicht. Wir werden uns in Ruhe unterhalten und Sie erzählen uns Ihre Geschichte. Danach können wir immer noch entscheiden, wie wir uns verhalten. Einverstanden?“
„Gut, wie Sie wollen. Versteht Ihr Fahrer unsere Sprache?“
„Nein, kein Wort.“
„Ich bin Journalistin und war einem besonders dreisten Fall von Kunsthandel auf der Spur. Seit zwei Jahren werden europäische Museen mit vermeintlich echten ägyptischen Kunstschätzen beliefert, wobei vor allem Deutschland und England betroffen sind. Als ich davon hörte, ging ich der Sache nach, da sie mir interessant schien.“
„Das ist doch nichts Neues“, wandte Georg ein. „Der Handel mit gefälschten Kunstschätzen betrifft jedes Land auf dieser Welt.“
„Wenn Sie mir Zeit geben würden, mich zu erklären, dann wüssten Sie bereits, dass es nicht darum geht. Ich habe also bezüglich dieser gefälschten Kunstschätze recherchiert. Ich bekam einen Tipp, dem ich sofort nachging, nachdem ich mich in einer Sackgasse befand und nicht mehr weiterkam. Ich gebe zu, dass der Tipp aus einer zwielichtigen Quelle stammte. Trotzdem schien mir die Spur heiß. Der Weg führte mich in die Innenstadt Kairos zu einem herrschaftlichen Anwesen, in dem die gefälschten Kunstschätze angeblich lagern sollten. Ich habe mir Zugang verschafft…“
„Sie sind in das Haus eingebrochen?“
„Denken Sie, die Bewohner hätten mir freiwillig die Tür geöffnet und mir die Stücke präsentiert? Selbstverständlich bin ich eingebrochen! Ich habe das Haus durchsucht, ein Zimmer nach dem anderen. Im Keller des Hauses bin ich fündig geworden. Ich fand aber keine gefälschte ägyptische Kunst, sondern Raubkunst aus dem Zweiten Weltkrieg.“
„Bitte? Sie wollen uns erzählen, dass Sie rein zufällig auf Raubkunst gestoßen sind und diese sofort erkannten?“ Georg war erschrocken, mit einer solchen Geschichte hatte er nicht gerechnet.
„Ja, das habe ich. Ich interessiere mich für Kunst, habe sogar vier Semester Kunst studiert, bevor ich das Studienfach gewechselt habe. Ich kenne nicht alle Stücke, die im Dritten Reich und nach Kriegsende verschwunden sind, aber die bekanntesten erkenne ich. Ich habe Fotos gemacht. Leider wurde ich unvorsichtig, man hat mich entdeckt. Mein Verfolger hat mir die Tasche entrissen, ich habe kein Geld und keine Papiere mehr. Und jetzt ist man hinter mir her.“
„Handel mit gefälschter Kunst? Und dazu Raubkunst aus dem zweiten Weltkrieg? Darum geht es?“, rief Leo enttäuscht. Er hatte sich eine persönliche Tragödie vorgestellt, in der er als strahlender Retter auftreten konnte. Lag das am Alkohol? Er musste sich zwingen, sich zu konzentrieren, damit er den Faden nicht verlor. Wenn er ehrlich war, verstand er nicht viel von dem, was die hübsche Frau mit dem losen Mundwerk von sich gab. Seit sie Georg angeschnauzt hatte, was ihn zum Schmunzeln gebracht hatte, konnte er nicht mehr ganz folgen.
„Wenn das alles der Wahrheit entspricht, wäre das der Hammer“, sagte Georg, der jedes Wort verstand und keineswegs beleidigt war, schließlich hatte er die Frau unterbrochen. Der Begriff Raubkunst war ihm nicht fremd, ganz im Gegensatz zu Leo, der zwar schon davon gehört hatte, aber nicht genau wusste, worum es dabei ging. „Ich habe darüber gelesen, dass es im zweiten Weltkrieg an der Tagesordnung war, dass Kunstwerke einfach enteignet wurden. Es gab nicht wenige Nazi-Größen, die im Besitz einer umfangreichen Kunstsammlung waren. Zum Kriegsende wollte man diese in Sicherheit bringen. Waggonladungen voller Kunstgegenstände sind zum Kriegsende 1945 und kurz danach spurlos verschwunden. Man munkelt, dass die Alliierten viele Kunstschätze nach Hause schickten, was aber nicht bewiesen werden konnte. Es gibt viele, viele Stücke, die immer noch verschwunden sind.“ Georg sprach langsam, da er Leo ansah, dass der keine Ahnung hatte, worum es ging. Leo hörte aufmerksam zu und verstand trotzdem nicht alles.
„Es gibt umfangreiche Literatur darüber“, sagte Sabine. „Sie können sich vielleicht vorstellen, wie erschrocken ich war, als ich vor Vincent van Goghs Maler auf der Strasse zu Tarascon stand. Das Selbstbildnis des Künstlers zählt zu den berühmtesten Bildern, die aus ungeklärten Umständen seit dem zweiten Weltkrieg verschwunden sind. Man vermutet, dass es 1945 bei einem Brand zerstört wurde, aber bewiesen wurde das nie.“
„Wie viel ist das Bild wert?“, brachte sich Leo ein, der sich mit Kunst überhaupt nicht auskannte.
„Es hat einen sehr hohen Schätzwert, man kann von einer hohen zweistelligen Millionensumme ausgehen, aber das ist nur eine Vermutung meinerseits. Museen und private Sammler würden sich darum reißen und jede Summe bezahlen.“
„Und Sie sind sicher, dass es sich um das echte Gemälde handelt?“
„Ich bin, wie gesagt, Journalistin und keine Kunstkennerin. Sie hätten sehen müssen, wie die Kunstwerke im Keller des Kairoer Hauses gelagert werden. Das und die Tatsache, dass ich bis nach Hurghada verfolgt wurde, bestätigt mir die Echtheit. Was nicht heißt, dass man nicht Fachleute hinzuziehen sollte. Ich persönlich bin davon überzeugt, dass ich da auf echte Raubkunst gestoßen bin. Das ist eine Sensation!“
„Die Raubkunst befindet sich in Kairo? Sie wollen mir sagen, dass Sie von dort bis nach Hurghada verfolgt wurden?“
„Endlich haben Sie verstanden! Sehen Sie jetzt auch, dass ich mit meiner Vermutung richtig liege, dass es sich um echte Raubkunst handeln muss?“
Georg nickte.
„Es ist besser, ich sage Ihnen nicht, wo genau die Kunstschätze aufbewahrt werden. Je weniger Details Sie wissen, desto besser für Sie. Außerdem kennen wir uns nicht. Ich habe mich mit der Wahrheit sowieso schon viel zu weit aus dem Fenster gelehnt. Ich wollte Ihnen lediglich meine Situation erklären. Lügen gehört nicht zu meinen größten Stärken.“ Sabine Kofler stand unter Druck, außerdem hatte sie große Angst und sie war auf die Hilfe der fremden Polizisten angewiesen. Jetzt war sie nicht mehr allein und vielleicht fand sich eine Möglichkeit, wie sie sich aus dieser Situation befreien konnte. Warum hatte sie sich nur auf die Spur der gefälschten ägyptischen Kunst gemacht? Mit großem Elan hatte sie vor knapp zwei Wochen dieses Abenteuer angetreten. Fest entschlossen, diesem Handel mit gefälschter ägyptischer Kunst ein Ende zu setzen. Die Händler gingen sehr dreist vor. Sie legten Fotos von echter Kunst vor, verschickten aber plumpe Fälschungen, die man schon von Weitem als solche erkannte. Dann tauchten die Händler unter. Einer der Museumsdirektoren in England verlor deshalb schon seinen Job. Es war nur eine Frage der Zeit, wann ihm andere nachfolgten. Obwohl das bekannt war, fielen immer wieder Museen und Privatsammler auf diese Masche herein. Sabine wollte der Sache auf den Grund gehen und versprach sich von der Aufdeckung sehr viel. Ihr Job war sehr hart und es war nicht leicht, gutes Geld damit zu verdienen. Das konnte endlich der Durchbruch sein, auf den sie schon so lange wartete. Sie hatte ihre Ersparnisse zusammengekratzt und recherchierte auf eigene Faust, nachdem Magazine und Zeitungen nicht darauf ansprachen und sie nicht unterstützen wollten. Egal, das schaffte sie auch alleine!
Seitdem war sehr viel geschehen. Sie hatte mit viel Arbeit und mit Hilfe ihrer Kontakte einige Hintermänner ausfindig gemacht, die offenbar mit dem schmutzigen Handel in Verbindung standen. Der Ire John McCarthy schien eine Rolle zu spielen, ebenso die Deutsche Karin Bergmann. Beide waren in der Kunstszene bekannt, fielen aber bisher nie negativ auf. Sowohl McCarthy, als auch Bergmann arbeiteten in berühmten Museen und wurden gerne als Kunstexperten zu Rate gezogen. Sabine war überrascht gewesen, dass gerade diese beiden in diese dreckigen Geschäfte verwickelt schienen. Noch fehlten ihr die Beweise, die ihre Annahme stützten. Wenn dem so war, dann waren die beiden lediglich die Vermittler. Wer der Kopf der ganzen Bande war, hatte sie noch nicht herausgefunden. Sie hatte Fotos gemacht. Sowohl von den echten Kunstschätzen, als auch von den gefälschten. Auch das Gebäude und die Straße hatte sie fotografiert.
Sie floh bis Hurghada, wo sie glaubte, vorerst sicher zu sein. Wie konnten diese Leute sie finden? Das war ihr immer noch ein Rätsel. Sie hatte sich den beiden fremden Deutschen anvertraut, allerdings hatte sie nicht ganz die Wahrheit gesagt. Bei dem Schmuck hatte sie zugegriffen und eine besonders schöne Kette in die Tasche gesteckt. Ob es sich um ein wertvolles Stück handelte, konnte sie nur vermuten. Die Kette mit dem Amulett war sicher sehr alt, oder war das eine Fälschung? Warum dann das Hakenkreuz neben der Gravur? Das war jetzt nicht wichtig. Sie trug diese Kette unter dem Kleid. Sollte sie den beiden Fremden davon erzählen?
„Sie sagten, Sie hätten Fotos gemacht“, riss Georg sie aus ihren Gedanken. „Wie ich sehe, haben Sie keine Tasche dabei.“
„Ich habe die Speicherkarte meiner Kamera bei mir. Wenn mir meine Tasche nicht entrissen worden wäre, hätte ich meinen Pass noch und hätte längst das Land verlassen. Ohne Pass und Geld bin ich gezwungen, hier zu bleiben.“
Beide Männer sahen die Frau an. Wo sollte sie die Speicherkarte haben? Jetzt musste Sabine lachen, was ihr sehr gut tat.
„Sie suchen nach der Speicherkarte? Sie steckt in meinem BH.“
„In meinem Hotelzimmer habe ich einen Laptop. Wenn Sie erlauben, werden wir uns die Bilder ansehen.“
„Gerne.“ Sabine willigte schnell ein. Was blieb ihr anderes übrig? Wo sollte sie allein und ohne Geld und Papiere hin? Die indirekte Einladung der Deutschen kam ihr gelegen. Damit hatte Sie Zeit gewonnen, sich eine Lösung ihres Problems zu überlegen.
Sharif war die ganze Zeit still gewesen. Wenn seine Fahrgäste auf ihn aufmerksam wurden, lächelte er nur. Er verstand nicht viel, was die Frau von sich gab. Aber das, was er hörte, reichte ganz sicher aus, um Informationen verkaufen zu können. Er hatte den Namen Vincent van Gogh verstanden, sowie John McCarthy und Karin Bergmann. Er musste die beiden Personen finden und ihnen ein Angebot machen. Dazu musste er so schnell wie möglich seinen Bruder Ahmed kontaktieren. Der war in diesem Fall genau der Richtige für den Job, denn er selbst hatte dafür keine Zeit.
Georg bezahlte Sharif und gab ihm ein üppiges Trinkgeld, was diesen jedoch nicht davon abhielt, die Deutschen zu verraten. Er rief seinen Bruder an und gab ihm die Informationen. Dann wartete er; auf den Rückruf und auf neue Fahrgäste.
Als sein Bruder sich meldete, lächelte Sharif zufrieden.
„Ich habe Karin Bergmann ausfindig machen können. Die Information hat sich gelohnt, großer Bruder. Ich bringe dir morgen deinen Anteil.“
„Wie viel ist es?“
„Ich musste nicht lange verhandeln. Die Frau hat mir sofort zwanzigtausend Pfund angeboten, ich habe sie auf dreißigtausend bringen können.“
„Das hast du sehr gut gemacht! Ich bin stolz auf dich, kleiner Bruder.“ Sharif war zufrieden. Der heutige Tag hatte sich richtig gelohnt.
Karin Bergmann war überrascht, als sich ein Einheimischer telefonisch bei ihr meldete, der seinen Namen nicht nannte. Sie brauchte nicht lange, um zu verstehen, welche brisanten Informationen er für sie hatte. Die Journalistin befand sich also in El-Gouna. Wie kam sie bis dahin? Das war jetzt nicht wichtig. Die Frau, die die Fotos gemacht hatte, war endlich gefunden worden. Sie rief John an und gab ihm die Information sofort durch.
3.
„Ich bin es.“ Mehr sagte der Mann nicht, der sich als Adolf Maier ausgab. Ob das sein richtiger Name war?
„Schön, dass Sie sich melden.“
„Ich habe Ihnen für den van Gogh ein Angebot gemacht. Wie sieht es aus? Bekomme ich das Bild endlich?“
„Wenn Sie noch eine Schippe drauflegen, sieht es sehr gut für Sie aus. Sie müssen wissen, dass noch ein weiterer Bieter im Rennen ist. Allerdings ist er Franzose und ich mag die Franzosen nicht. Ich würde sehr viel lieber an einen Deutschen verkaufen, in das Land meiner Vorfahren.“
„Sie sind ein Halsabschneider, wie er im Buche steht. Gut, ich lege noch fünfzigtausend drauf, aber dann ist endgültig Schluss. Bekomme ich jetzt endlich den Zuschlag?“
„Wir wollen doch fair bleiben, Herr Maier. Ich muss dem Franzosen zumindest die Chance geben, dass er sein Angebot verbessert. Patriotismus hin oder her; in erster Linie bin ich Geschäftsmann.“
„Sie sind kein Geschäftsmann, Sie sind ein Halunke. Sie sind gierig und machen Versprechungen, an die Sie sich dann doch nicht halten. Vorhin sagten Sie noch, dass ich das Bild bekomme, wenn ich mein Angebot erhöhe. Mehr als fünfzigtausend sind nicht mehr drin, mein Limit ist erreicht.“ Der Mann schnaubte vor Wut. Diese Verhandlung zog sich seit Wochen hin. Obwohl er die Summe beinahe täglich erhöhte, bekam er den Zuschlag immer noch nicht. Es war an der Zeit, endlich andere Seiten aufzuziehen. „Hören Sie mir gut zu, Schweighofer. Ich weiß sehr gut, wer Sie sind und woher die Kunstwerke stammen. Ihr Onkel war einer der engsten Mitarbeiter von Ernst Kaltenbrunner. Ich brauche Ihnen nicht erklären, welche Rolle Kaltenbrunner im Dritten Reich gespielt hat?“
Siegfried Schweighofer stöhnte auf. Damit, dass der Interessent so tief graben und die Wahrheit herausfinden würde, hätte er niemals gerechnet.
„Sie schweigen? Also wissen Sie es. Die Kunstwerke, die Sie anbieten, stammen aus dem Nachlass Ihres Onkels, der hochbetagt und von den deutschen Behörden völlig unbehelligt vor fünf Monaten in Kairo verstarb, wo er seit 1947 lebte. Bei den Kunstwerken handelt es sich um Raubkunst, die auf dem freien Markt nicht angeboten werden kann. Ich möchte Sie daher bitten, mit Ihren Spielchen endlich aufzuhören.“
„Es stimmt alles, was Sie sagen. Und trotzdem wollen Sie das Bild unter allen Umständen haben.“
„Allerdings. Und weil Sie das wissen, treiben Sie den Preis immer weiter nach oben. Ich möchte das Bild haben und meine persönliche Schmerzgrenze ist nun erreicht. Sollten Sie mir das Bild nicht übergeben, sehe ich mich gezwungen, die Behörden einzuschalten. Wenn ich das Bild nicht bekommen kann, wird es kein anderer kaufen können. Und Sie verlieren sehr viel Geld. Überlegen Sie, wie Sie sich entscheiden, Schweighofer.“
„Sie bluffen, Maier. Welche Informationen wollen Sie den Behörden geben? Außer dieser Telefonnummer und meinem Namen haben Sie nichts.“
„Unterschätzen Sie mich nicht. Ich weiß, dass Sie in Kairo leben. Es ist für mich eine Kleinigkeit, Ihre Adresse rauszufinden, was mich eigentlich herzlich wenig interessiert. Ich möchte nur das Bild, mehr nicht.“
„Schon gut, Sie bekommen den van Gogh. Ich werde Ihnen das Bild wie vereinbart übergeben. Wohin soll ich es bringen?“
„Na also! Ich wusste, dass wir uns schlussendlich doch einig werden. Den Übergabeort werde ich Ihnen spätestens in zwei Tagen mitteilen.“
„Wie Sie wollen. Heute ist Mittwoch. Ich könnte Ihnen das Bild am Sonntag übergeben. Es versteht sich von selbst, dass ich das Geld in bar entgegennehme.“
„Sonntag wäre hervorragend. Die Summe bekommen Sie in bar überreicht, Sie können sich darauf verlassen.“
„Ich erwarte Ihre Anweisungen für die Übergabe.“
„Sie werden verstehen, dass ich Ihnen nicht vertraue, deshalb werde ich einen Gutachter mitbringen, der das Bild umgehend prüfen wird. Sobald er grünes Licht gibt, bekommen Sie Ihr Geld.“
„Einverstanden.“
Adolf Maier lehnte sich zurück und lächelte.
„Hat er angebissen?“
„Ja.“
„Endlich.“
„Lass uns einen geeigneten Ort für die Übergabe finden. Alles muss perfekt laufen, wir dürfen uns keinen Fehler leisten.“
Siegfried Schweighofer schenkte sich einen Wodka ein. Er hatte für das Bild mehr bekommen, als er ursprünglich dafür haben wollte. Kunst war nicht sein Metier. Gefälschte Kunst ja, da konnte er sich preislich an adäquaten Objekten orientieren. Aber bei Kunst großer Meister aus den vergangenen Jahrhunderten musste er passen. Er hatte zwei Experten an seiner Seite, die ihm gerade zu Beginn der Zusammenarbeit diesbezüglich eine große Hilfe waren. Inzwischen hielt er sich nur vage an die Vorgaben von John und Karin. Er machte seine eigenen Preise und stieg hoch ein, was ihm bei dem van Gogh entgegenkam. Ja, er hatte hoch gepokert und einen vermeintlichen Mitbieter erwähnt, den es nicht gab. Dieser Maier war geradezu vernarrt in den van Gogh. Aber dessen Schmerzgrenze war erreicht und der Deal konnte über die Bühne geben. Am Sonntag war er um einige Millionen reicher. Was für ein herrliches Gefühl, das leider nicht nur durch das plötzliche Auftreten dieser deutschen Journalistin getrübt wurde. Was Schweighofer zusätzliche Kopfschmerzen bereitete, war die Tatsache, dass Maier über die dunkle Geschichte seines Onkels Bescheid wusste. Sein Onkel Friedrich war ein schwieriger Charakter, der Zeit seines Lebens Nationalsozialist geblieben war. 1946 floh Friedrich Schweighofer gemeinsam mit seiner Schwester und seiner Mutter zunächst nach Tunesien, danach ging es nach Kairo. Dort wurde er selbst 1955 geboren. Seine Mutter verstarb früh, er konnte sich nicht mehr an sie erinnern. Wer sein Vater war, blieb immer ein Geheimnis, auch wenn er noch so sehr bohrte und Fragen nach seinem leiblichen Vater stellte. Er wuchs bei der Großmutter auf, die stets darauf achtete, dass er eine deutsche Schule besuchte und nur Umgang mit Deutschen pflegte. In diesem Punkt waren sich der Onkel und die Großmutter einig. Aber das umging er, indem er sich selbst Freunde suchte, von denen beide nichts ahnten. Siegfried schenkte sich einen weiteren Wodka ein, schließlich gab es etwas zu feiern. Während er trank, hatte er das Bild seines Onkels vor sich. Groß, stattlich und stets korrekt, wenn es um seine Prinzipien ging. Was für ein verbohrter Trottel! Siegfried konnte sich noch sehr gut an die vielen Diskussionen mit seinem Onkel Friedrich erinnern, die er vor allem im Teenageralter mit ihm geführt hatte und die oft sehr heftig verliefen. Er konnte das braune Gedankengut, das bei seinem Onkel stark ausgeprägt war, sowie die Verherrlichung des Dritten Reiches nicht nachvollziehen. Mit Anfang zwanzig brach er mit seinem Onkel. Bei der Beerdigung der Großmutter sahen sie sich nach vielen Jahren wieder. Siegfried hatte gehofft, dass sich sein Onkel geändert hätte, aber stattdessen war er noch fanatischer geworden. Vor fünf Monaten verstarb sein Onkel im hohen Alter von achtundneunzig Jahren. Der alte Zausel war sehr zäh gewesen und hatte jeden seiner damaligen Weggefährten überlebt, mit denen er stets an einem Plan gearbeitet hatte, wie man Deutschland wieder vernünftig aufbauen konnte. Zum Glück waren das Hirngespinste verbohrter Fanatiker, die man nicht für voll nahm und die keinen Schaden anrichten konnten. Siegfried wurde als noch einzig lebender Verwandter gebeten, die Hinterlassenschaften seines Onkels zu regeln. Anfangs wollte er das Erbe nicht antreten, nahm es aber dann doch an – Familie war eben Familie, auch wenn man sich die nicht aussuchen konnte.
Er hasste die Entrümpelung des alten, muffigen und heruntergekommenen Hauses. Bis er im Keller hinter einem Bretterverschlag auf diverse Kunstwerke stieß. Nicht nur Bilder, sondern auch Skulpturen und Schmuck verschiedenster Art. Sogar zwei Goldbarren, mit einem Hakenkreuz versehen, fand er in eine alte Decke gewickelt. Anfangs ging Siegfried von billigen Kopien aus, bis er auf der Rückseite eines Bildes den Aufkleber des Berliner Kunstmuseums fand. Die Machart und die Schrift wiesen auf längst vergangene Zeiten hin. War der Aufkleber echt? Hektisch suchte er nach einem verschwiegenen Kunstkenner, den er in John McCarthy fand. McCarthy kam mit einer Kollegin, Karin Bergmann, die sich besonders auf niederländische Maler spezialisiert hatte.
„Woher stammen diese Kunstwerke? Wie kamen sie hierher?“, frage John McCarthy aufgeregt. Siegfried hatte längst bemerkt, dass das Interesse der beiden Kunstkenner sehr groß war. Die Stücke waren echt, das lag auf der Hand.
„Mein Onkel war im Zweiten Weltkrieg ein enger Mitarbeiter von Ernst Kaltenbrunner. Ihnen sagt der Name etwas?“
„Selbstverständlich!“ McCarthy und Bergmann hingen an Siegfrieds Lippen. „Gibt es Unterlagen Ihres verstorbenen Onkels? Oder Fotos?“
„Nein, ich habe nichts dergleichen gefunden.“
„Welche Position hatte Ihr Onkel während des Zweiten Weltkrieges inne?“
„Darüber, was mein Onkel genau gemacht hat, hat er nie gesprochen. Er schwärmte Zeit seines Lebens von seiner Militärzeit, er war ein glühender Verehrer vom Führer und von Kaltenbrunner. Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass er jedes Jahr zu den Geburts- und Todestagen der beiden Kerzen anzündete und in die Kirche ging. So absurd diese Rituale auch waren, so wenig war er davon abzubringen.“
„Hat Ihr Onkel jemals Altaussee erwähnt?“
„Ja, sehr oft sogar. Nach seinen Aussagen war das der schönste Ort, den er kannte. In Altaussee hatte Kaltenbrunner ein Anwesen, in dem mein Onkel nach dessen Erzählungen ein- und ausging. Wenn ich mich recht erinnere, hat er auch immer wieder eine Blau-Alm erwähnt.“
„Könnte der Name auch Blaa-Alm gewesen sein?“
„Ja, das könnte sein.“
„An was können Sie sich noch erinnern? Denken Sie nach!“
„Was verlangen Sie da von mir? Mein Onkel lebte nur in der Vergangenheit und erzählte viele alte Geschichten, die mich nicht interessierten.“
„Dann helfe ich Ihnen auf die Sprünge: Waldenburg, Liebichau, Königsberg und das Schloß Fürstenstein? Projekt Riese? Klingelt’s?“
„An dieses Schloß kann ich mich erinnern, auch Königsberg sagt mir etwas. Mehr fällt mir nicht ein, leider.“
Bergmann und McCarthy waren nicht enttäuscht, ganz im Gegenteil.
„Ihr Onkel ist nach Kriegsende aus Deutschland geflohen?“
„Ja.“
„Was wissen Sie darüber?“
„Mein Onkel floh mit seiner Schwester, also meiner Mutter, und meiner Großmutter. Ich weiß, dass die erste Station Tunesien war…“
„Welcher Hafen?“
„Tunis. Ein Freund hatte ein Haus in Hammamet zur Verfügung gestellt…“
„Das ist es, das ist das letzte Puzzlestück. Alle Informationen stimmen mit meinen umfangreichen Recherchen überein“, rief Karin Bergmann aufgeregt. Sie hatte sich viele Jahre mit der Suche nach der verschwundenen Raubkunst beschäftigt, bis ihr die Spuren und vor allem das Geld ausgingen. Eine dieser Spuren führten sie über Tunis und Hammamet bis nach Kairo. Dreizehn Jahre waren seitdem vergangen. Und jetzt das!
John McCarthy und Karin Bergmann sahen sich fassungslos an.
„Sie haben keinen blassen Schimmer, was das hier ist, Herr Schweighofer?“
„Selbstverständlich habe ich keine Ahnung. Was glauben Sie, warum ich mir Hilfe geholt habe.“
„Das ist eine Sensation!“, sagte McCarthy. „Bei all diesen Kunstwerken handelt es sich Raubkunst aus dem Zweiten Weltkrieg, die als verschollen gilt.“
Karin Bergmann klatschte begeistert in die Hände. „Es gibt über Raubkunst die wildesten Geschichten, denen allen nachgegangen wurde. Spuren führten in die unterschiedlichsten Richtungen. Und eine davon ist Hammamet in Tunesien, die bis nach Kairo führt. Ich bin mir sicher mit dieser Spur, ich habe sie selbst verfolgt und Beweise dafür gesammelt.“
„Leider sind in den letzten Jahrzehnten nur wenige Stücke aufgetaucht, ein Großteil ist immer noch verschwunden. Was hier in diesem unscheinbaren Keller steht, ist der Wahnsinn! Nach dem, was Sie uns eben geschildert haben, hat Ihr Onkel die Kunstwerke nach Kriegsende außer Landes gebracht und seitdem in seinem Keller verwahrt. Kaltenbrunner hatte den Befehl, die Raubkunst in Sicherheit zu bringen. Es sieht danach aus, als hätte Ihr Onkel die Stücke für Kaltenbrunner, beziehungsweise dessen Nachkommen, aufbewahrt. Ich kann das immer noch nicht glauben!“
„Ein Halleluja auf Onkel Friedrich!“, rief Siegfried erfreut. „Wie teuer sind die Kunstwerke? Was schätzen Sie, was ich dafür bekomme?“ Für Siegfried stand es nicht zur Debatte, dass er dem Beispiel seines Onkels folgen wollte und alles für Kaltenbrunners Nachfahren aufheben wollte. Und wem sie davor gehörten, interessierte ihn schlichtweg nicht. Siegfried war der Erbe und nur ihm standen die Kunstschätze zu.
„Über die Werte können wir nur spekulieren, wir sprechen über astronomische Summen. Allerdings muss ich Sie enttäuschen. Jedes einzelne Kunstwerk ist auf dem freien Markt unverkäuflich. Es ist Raubkunst, was bedeutet, dass die rechtmäßigen Besitzer gefunden werden müssen. Sobald das geschehen ist, wird denen dann das Eigentum ausgehändigt.“
„Kann ich wenigstens mit einem anständigen Obolus rechnen?“
„Wohl kaum, schließlich wurden die Stücke von Ihrem Onkel geschmuggelt und gehörten ihm nicht.“
„Sie meinen, ich gehe leer aus?“, rief Siegfried.
„Was die Kunstwerke betrifft, ja.“
Siegfried war enttäuscht. Er hatte bereits von einem Leben in Reichtum geträumt – und jetzt das!
„Vergessen Sie die beiden Goldbarren nicht. Das Hakenkreuz darauf ist kein großes Problem. Man könnte die Barren einschmelzen und das Gold dann problemlos veräußern. Bei dem Schmuck wäre ich vorsichtig, der ist sehr speziell. Trotzdem denke ich, dass die Schmuckstücke unter der Hand noch recht einfach zu verkaufen sind. Aber die Gemälde und Skulpturen sind für Sie nichts wert, da stimme ich meiner Kollegin zu.“
„Es gäbe bezüglich der Kunstwerke noch eine andere Möglichkeit“, sagte Karin Bergmann. Die Frau Mitte fünfzig arbeitete im Kairoer Kunstmuseum und konnte gerade so ihr Leben bestreiten. Für sie tat sich eine Chance auf, das zu ändern.
„Wovon sprechen Sie? Raus mit der Sprache!“
„Es gibt Sammler auf der ganzen Welt verstreut, die hohe Summen für Kunstwerke bezahlen.“
„Obwohl es sich um Raubkunst handelt?“
„Das ist vielen Sammlern egal. Was meinst du, John? Würdest du mitspielen?“
John verstand sofort, worauf Karin aus war. Er selbst hatte bereits auch an diese Möglichkeit gedacht.
„Ja, das würde ich durchaus. Allerdings verlange ich fünfundzwanzig Prozent.“
„Das klingt fair, das verlange ich auch. Was meinen Sie, Herr Schweighofer?“
„Moment!“, rief Siegfried, der langsam begriff, was hier eben passierte. „Sie meinen, ich soll Sie am Verkauf beteiligen? Mit jeweils fünfundzwanzig Prozent? Warum sollte ich das tun?“
„Weil wir die Kontakte haben, Sie aber nicht. Außerdem könnten wir Sie jederzeit den Behörden melden und Ihr Geheimnis ausplaudern. Ich finde, fünfundzwanzig Prozent für jeden klingt mehr als fair. Betrachten Sie die Sache nüchtern: Entweder, Sie bekommen fünfzig Prozent von einer stattlichen Summe, oder Sie bekommen nichts. Ich denke, Sie sind ein cleverer Mann, Herr Schweighofer. Die Entscheidung liegt auf der Hand.“
„Ich habe bis jetzt noch nichts über den Wert eines Bildes auf dem Schwarzmarkt gehört. Was, denken Sie, bringt zum Beispiel dieses Bild?“
„Das ist ein Bild von Raffael aus dem Jahre 1513/1514. Wir könnten auf dem Schwarzmarkt einen zweistelligen Millionenbetrag dafür bekommen. Was denkst du Karin?“
„Ja, das müsste locker möglich sein. Ich würde den Wert genauer beziffern, ich denke an elf bis zwölf Millionen.“
„Euro?“
„Ja.“
Siegfried konnte sein Glück kaum fassen. Nach der Enttäuschung sah er wieder Licht am Ende des Tunnels, und zwar ein sehr helles, großes Licht.
„Ich biete Ihnen jeweils zwanzig Prozent an. Schlagen Sie ein.“
Karin Bergmann und John McCarthy zögerten anfangs, dann schlugen sie ein.
„Die Bilder müssen hier weg, und zwar so schnell wie möglich. Dass sie in all den Jahrzehnten keinen Schaden genommen haben, grenzt an ein Wunder. Alles muss ab sofort unter idealsten Bedingungen gelagert werden“, entschied John und Karin stimmte zu. Die Bilder in einem heruntergekommenen Keller zu sehen, tat ihr fast weh. „Die Skulpturen, Vasen und den Schmuck nehmen wir ebenfalls mit. Die beiden Goldbarren gehören selbstverständlich Ihnen.“
„Aber wohin mit dem ganzen Zeug?“ Siegfried kratzte sich den Kopf. Seine kleine Wohnung am Rande Kairos war bis unters Dach mit gefälschter Kunst vollgestopft, ebenso die Garage und eine kleine Lagerhalle.
„Am besten, wir bringen alles zu mir nach Hause“, schlug John vor.
„Nein, das ist keine gute Idee“, widersprach Karin. „Was glaubst du, welch hohen Wellen die ersten Verkäufe schlagen werden? Es dauert nicht lange, und die Kunstszene gerät völlig aus den Fugen. Dein Name ist bekannt und das könnte uns verraten. Außerdem hast du ganz sicher nicht die idealen Voraussetzungen für die optimale Lagerung. Wir sprechen von wertvollen Kunstschätzen, die wir nicht in Gefahr bringen dürfen.“
„Was halten Sie davon, wenn ich mich um ein geeignetes Haus kümmere. Mich kennt man in der Kunstszene nicht“, schlug Siegfried vor, der bereits ein Haus im Auge hatte. Schon als kleines Kind hatte er das herrschaftliche Anwesen eines ehemaligen Bankiers bewundert, das seit einigen Monaten zum Kauf angeboten wurde. Mit dem Geld, das er für die beiden Goldbarren bekommen würde, wären die Finanzierung und die Ausstattung des Lagerraumes ein Klacks.
„Das klingt gut. Sie kümmern sich um ein geeignetes Haus und ich werde sofort meine Kontakte informieren. Außerdem müssen die Kunstwerke umgehend verpackt werden.“ John brannte geradezu. Endlich war es so weit, dass auch er ein großes Stück des Kuchens abbekam.
„Ich bleibe hier und überwache das Verpacken der Kunstwerke. Ich werde morgen damit beginnen, meinerseits aktiv zu werden. Wir beide sprechen uns ab, sobald Angebote vorliegen, John.“
„Auf jeden Fall. Wir müssen so viel wie möglich herausschlagen, das ist schließlich in unser aller Interesse.“
„Nur, damit wir uns richtig verstehen“, sagte Siegfried laut. „Ich bin der Chef! Alle Angebote und Verkäufe laufen ausschließlich über mich. Sie vermitteln die Kontakte und ich erledige den Rest. Haben wir uns verstanden?“
John und Karin waren keineswegs damit einverstanden und protestierten. Sie drohten damit, zur Polizei zu gehen und Siegfried anzuzeigen. Die beiden wurden immer lauter und waren sich sicher, den Mann damit unter Druck setzen zu können und ihm ihre Bedingungen zu diktieren. Siegfried hatte die ganze Zeit nur zugehört, dann zog er eine Waffe.
„Ich würde Ihnen beiden raten, mich nicht zu unterschätzen. Es steht außer Frage, dass die Kunstschätze mir gehören. Von rechtlicher Seite nicht, aber ich habe das Haus und alles, was darin ist, geerbt. Wenn ich möchte, kann ich das Haus mitsamt den Kunstschätzen in die Luft jagen und Sie können mich nicht daran hindern. Ich könnte auch ein Stück nach dem anderen verschenken, oder alles den Behörden übergeben. Sie sehen, dass nicht nur Sie ein Druckmittel gegen mich haben. Ich sage ihnen jetzt, wie ich mir die Zusammenarbeit vorstelle. Sie beide vermitteln die Kontakte, nennen mir den Schätzpreis auf dem Schwarzmarkt und ich übernehme den Rest. Ich lagere die Kunstschätze unter idealen Bedingungen ein und kümmere mich darum, dass sie beschützt werden. Dafür habe ich drei Mitarbeiter, auf die ich mich hundertprozentig verlassen kann. Darüber hinaus führe ich die Verkaufsverhandlungen und sorge dafür, dass jedes Kunststück sicher beim Käufer ankommt. Sobald ein Verkauf über die Bühne gegangen ist, bekommen Sie Ihren Anteil von jeweils zwanzig Prozent. Ich finde, dass Sie damit sehr gut leben können und dass das ein großzügiges Angebot ist, zumal die Hauptarbeit in meiner Hand liegt. Was meinen Sie? Entweder, es läuft so, wie ich es sage, oder die Sache ist gestorben.“ Siegfried hoffte darauf, dass die beiden zustimmten, denn ohne sie war er aufgeschmissen. Er pokerte hoch. Ob die beiden darauf eingingen?
„Einverstanden“, sagte John und reichte Siegfried die Hand.
„Ich auch“, sagte Karin enttäuscht, auch wenn sie viel Geld für wenig Arbeit bekam. Sie hatte darauf gehofft, dass ihr eintöniges Leben endlich aufregend werden würde, aber das war nach der Ansage offenbar nicht mehr der Fall.
Das Haus in der Innenstadt Kairos war bereits nach zwei Tagen bezugsfertig und der Umzug konnte stattfinden. Siegfried hatte das Gold einschmelzen lassen und es bereits verkauft. Damit hatte er ein üppiges Startkapital, mit dem alles sehr viel leichter und auch viel schneller ging. Siegfrieds Mitarbeiter Essam, Moustafa und Malcolm bewachten die Kunstwerke. Die drei hatten zwar keinen blassen Schimmer von Kunst, verstanden aber Siegfrieds Anweisung, ganz besonders sorgfältig mit den Stücken umzugehen und auf sie aufzupassen. Nichts und niemand würde sich daran zu schaffen machen, dafür garantierte jeder einzelne.
Die ersten Kontakte waren schnell geknüpft. Nicht alle sprangen auf die Beutekunst an, vielen war das Eisen zu heiß. Trotzdem rissen sich immer noch genug darum und boten sich gegenseitig hoch. Der Schmuck verkaufte sich sehr gut. Es gab darunter einen Siegelring, den Siegfried behalten wollte. Die üppigsten Stücke mit wertvollen Edelsteinen, wie Karin behauptete, warteten in einer Schatulle auf Interessenten. Zwei Bilder und vier Skulpturen waren ebenfalls bereits verkauft, die erzielten Beträge waren mehr als zufriedenstellend. Dann interessierte sich ein Herr Maier aus Deutschland für den van Gogh Maler auf der Strasse zu Tarascon aus dem Jahre 1888 und bot sagenhafte vierzehn Millionen Euro dafür. Siegfried hatte ihn auf sechzehn hochhandeln können – der Verkauf war perfekt. Alles lief prima, wenn nur nicht diese neugierige Frau aus Deutschland wie aus dem Nichts aufgetaucht wäre. John hatte sie im Lager entdeckt, als sie gerade dabei war, Fotos zu machen. Nach Johns Beschreibung musste es sich um die neugierige, penetrante Journalistin handeln, die sich bezüglich gefälschter ägyptischer Kunst nur zwei Tage vorher an ihn gewandt hatte. Er hatte die Frau abwimmeln können – und dann hatte sie die Raubkunst entdeckt, nachdem sie einfach ins Haus eingebrochen war. John war ihr sofort gefolgt, aber sie konnte durch ein unbewachtes Fenster im Erdgeschoss entwischen. Alle hatten sich angeschrien und sich gegenseitig die Schuld zugeschoben. Dass Siegfried seine Leute ordentlich zusammengestaucht hatte, war selbstverständlich. Aber was geschehen war, konnte er nicht mehr rückgängig machen. Dass die Frau beseitigt werden musste, stand außer Frage. Sie war ein Sicherheitsrisiko, das sie sich nicht leisten konnten.
John McCarthy wollte sich des Problems persönlich annehmen und überzeugte den Boss, ihm das zu übertragen. Zähneknirschend willigte Siegfried ein. Ob John der Richtige für den Job war? Der zarte, intellektuelle Mann sollte versuchen, eine Frau zu stellen und sie notfalls zu beseitigen? Das traute er ihm nicht zu. John gab sich kämpferisch und mutig, aber das war er beileibe nicht. Er war ein Feingeist und aß niemals mit den Fingern. Auch kannte er jedes musikalische Stück, das er ihm vorspielte. John und ein harter Mann? Niemals! Aber John gab nicht auf. Er versuchte, den Boss mit überzeugenden Argumenten weichzuklopfen. Erst, als dieser sich Malcolm als seinen Begleiter erbeten hatte, willigte Siegfried ein. Malcolm war genau der richtige Mann für den Job, ihm vertraute er blind.
John verstand den Boss so, dass er ihm vertraute und war zufrieden, was für die Zusammenarbeit sehr von Vorteil war. Er konnte beobachten, wie das Geld auf seinem Konto stetig anwuchs. Das neue Auto war bestellt. Außerdem hatte er einen Makler damit beauftragt, ihm ein angemessenes Anwesen zu besorgen. Beides wollte er sich von einer übereifrigen Journalistin nicht kaputtmachen lassen. Er würde sie jagen und zur Not selbst beseitigen. Sollte er das nicht schaffen, hatte er ja noch Malcolm an seiner Seite.
4.
Das Hotel in El-Gouna war riesig und machte einen sehr guten Eindruck, Leo war begeistert und pfiff durch die Zähne. Sabine war das Hotel egal. Sie war hier vorerst sicher und nur das war wichtig. Als Leo ausgestiegen war, sog er die salzhaltige Luft tief ein. Auch hier umwehte ihn ein starker, warmer Wind. Sein Kopf brummte. Nicht nur vom Alkohol, von dem er auf dem Flug nach Ägypten viel zu viel getrunken hatte, sondern von der wirren Geschichte, die Sabine erzählt hatte. Er musste sich eingestehen, dass er nicht alles verstanden hatte und musste daher schnell einen klaren Kopf bekommen. Ob es wirklich eine so gute Idee war, sich des Problems der Frau anzunehmen? Seit sein fünfundvierzigjähriger Freund Georg die ganze Geschichte gehört hatte, war er Feuer und Flamme, die anfängliche Ablehnung Sabine gegenüber war verschwunden. Georg wollte mehr Details wissen und löcherte die Frau mit Fragen, die sie ausführlich beantwortete. Leo konnte den Ausführungen schon lange nicht mehr folgen. Er brauchte eine kalte Dusche und sehr viel Kaffee. Sobald er wieder der Alte war, konnte er Sabine seine Fragen stellen. Aber das musste noch warten.
Das Einchecken war keine große Sache. Georg hatte das letzte freie Zimmer gebucht, das sich als Suite herausstellte. Wieviel das wohl kostete?
„Ich brauche eine Dusche. Bestellt bitte viel Kaffee“, sagte Leo und verschwand im Badezimmer, das fast größer war als seine Wohnung in Altötting.
Georg holte den Laptop aus seinem Hotelzimmer, nachdem er Kaffee auf die Suite bestellt hatte. Sabine blieb zurück. Sie setzte sich auf die Couch in Leos Suite und fühlte sich unwohl. Sie war allein mit einem fremden Mann, der nur einen Raum weiter nackt unter der Dusche stand. In welche Situation hatte sie sich begeben? Sie entschied, wieder zu gehen. Gerade, als sie die Türklinke in der Hand hatte, klopfte es. Erschrocken rannte sie ins Schlafzimmer und kroch unters Bett, was bei ihrer üppigen Figur nicht leicht war. Es klopfte wieder und wieder.
Georg hatte den Laptop unterm Arm und näherte sich der Suite. Er sah einen Mann, der mit einem Servierwagen vor der Tür stand und klopfte. Im ersten Moment dachte er, dass das der Zimmerservice mit dem Kaffee sei, den er selbst gerufen hatte. Aber dann bemerkte er eine Waffe, die hinten im Hosenbund des Mannes steckte. Georg war unbewaffnet und griff nach einem Feuerlöscher, der an der Wand hing. Ein Pärchen trat auf den Gang und sprach den vermeintlichen Kellner an, der nach einer gemurmelten Antwort das Weite suchte. Den Servierwagen ließ er stehen, den Georg davonstieß. Er klopfte mehrmals, bis Leo endlich öffnete.
„Was ist passiert?“, fragte dieser erschrocken, als er Georgs Gesichtsausdruck bemerkte.
„Schließ die Tür! Wir sind hier nicht sicher. Eben war ein Mann an der Tür, der eine Waffe bei sich hatte. Wir müssen weg. Wo ist Sabine?“
„Keine Ahnung.“
„Ich bin hier“, rief sie und krabbelte unter dem Bett hervor. Sie hatte jedes Wort gehört. „Es ist besser, wenn ich gehe, ich bringe Sie beide in Gefahr.“
„Dafür ist es zu spät, wir wissen bereits zu viel“, sagte Leo, der nach der eiskalten Dusche endlich wieder klar denken konnte. „Gehen wir ins Restaurant und mischen uns unter die Touristen. Vorher brauchen Sie etwas zum Anziehen, mit dem pinkfarbenen Kleid fallen Sie überall auf. In der Lobby ist eine Boutique.“
„Ich habe kein Geld.“
„Das übernehme ich. Gehen wir.“
Der Einkauf in der Boutique dauerte nicht lange. Während sich Sabine im Laden aufhielt, hielten Leo und Georg Ausschau nach Verdächtigen.
„Du hast uns in Teufels Küche gebracht“, sagte Georg vorwurfsvoll.
„Mach mir doch nichts vor, Georg. Du bist doch heilfroh, dass die Frau an uns geraten ist und wir die Chance haben, ihr zu helfen. Und das mit der Raubkunst interessiert dich doch brennend, stimmt’s? Versuche nicht, mir ein schlechtes Gewissen einzureden, das funktioniert nicht.“
Georg musste schmunzeln. Endlich war Leo wieder ganz bei sich. Ja, es stimmte, dass er sich für die Raubkunst interessierte. Und es käme ihm auch niemals in den Sinn, Sabine jetzt im Stich zu lassen. Es war für ihn selbstverständlich, dass er ihr helfen wollte. Und das gemeinsam mit Leo. Die Aussicht auf eine Zusammenarbeit mit seinem alten Freund gefiel ihm. Nach den trostlosen vergangenen Wochen gab es endlich wieder eine sinnvolle Aufgabe, in der er aufgehen konnte. Die Cocktails mit Blick aufs Meer konnten warten, dafür war später noch genug Zeit.
Nach zwanzig Minuten kam Sabine aus dem Laden, die beiden Männer hätten sie fast nicht erkannt. Sie trug einen bunten, knielangen Rock, ein blaues T-Shirt mit vielen Glitzersteinen, die ein Herz formten, dazu gelbe Turnschuhe. Die Haare waren zu einem Zopf gebunden. Sogar an eine Sonnenbrille hatte sie gedacht. Sie gab Leo die Kreditkarte zurück.
„Das soll jetzt weniger auffällig sein, als das hübsche Kleid?“ Leo konnte sich ein Lachen kaum verkneifen.
„Machen Sie sich nur lustig über mich. Das war alles, was es in meiner Größe gab“, versuchte sie, ihr Outfit zu entschuldigen. Sie hatte Größe 44/XL, was offensichtlich in Ägypten keine gängige Größe war. Sie war noch nie schlank gewesen, das hatte sie noch nie sonderlich interessiert. Das waren nur Äußerlichkeiten, mehr nicht. Für sie gab es Wichtigers im Leben, als sich nur wegen der Figur und des Gewichts zu kasteien.
Sie setzten sich in die Ecke des halbvollen Restaurants. Georg öffnete seinen Laptop und Sabine übergab ihm die Speicherkarte. Dafür musste sie in ihren BH greifen, was ihr aber nicht peinlich war. Die drei sahen gebannt auf den Bildschirm. Es folgten Bilder diverser Kunstwerke. Die ersten etwa dreißig Aufnahmen zeigten eindeutig ägyptische Kunst, danach kamen Aufnahmen von europäischen Meistern. Auch Skulpturen, Schmuck und Kunstgegenstände aus verschiedenen Materialien, von denen Leo nur Gold zu erkennen glaubte, waren dabei. Dann waren sie durch und Sabine steckte die Speicherkarte zurück in ihren BH.
„Ich habe keine Ahnung, was ich jetzt tun soll. Könnt ihr mir helfen? Ich bin mit meinem Latein am Ende.“
„Zuerst müssen wir dir einen Pass besorgen, das hat oberste Priorität. Wenn wir den haben, musst du schnell außer Landes.“ Leo duzte Sabine einfach, schließlich saßen sie im selben Boot.
„Ja, das wäre die beste Lösung. In Deutschland kann ich die Behörden informieren.“
„Der erste Weg in Ägypten ist der zur Deutschen Botschaft, das ist der wichtigste Schritt. Dort bekommst du Ersatzpapiere, die dir die Ausreise ermöglichen. Dafür müssen wir nach Kairo.“ Georg hatte die gewünschten Informationen im Internet rasch gefunden. „Mit dem Flugzeug wäre die Strecke in einer Stunde zu bewältigen, aber du hast keinen Pass. Also müssen wir die Straße nehmen, dafür brauchen wir einen Mietwagen. Es ist jetzt kurz nach drei. Bis wir in Kairo sind, hat die Deutsche Botschaft längst zu.“
„Wir sollten es versuchen.“
„Keine Chance. Erstens haben wir noch keinen Wagen. Und zweitens würden wir für die Strecke locker fünf bis sechs Stunden brauchen. Selbst wenn wir jetzt sofort losfahren würden, kämen wir in Kairo erst sehr spät an und müssten uns dort ein Zimmer suchen. Ich schlage vor, wir bleiben hier und fahren gleich morgen früh.“
„Du willst, dass wir hier im Hotel bleiben? Bist du verrückt geworden?“, rief Sabine.
„Georg hat recht, hier sind wir relativ sicher“, sagte Leo. „Sieh dich doch um, an jeder Ecke steht Wachpersonal.“
„Was den Typen vorhin ja mächtig abgeschreckt hat!“, maulte Sabine.
„Wir müssen nur darauf achten, dass wir uns immer zwischen einer Gruppe Touristen aufhalten und nirgends alleine sind. Nur dann sind wir sicher. Ich werde uns sofort einen Wagen besorgen. Morgen früh um vier Uhr geht es los, die Zeit bis dahin schaffen wir schon irgendwie. Einverstanden?“
Leo schob dem kleinen, schmächtigen Mann an der Rezeption, der sich ihm als Ahmed vorstellte, einen Schein zu.
„Bitte behalten Sie es für sich, dass ich den Wagen gemietet habe. Es soll eine Überraschung für meine Frau sein.“ Ob der Mann nachsehen würde, ob er alleine eingecheckt hatte? Jetzt war die Lüge raus und er konnte sie nicht mehr rückgängig machen. Leo ärgerte sich, er hätte nachdenken müssen.
„Selbstverständlich“, strahlte der Mann zu Leos Erleichterung. Bei Ahmed war er genau an den Richtigen geraten. Die Formalitäten wurden alle erledigt.
„Können Sie mir für heute einen Ausflug empfehlen? Wir würden gerne aufs Meer.“ Wieder schob er einen Schein über den Tisch. „Ich weiß, dass ich sehr spät dran bin, aber vielleicht können Sie drei Plätze organisieren? Meine Frau und ich würden gerne einen Freund mitnehmen.“
„Ich denke, dass ich da etwas machen kann.“ Ahmed tippte in seinen Computer, dann sprach er laut mit einem Mitarbeiter. Er griff zum Hörer und diskutierte, dann legte er auf.
„Wenn Sie sich beeilen, habe ich drei Plätze auf einem Ausflugsboot für Sie. Eine sehr schöne Tour, die Ihnen gefallen wird. Sie können Delfine beobachten. Ab und zu verirrt sich sogar ein Wal in das Gebiet, allerdings dürfen Sie keine allzu großen erwarten. Ich habe diese Tour gemeinsam mit meiner Familie schon viele Male gemacht und kann sie nur empfehlen. Das Boot legt in einer halben Stunde ab. Am Eingang wartet ein Taxi auf Sie, das Sie zum Hafen bringt. Ich hoffe, das ist Ihnen recht?“
„Ich wusste, dass ich bei Ihnen richtig bin, Ahmed. Sie sind mein Mann. Sie sorgen dafür, dass der Mietwagen so schnell wie möglich bereitsteht? Wir wollen spontan los. Wann genau, kann ich jetzt noch nicht sagen.“
„Sie können sich auf mich verlassen, Herr Schwartz, ich werde mich sofort darum kümmern. Das wird vermutlich heute nichts mehr werden. Morgen früh haben Sie den Wagen, das garantiere ich.“
„Früher nicht?“
„Ich sehe zu, was ich tun kann.“
Leo bezahlte den völlig überhöhten Preis für den Ausflug und legte einen weiteren Schein obendrauf.
„Beeilt euch, es geht auf ein Boot. Ein Taxi bringt uns hin.“
Ohne Fragen zu stellen, standen Sabine und Georg sofort auf und folgten Leo. Inmitten einer Touristengruppe wären sie für die nächsten Stunden sicher.
Während der kurzen Fahrt zum Hafen sahen sie sich immer wieder um. Es schien, als würden sie nicht verfolgt werden. Georg nahm sich fest vor, sich eine Waffe zu besorgen, denn ohne fühlte er sich nicht sicher. Er wusste, dass das riskant war, aber darauf konnte er jetzt keine Rücksicht nehmen. Wie sollte er Leo, Sabine und sich selbst schützen?
Die Bootsfahrt konnte keiner der drei genießen. Sie saßen zwischen Touristen, die alle mit Digitalkameras oder Filmkameras bewaffnet waren. Kinder jeden Alters langweilten sich und spielten Fangen, wobei sie den anderen immer wieder auf die Füße traten oder einander schubsten. Die beiden Einheimischen, die sich um die Touristen kümmerten, verkauften Getränke und schenkten ein undefinierbares alkoholisches Getränk aus, das Georg und Sabine dankend ablehnten; Leo hatte vorerst sowieso genug vom Alkohol. Laute Musik lief, wogegen einer der Männer mit einem mittelmäßigen Mikrofon ankämpfte und auf schlechtem Englisch die Umgebung beschrieb. Nach einer halben Stunde hatte Leo Kopfschmerzen. Von den angepriesenen Delfinen sah er nicht einen einzigen, an den von Ahmed erwähnten Wal glaubte er sowieso nicht. Leo mochte Delfine. Sehr schlaue und wunderschöne Tiere, die es offenbar gelernt hatten, sich den Blicken der Touristen zu entziehen.
Die Tour war gegen achtzehn Uhr endlich vorbei, seit einer halben Stunde war es bereits stockdunkel. Unter normalen Umständen hätte keiner der drei diese Tour gebucht, da es weniger um die Landschaft und um die Tiere ging, sondern nur um alkoholische Getränke und laute Musik. Viele der Mitreisenden waren stockbesoffen, einige mussten sich sogar übergeben. Endlich waren sie wieder an Land. Leo und Sabine hielten sich in der Nähe einer großen Gruppe auf, die zu einer Strandparty eines benachbarten Hotels wollten, Georg war in ein Gespräch mit einem Einheimischen vertieft.
„Wo bleibt Georg? Mit wem unterhält er sich?“
„Keine Ahnung.“
Leo wartete ungeduldig. Endlich kam Georg.
„Was laberst du so lange mit dem Mann? Kennst du ihn?“
„Nein.“ Es war offensichtlich, dass Georg nicht vorhatte, sich zu erklären. “Was machen wir jetzt?“
„Wir gehen auf die Party, von der vorhin gesprochen wurde, dort dürften wir sicher sein.“
„Einverstanden, gehen wir.“
Obwohl keiner Lust dazu hatte, schlossen sie sich den anderen an. Die Party war laut, alkohollastig und ging zum Glück fast bis Mitternacht. Keiner der dreien konnte sich amüsieren, obwohl sie von anderen immer wieder zum Tanzen und Singen animiert wurden. Irgendwann gaben die Mitfeiernden auf und ließen sie in Ruhe. Das Warten nagte an den Nerven. Dann löste sich die Gesellschaft auf und sie saßen bis auf wenige, trinkfeste Touristen nur noch alleine an den Tischen.
„Hier sind wir nicht mehr sicher. Was sollen wir jetzt tun? Was schlagt ihr vor?“ Sabine war völlig am Ende.
„Zurück ins Hotel. Dort ist sicher noch irgendetwas geboten.“
Auf dem Weg dorthin stand abseits ein Mann, der auf jemanden zu warten schien. Georg ging zu ihm.
„Was machst du denn da? Bleib gefälligst hier!“ Leo sah sich um. Sie waren hier fast allein, was viel zu gefährlich war.
„Das geht in Ordnung. Geht ihr bitte voraus, ich komme gleich nach.“
Leo war wütend, trotzdem schob er Sabine vor sich her.
„Wir sollten auf Georg warten“, sagte sie.
„Er weiß, was er tut. Geh einfach weiter.“ Was hatte Georg vor? Mit wem traf er sich hier? Was sollte diese Geheimnistuerei? Leo mochte das überhaupt nicht. Sobald er Georg alleine sprechen konnte, musste er ihn zur Rede stellen.
Auf dem Weg zum Hotel wollte sich Sabine immer wieder umdrehen, um nach Georg zu sehen. Leo hinderte sie daran, obwohl auch er selbst versucht war, es ihr gleich zu tun. Kurz vor dem Eingang des Hotels stieß Georg endlich wieder zu ihnen. Er war außer Atem und hatte auch jetzt nicht vor, sich zu erklären.
Im Hotel herrschte gähnende Leere. Der Pianospieler, der sich redlich abmühte, hatte lediglich drei Zuhörer, von denen einer schlief. Draußen auf der Terrasse war mehr los. Eine offensichtlich trinkfeste Gruppe von etwa zwanzig Personen hatte augenscheinlich sehr viel Spaß. Ein dummer Spruch und ein flacher Witz nach dem anderen gingen reihum, was jeweils mit lautem Gelächter quittiert wurde. Eine fröhliche Runde, die den unbeschwerten Urlaub sichtlich genoss. Georg und Sabine setzten sich dazu, Leo ging zu seinem Freund Ahmed an die Rezeption.
„Eine sehr schöne Bootstour, Ahmed, Sie haben nicht zu viel versprochen. Haben Sie bezüglich des Mietwagens etwas erreichen können?“
Ahmed grinste übers ganze Gesicht. Er hatte sich bemüht und stundenlang telefoniert, bis er endlich die Zusage bekam.
„Der Wagen ist unterwegs, Herr Schwartz, er dürfte innerhalb der nächsten Stunde eintreffen. Ich melde mich bei Ihnen, sobald er hier ist. Wo sind Sie zu finden?“
„Auf der Terrasse. Wir nehmen noch einen Schlummertrunk zu uns.“
Leo betrat die Terrasse und ein Schwall Gelächter kam auf ihn zu. Die Touristen schienen sich prächtig zu amüsieren, während Georg und Sabine sich nichts zu sagen hatten und in ihre Drinks starrten. Leo setzte sich dazu.
„Der Wagen ist unterwegs. Keine Ahnung, wann er hier ist, wir müssen warten.“
Er bestellte ein Wasser und einen Kaffee. Hier saßen sie nun; schweigend inmitten lustiger, angetrunkener Touristen. Nach einer halben Stunde löste sich die Gruppe allmählich auf, nachdem der Barkeeper sich nicht mehr erweichen ließ und den Ausschank endgültig einstellte.
Sabine wurde nervös. Nicht mehr lange, und sie saßen alleine auf der Terrasse.
„Wir sitzen hier wie auf dem Präsentierteller“, sagte Georg, dem das überhaupt nicht gefiel. „Wir müssen uns schnell etwas einfallen lassen.“
Leo ging zu seinem neuen Freund Ahmed, der immer noch Dienst hatte.
„Haben Sie Neuigkeiten für mich?“
„Ich wollte eben zu Ihnen, Herr Schwartz. Der Wagen ist hier, er steht auf dem Parkplatz. Wenn Sie wollen, können Sie den Schlüssel sofort haben.“
„Und ob ich den möchte. Ich danke Ihnen vielmals, Ahmed.“ Leo schob ihm einen weiteren Schein zu.
„Hier ist der Schlüssel. Dazu habe ich Ihnen einige Prospekte zusammengestellt, in denen Sie viele Sehenswürdigkeiten finden. Ich wünsche Ihnen eine gute Fahrt. Genießen Sie die Ausflüge in unserem schönen Land. Sie werden begeistert sein. Sie können den Wagen behalten, solange Sie wollen. Melden Sie sich bei mir, wenn sie ihn zurückgeben möchten.“
„Das kommt mir sehr entgegen, denn ich weiß wirklich noch nicht, wie lange ich den Wagen brauche. Ich werde Ihnen berichten, was wir uns angesehen haben. Nochmals vielen Dank, Ahmed.“ Der Mann strahlte. Die Bezahlung in seinem Job war zwar nicht schlecht, allerdings hatte er drei Kinder im Teenageralter, die fast täglich mit Sonderwünschen ankamen. Trinkgelder waren stets willkommen. Mit diesem Gast hatte Ahmed besonders viel Glück gehabt, den musste er sich warmhalten. Leo Schwartz hatte allein eingecheckt, das hatte er überprüft. Dass er keine Frau hatte, ging ihn nichts an, das war dessen Privatsache. Herr Schwartz musste reich sein, wozu auch die Suite passte, die sich Gäste nur selten leisteten. Und Reiche hatten ihre Marotten, das wusste er.
„Ich habe den Wagen. Lasst uns irgendwohin fahren, wo wir sicher sind.“
Leo fuhr durch die sternklare Nacht. Es war halb drei und es wurde kühl, trotzdem war eine Heizung überflüssig. Wie kalt es wohl in Deutschland war? Als er gestern abflog, war es noch sehr warm gewesen. Auf dem Boot hatten sich einige der Mitreisenden darüber unterhalten, dass es einen Temperatursturz in der Heimat gab, worüber sich alle freuten. War er auch so schadenfroh? Wenn er ehrlich war, dann musste er es zugeben, dass dem so war. Er freute sich, auch nachts noch im T-Shirt herumlaufen zu können, auch wenn er fast der einzige war. Das war ihm egal. Für ihn war es warm und er weigerte sich, eine Jacke anzuziehen. Wie lange war er in Ägypten? Er war erst gestern gelandet und es schien, als wäre er schon sehr viel länger hier. Trotz seines hohen Alkoholkonsums während des Fluges nach Ägypten war Leo topfit. Georg hatte angeboten, zu fahren, aber er wollte das selbst übernehmen. Die kalte Dusche und die vielen Kaffees wirkten.
Sabine war nach zwanzig Minuten eingeschlafen. Sie hatte in den letzten beiden Nächten nur wenig geschlafen. Mit den beiden deutschen Polizisten fühlte sie sich einigermaßen sicher, auch wenn ihr die ganze Situation unwirklich erschien. Noch niemals zuvor war sie verfolgt worden oder irgendeiner Gewalt ausgesetzt. Wie sollte sie damit umgehen? Am liebsten würde sie davonlaufen und einfach alles vergessen, aber das war nicht ihre Art. Sie war schon immer neugierig gewesen. Außerdem hatte sie einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn, der ihr oft im Weg stand. Aber das war es nicht allein. Sie hatte Glück gehabt und war bei ihrer Recherche auf eine Sensation gestoßen. Damit könnte ihr der Durchbruch gelingen und sie konnte sich endlich einen Namen machen. Und das wollte sie sich nicht wegnehmen lassen. Sie musste es schaffen, nach Deutschland zu gelangen und dort den Artikel zusammen mit den Fotos zu veröffentlichen, nachdem sie bei der Polizei war und die Sauerei angezeigt hatte. Sie sprach sich Mut zu, obwohl sie große Angst hatte.
Die Gegend wurde immer einsamer. Irgendwann schien es, als wären sie ganz allein unterwegs. Leo fühlte sich immer noch fit und fuhr einfach weiter. Je näher sie Kairo kamen, desto besser. Georg schlief irgendwann auch ein. Hätte er ihn fragen sollen, wen er vorhin getroffen hatte? Um wach zu bleiben, schaltete Leo das Radio ein. Er musste lachen. Er war nach Ägypten gekommen, um mit Georg gemeinsam den Kummer zu ertränken. Jetzt saß er in einem Leihwagen und war auf dem Weg nach Kairo, um dieser verrückten Frau zu helfen, die auf dem Rücksitz liegend inzwischen sehr laut schnarchte. Leo hatte ihr seine Jacke gegeben, die er nicht brauchte und die von ihr heruntergerutscht war. Er griff nach hinten und legte die Jacke wieder dorthin, wo sie hingehörte. Dann grunzte sie laut, was Leo zum Lachen brachte. Sabine war eine Nervensäge, keine Frage. Trotzdem würde er sie in ihrer jetzigen Lage niemals im Stich lassen, das hätte er sich nie verzeihen können. In was waren er und Georg reingeraten? Wie es Viktoria wohl erging? Ob sie ihre Flucht bereute und sich dafür schämte, ihn einfach im Stich gelassen zu haben? Leo hatte längst begriffen, dass ihre Entscheidung richtig gewesen war. Er hätte ihr nicht mehr vertraut. Als sie sich von ihm getrennt hatte, ist etwas in ihm zerbrochen, das nicht mehr zu kitten war. Er kannte sich, er würde ihr niemals mehr vorbehaltlos vertrauen können. Die Gedanken an Viktoria schmerzten nicht mehr ganz so sehr. Ob das die Müdigkeit war oder einfach nur die Situation, in der er gerade steckte?
Leo musste sich eingestehen, dass er müde wurde. Sie waren weit gekommen, nach Kairo waren es nur noch gut zwei Stunden. Er wurde unaufmerksam und entschied, eine Pause einzulegen. Er lenkte den Wagen in ein kleines Industriegebiet und stellte den Wagen in der Nähe von Baufahrzeugen ab. Weit und breit war niemand zu sehen.
„Gute Wahl, hier stehen wir gut“, sagte Georg, der aufgewacht war. „Von der Straße aus sind wir kaum zu sehen. Und wenn jemand kommen sollte, sehen wir die Scheinwerfer früh genug.“ Georg sah auf die Uhr und war erschrocken. Hatte er wirklich fast drei Stunden geschlafen? „Ruh dich aus, Leo, ich passe auf. Sobald es hell wird, wecke ich dich.“
Georg behielt die Straße im Auge, ihm entging nichts. Alles war ruhig und Leo konnte sich erholen. Sabine hatte nicht bemerkt, dass der Wagen nicht mehr fuhr; sie schlief tief und fest. Georg dachte an die Raubkunst. Und an den Mann, der im Hotel aufgetaucht war. Es hätte nicht viel gefehlt, und der Typ wäre in die Suite gelangt. Was da alles hätte passieren können! Er bekam eine Gänsehaut und begriff jetzt erst, wie knapp das gewesen war.
In diesem Moment brachen zwei Männer in Leos Hotelsuite in El-Gouna ein, nachdem sie sich erfolglos in Georgs Zimmer umgesehen hatten.
„Die sind getürmt“, sagte einer.
„Verdammter Mist! Wären wir gestern hiergeblieben, wäre das Problem längst beseitigt.“
„Du weißt genau, dass wir keine andere Wahl hatten, als abzuhauen, das Militär drehte seine Runden. Seitdem die Regierung beschlossen hat, diese gottverdammten Touristen umfangreicher zu schützen, tauchen überall Soldaten und Polizisten auf. Sei froh, dass ich deren Kommen noch rechtzeitig bemerkt habe. Es war besser für uns, so schnell wie möglich zu verschwinden. Hättest du kontrolliert werden wollen?“
„Natürlich nicht.“
„Dann hör auf zu Jammern. Ruf den Boss an und erkläre ihm die Situation. Er wird nicht erfreut darüber sein.“
„Warum soll ich ihn anrufen?“
„Weil ich das letzte Gespräch übernommen habe, als uns die Frau in Hurghada durch die Lappen ging. Mir klingeln jetzt noch die Ohren. Nein, John, diesmal bist du dran.“
John McCarthy hatte den Job, Sabine Kofler zu finden und auszuschalten, persönlich übernommen. Diese neugierige Frau brachte durch ihr Auftauchen Probleme mit sich, die sie nicht gebrauchen konnten. Der Boss, Karin und er hatten beschlossen, alle Geschäfte ruhen zu lassen, bis dieses Problem aus der Welt geschafft worden war. Diese Frau musste weg; je eher, desto besser. Er hatte Malcolm ausgewählt, ihn zu begleiten. Malcolm war nicht dumm und außerdem hatte er keine Skrupel, eine Frau einfach so zu töten. Er hatte ihn selbst dabei beobachtet, wie er einer Frau mit bloßen Händen das Genick brach, das war erst vor wenigen Tagen gewesen. Malcolm und er hatten den Boss begleitet, als er einen Deal abschloss. Dabei kam ihnen einen alte Bekannte Malcolms in die Quere, die nicht aufhörte, auf ihn einzuquatschen. Malcolm hatte sie gewarnt, aber die Frau nahm ihn nicht ernst. Der Boss wurde wütend und Malcolm musste handeln. Er zog die Frau zur Seite, brach ihr das Genick und legte die Leiche hinter ein Gebüsch. Gerade noch rechtzeitig, bevor der Kunde kam und der Deal über die Bühne gehen konnte. Malcolm verzog keine Miene und erwähnte den Vorfall mit keinem Wort. Niemand hatte davon etwas mitbekommen; niemand, außer ihm. Er hatte alles gesehen. John war erschrocken gewesen, befand aber, dass das richtig gewesen war, schließlich verdiente auch er an dem Deal ordentlich mit, der durch die penetrante Frau fast in die Hosen gegangen wäre. Malcolm war der Richtige für den Job, die Deutsche endlich aus dem Weg zu räumen. Aber dafür mussten sie sie erst einmal in die Finger bekommen.
John nahm das Smartphone und erklärte wieder und wieder die momentane Situation.
„Wir mussten weg, Siegfried. Das Militär…“
„Das ist mir scheißegal! Wie konnte das passieren? Durch einen glücklichen Umstand haben wir die Frau gefunden und sie ist euch schon wieder durch die Lappen gegangen. Das gefällt mir nicht, das gefällt mir überhaupt nicht!“ Siegfried schnaubte vor Wut. „Sucht diese Frau und seht zu, dass sie endlich für immer verschwindet. Ich habe einen Interessenten für den van Gogh. Wenn der mitbekommt, dass die Sache die Runde machen könnte, springt er ab. Tötet die Frau!“
„Das ist nicht so einfach, wie du dir das vorstellst. Die Kofler hat offensichtlich Hilfe bekommen.“
„Hilfe? Von wem?“
„Zwei Deutsche, einer davon ist schwarz. Wir haben noch nicht herausbekommen, wer das ist, wir haben lediglich ihre Namen. In welchem Verhältnis sie zu der Kofler stehen, wissen wir nicht.“
„So eine Scheiße! Die Kofler hat geplaudert und hat Mitwisser, die wir nicht brauchen können.“ Siegfried machte eine Pause. Das war eine Information, die alles nur noch schlimmer machte. Jetzt hatten sie es nicht nur mit einem, sondern mit drei Mitwissern zu tun. Und das zu einem denkbar schlechten Zeitpunkt. Er wollte den van Gogh unbedingt verkaufen. „Beseitigt alle drei, hast du mich verstanden? Ich will keine Ausflüchte und Entschuldigungen mehr hören. Ruf erst wieder an, wenn das Problem endgültig erledigt ist.“
„Ja, Boss.“
John hatte aufgelegt und sah Malcolm an.
„Sag nichts. Wir sollen alle drei suchen und sie töten?“ Malcolm war klar, dass das die einzig vernünftige Lösung des Problems war.
John nickte nur. Siegfrieds Anweisung hatte ihn schockiert. Er war kein kaltblütiger Mörder, aber bei der Kofler machte er gerne eine Ausnahme. Sie brachte ihn nicht nur um jede Menge Kohle, sondern hatte einen neuen Deal unmöglich gemacht, den er mühsam aufgebaut hatte. Der Handel mit diesen Kunstwerken, auf die er durch Zufall gestoßen war, war sehr heikel. Da es sich dabei um Raubkunst aus dem zweiten Weltkrieg handelte, die nur für Kunden geeignet war, für die der Besitz allein wichtig war, war der Verkauf mühsam und riskant. Öffentlich durfte diese Kunst nicht auftreten, da sich sonst auf der ganzen Welt vermeintliche Besitzer melden würden, die die Geschäfte ruinierten. An einen Verkauf wäre dann überhaupt nicht mehr zu denken. Gerade, als er den Bellini „Madonna mit Kind“ zum Kauf anbieten wollte, der mit einem fetten zweistelligen Millionenbetrag zur Debatte stand, tauchte diese fürchterliche Frau Kofler auf. Der Deal lag vorerst auf Eis, das Risiko war einfach zu groß. Die Entscheidung, alle Verkäufe vorerst zu stoppen, war absolut richtig. Was hatte die Kofler gesehen? Und was hatte sie fotografiert? Wo waren die Aufnahmen? Dass sie welche gemacht hatte, stand außer Frage, die Kameraaufzeichnungen waren eindeutig, außerdem hatte er sie selbst beim Fotografieren erwischt. Was hatte die Frau mit den Fotos vor? Er kannte Sabine Kofler nicht persönlich und er hatte ihr nie etwas getan. Warum war sie hier und machte ihm die Geschäfte kaputt? Gut, die Kofler musste weg, das war klar. Aber was haben die beiden Männer damit zu tun, die offensichtlich Touristen waren und in Ägypten ihren Urlaub verbringen wollten? Konnte er die beiden auch einfach töten? Wer waren sie und was hatten sie mit der Kofler zu schaffen? Wäre es nicht klug, vorher Erkundigungen einzuziehen? Schließlich wollte er wissen, wessen Tod er zu verantworten hatte. War dafür überhaupt genügend Zeit?
„John? Hörst du mir zu?“, drängelte Malcolm.
„Was hast du gesagt?“
„Ich fragte, wo wir nach der Frau und den beiden Männern suchen sollen? Wo würdest du dich verstecken, wenn du diese Frau wärst?“
„Ich würde versuchen, so schnell wie möglich das Land zu verlassen. Aber wie? Den Pass haben wir. Sie kann den Weg über Land nehmen. Das dauert zwar am Längsten, dafür kommt sie an einem kleinen Grenzposten locker ins Nachbarland. Aber dann steckt sie dort fest. Wenn sie versuchen sollte, per Schiff oder gar Flugzeug abzuhauen, braucht sie auch einen Pass.“
„Und wenn man keine Ausweispapiere hat, bekommt man Ersatz bei der Deutschen Botschaft. Ab nach Kairo.“ Malcolm tippte auf seinem Smartphone, dann rief er am Flughafen an. „Beeile dich, der nächste Flug geht in zwei Stunden.“
Während des Fluges ging John nochmals das Gespräch mit seinem Boss durch. Hatte er gesagt, dass er einen Interessenten für den van Gogh hatte? Wollte Siegfried den Deal trotz der Vereinbarung durchziehen?…
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